Goethe macht eine Moselfahrt
VON E. K. PLACHNER
Er war nun doch gereist. Was wäre ihm auch anderes übrig geblieben, da der Herzog ihn so eindringlich gebeten hatte. Zwar nahm er sich Zeit. Karl August stand schon über einen Monat bei seiner Kavalleriebrigade, als Goethe in der kleinen Chaise, die der herzogliche Freund ihm geschenkt hatte, nachreiste. Es war ihm schwer geworden. Kaum aus Italien zurück, mitten in den Arbeiten am eben gegründeten Theater, dem es Grund und Wegweisung für eine ganze Epoche deutscher Theatergeschichte zu geben galt, selig umsponnen von der Geliebten und des Kindes Nähe – dennoch: es mußte sein!
In Frankfurt, das er dreizehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, labte er sich just im mütterlichen Haus an Küche und Keller, da traf ihn erneut des Fürsten dringlicher Ruf, er solle sofort, ohne Koblenz zu berühren, zur Armee stoßen.
Ludwig XVI. von Frankreich, dessen Haupt schon im nächsten Jahre unter dem Beil der Guillotine fallen sollte, hatte an Österreich den Krieg erklärt. Österreich wartete auf die Preußen. Die kamen und mit ihnen unseres Dichters hoher Freund, der seil des großen Friedrichs letzten Jahren ein begeisterter Anhänger Preußens geworden war. So mußte wohl oder übel auch Goethe mit, der sich nicht viel von diesen Händeln versprach und überdies zu seinem Leid nun auch die geplante Rheinreise aufgeben mußte.
Aber die verbündeten Armeen wußten schließlich nicht einmal mehr, wer kommandierte, und wurden von der gewaltig aufgebrochenen Kraft der französischen Revolutionstruppen, die bald das ganze alte Europa erschüttern sollten, in arge Bedrängnis gebracht und schließlich geschlagen.
Tief erschüttert saß Goethe in seinem Gefährt und sann den sichtbarlich heraufziehenden Unwettern der Weltgeschichte nach. Unheil sah er hüben und drüben; Auflösung diesseits und jenseits des Rheines. Das Bild um ihn her wurde zum Gleichnis. Zurückflutende Truppen, erbarmungswürdige Flüchtlinge… Requirierte Pferde zogen ihn… Noch im Zeltlager hatte er sich anfänglich mit seiner „Farbenlehre“ beschäftigt. Sie ließ ihn nicht mehr los. Eine ganze Welt hing an ihr, wußte er. Die tote Betrachtungsweise des großen Engländers Newton mußte überwunden werden. Wenn sie siegte, würden Erde und All den kommenden Generationen völlig leer und gespenstisch grau erscheinen. Die schaffende Gottheit des Urbeginns bis in die Farben nachzuweisen, bis ins Experiment, das war eine Aufgabe, seine Aufgabe. Auf solchen Wegen schöpferischer Geistgewalt war neuer, tragender Grund zu finden. Ja, die Aufgaben waren noch größer, als die Revolutionäre drüben sie sahen, aber auch entscheidender, als die meisten seiner Landsleute nur ahnten… Der Genius des forschenden Deutschen hatte ihn ergriffen. Der schwatzte nicht nach, der kopierte nicht, der ging selbstschöpferisch auf den Grund.
Durchgerüttelt vom rumpelnden Wagen, der auf den zerfahrenen Straßen sich wie ein Schwindsüchtiger schleppte, von Zerfall umwogt, dachte er an sein dichterisches Wirken. O, er hatte Großes getan! Er war der lösende Mund ganzer Jahrtausende geworden. Das wußte er. Aber dieses wußte er auch, so weltaufbauend sein dichterischer Geist gewaltet hatte und noch walten würde – die entscheidende Tat seines Lebens würde die „Farbenlehre“ sein. Mochten auch Generationen vergehen, bis sie siegte…
Es war ihm herzlich erwünscht, daß die Pferde sich Trier nahten. Er versprach sich von ein paar Tagen Aufenthalt einiges. Und wirklich fand er in der alten Moselstadt, wo Bilder friedlicher Klostermauern und eines regellos gewordenen Kriegszustandes jäh kontrastierten, Erholung. Zwar drängten die Franzosen hart nach, aber ein Leutnant von Fritsch warf ihre Vorhut mit geringer Mannschaft bis Merzig zurück. So gewannen die Flüchtlinge Zeit. Goethe begeisterte sich an dem schneidigen Streich, der dem Feind noch Truppen vortäuschte, wo in Wahrheit zunehmende Auflösung herrschte.
