Sein letztes Fest
VON MATHILDE HUSTEN-CAUSEMANN
Sie hatten den alten Gottfried allein im Hause zurückgelassen und waren zum Tanz in den Winzerverein gegangen. Als die Haustür hinter ihnen ins Schloß fiel, rückte der Alte einen Stuhl dicht neben den Herd und streckte seine blutleeren Hände in die Wärme über der Herdplatte. Er sah jammervoll alt und müde aus. Und sein Gesicht war zerfurcht und grau. In kurzen Stößen löste sich der Atem aus seiner Brust. Nach einer Weile richtete er sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf und dehnte seinen Oberkörper, um den Lungen mehr Raum zum Atmen zu geben. An diesem Abend vermißte er zum ersten Male die vertraute Gemeinsamkeit mit den Seinen, jedoch erkannte er, daß er zu alt und zu krank war, um auch fernerhin an den Festen der Jungen teilzunehmen.
Schwerfällig erhob er sich von seinem Stuhl, ging durch die Stube, öffnete eines der kleinen Fenster und blickte nachdenklich zu den Weinterrassen auf, die sich dicht hinter dem Dorf bis zur Grenze der dunklen Eifelwälder hinaufzogen. Unwillkürlich preßte er die Hand auf sein Herz, das sich im Dienen um den Wein allzufrüh verbraucht hatte. Lange Zeit stand er so, ganz in Gedanken versunken. In deutlich sich abzeichnenden Bildern zog sein Leben noch einmal an seinem geistigen Auge vorüber. Erst als er zu frösteln begann, zog er den Kopf zwischen die hochgezogenen Schultern und schloß das Fenster. Die Luft schien eiskalt zu sein, und das Licht des hereinbrechenden Abends war von klarer, scharfer Durchsichtigkeit. Fast verwundert schaute er sich in dem kleinen Raum um, und mit einem Mal überfiel ihn die Gewißheit, daß es all diese vertrauten Dinge für ihn bald nicht mehr gab — daß er am Ende seines Lebens angelangt war.
Tiefer Friede zog in ihn ein. Wie um sich zu sammeln, schloß er für eine Weile die Augen. Als er sie wieder öffnete, flog die Andeutung eines belustigten Lächelns über sein zerfurchtes Gesicht.
Langsam, mit steifen Schritten ging er zur Tür, nahm seinen Knoten stock und machte sich auf den Weg zum Winzerverein. Dort angelangt, betrat er den großen Saal und ging auf einen runden Tisch zu, an dem sich ein Kreis alter Männer trinkend zusammengefunden hatte. Vor ihnen standen Pokale mit rotem Wein, den sie genießerisch in kleinen Schlucken tranken. Gottfried betrachtete prüfend ihre ausgedörrten Gesichter, die ihn heute seltsamerweise an abgeerntete Felder erinnerten.
Gemächlich trat er zu ihnen an den Tisch und sagte mit seiner brüchigen, tabakrauhen Stimme: „Kommt mit mir! In meinem Keller sollt ihr einen Wein kosten, den ihr euer Lebtag nicht vergessen werdet. Ich habe ihn vor vielen Jahren gekeltert, auf Flaschen gefüllt und in Sand vergraben. — Also macht mir die Freude und kommt mit. Diesen Wein habe ich für diese Stunden aufgehoben.“
Die alten Männer blickten ihn mißtrauisch und kopfschüttelnd an, aber dann folgten sie ihm durch den kleinen Ort zu seinem Keller. In dem halbdunklen Gewölbe grub Gottfried, vor Anstrengung keuchend, einige Flaschen aus dem Sand, füllte die Gläser und reichte sie den Alten, die sie mit zitternden Händen entgegennahmen. Andächtig schlürften und kauten sie den Wein, drückten ihn gegen den Gaumen und ließen ihn langsam die Kehle hinabrinnen.
„Ja, das ist Wein“, meinte der eine und ein anderer: „Wie schwer und reich er im Stehen wird. Ähnliches habe ich noch nie erlebt. Wahrhaftig, er reift im Glase noch!“
Des alten Gottfrieds Augen begannen zu leuchten. Er hob sein volles Glas, trank den Männern zu und, sie noch näher zu sich heranwinkend, wiederholte er mit seiner heiseren Stimme: „Ja, diesen Wein habe ich schon seit Jahren für diese Stunde aufgespart. Ist er nicht gut? Mit ihm will ich von euch Abschied nehmen. — Ich spür’s, bald mache ich mich zu meinem Herrgott auf — drum möchte ich, daß euere guten Wünsche meinen letzten Weg begleiten.“
Gottfried trank sein Glas leer, stellte es neben sich auf ein Faß und fuhr leise fort: „Bald hebt sich nun das Herbsten- an. Die Kelter harrt des Weins‘.“
Die Alten saßen mit schweren Köpfen auf Kisten und umgestülpten Bütten. Sie lachten, schwatzten und tranken. Erst im Morgengrauen schlichen sie mit wankenden Knien davon, um zu Hause ihren schweren Rausch auszuschlafen.
Als letzter verließ Gottfried den Keller. Mühsam, auf seinen Stock gestützt und sich oft ausruhend, ging er durch das schlafende Dorf und erstieg einen Berg, auf dem eben jener Wein reifte, den er mit seinen alten Freunden in dieser Nacht getrunken hatte.
Vor der aufgehenden Sonne hingen rosig durchleuchtete Nebel. Als er die Höhe erreicht hatte, stieg sie in blutroter Pracht über die Eifelwälder. Gottfried blieb stehen und blickte ins Tal hinab. Tief unter ihm, noch halb verhüllt vom Schatten der Berge, lagen das Dorf und die Kirche. Wie still es hier oben war! Nur das Rauschen des Flusses drang leise zu ihm herauf. Sein Herz pumpte jetzt mühsam und stoßweise. So stand er lange Zeit und wieder zogen längst vergangene Geschehnisse an seinem Geist vorüber, verknüpften sich mit dem Land, das weit ausgebreitet vor ihm lag, und mit dem Boden, der seinen müden Leib bald aufnehmen würde.
Mit dem höher steigenden Tagesgestirn erwachten jetzt auch die Geräusche des Tages. Die Glocken riefen zur Frühmesse. Das Schwingen der Töne ließ Gottfrieds Herz erzittern. Ein leichter Schwindel ergriff ihn, und ihm war plötzlich zumute, als riefen sie ihn von dieser Welt ab, auf der er trotz aller Sorgen und aller Nöte so gern gelebt hatte. Seine Hände griffen in die Luft, ein kurzes Aufbäumen — dann sank er ins Gras.
Als sie ihn um die Mittagszeit fanden, lag ein friedliches Lächeln um seinen Mund. In seinem weißen Bart glitzerten winzige Tauperlen. Die Menschen umstanden ihn in ehrfürchtigem Schweigen. Sie alle empfanden, daß sich hier eine Seele kampflos von dieser Welt gelöst hatte.