„Die persönliche Tat ist immer entscheidend“, sagte er Fritsch, „sie ist es in jeglicher Hinsicht. Sie können in meinen Werken diese Grundeinsicht immer bewährt finden.
Im persönlichen Aufruf klingt die Stimme der Gottheit!“ Er erstattete höheren Ortes sogar Bericht über den Offizier, der ihm in diesen Tagen nahe sein durfte. So erhielt der junge Sieger zum „Militär-Verdienstorden“, mit dem man ihn schon zuvor geschmückt hatte, noch den „Blauen Kreuzstern“ hinzu.
Der dichtende Kriegsmann hatte in Trier wieder bei einem Kanonikus Quartier bezogen, der ihn schon zu Beginn des Feldzugs zwei Monate vorher herzlich in seinem großen Haus und weitläufigen Gehöft willkommen geheißen. Damals war es August. Linientruppen, Reserven, Bagagen stauten sich vor der Stadt. Das beginnende Lotteriespiel gegen das revolutionäre Frankreich schien allen, Militär und Zivil, gut zu stehen. Aber die Sonne stand jetzt hinter dem Graugewölk eines bedrückenden Oktobers. Auch jetzt war die altehrwürdige Stadt von Truppen überflutet, aber von Truppen, die nur mühsam der Gefangennahme entkommen waren oder zu entkommen hofften. Goethe war glücklich, wieder im alten Quartier zu sein. Einige Arznei und Schonung halfen ihm über den Anfall einer Krankheit hinweg, die seuchenartig zu allem anderen Übel die Truppen verfolgte. Der Kanonikus bemühte sich immer wieder persönlich um das Wohlergehen des hohen Gastes, der sich denn auch schon am zweiten Tag wieder mit gelehrten Studien befaßte. Er arbeitete an seinen Farbentafeln und warf sich so begierig auf die Art seiner Naturbetrachtung, daß ein junger Schullehrer, mit dem er erfreuliche Unterhaltung pflegte, den Dichter in Goethe gar nicht fand. Er verwunderte sich, wie ein so durch und durch poetischer Geist mit nicht geringerer Teilnahme Naturwissenschaften betreibe.
Goethe sagte: „Es ist dies in der Tat eine eigene Sache, und ich verstehe Sie durchaus! Die Natur ist irgendwie immer in einem hohen Maße schöpferisch tätig. Im Dasein einer Rose oder in der Verwandlung eines Stengels zum Blatt, eines Blattes zur Blüte ist im höchsten Sinne schöpferische Phantasie verborgen. Wenn Sie dem nachsinnen, was ich jetzt nur angedeutet habe, werden Sie mich verstehen. Die Natur ist nicht tot. Sie ist eine verborgene Künstlerin. Der poetische Trieb in mir ist sozusagen nur die eine Offenbarung meines Wesens, der Forschertrieb ist die andere. Beide gehören zusammen.“
„Aber das ist in der Naturbetrachtung neu und wird viele befremden!“ wagte der junge Pädagoge als Antwort. Goethe hatte seine Freude daran. Seine großen und klaren Augen gingen wie in eine weite Feme, dann sagte er: „Das mag wohl sein. Aber wenn man als erkennender Mensch vorwärts kommen will – und ich glaube, das sollen wir -, dann darf man in der Naturbetrachtung nicht nur fühlen und schwärmen, sondern muß nach der Erkenntnis ihrer verborgenen Gesetze trachten. Sie enthüllen sich nicht dem kalten Kopfgelehrten und nicht dem schwärmenden Künstler. Sie enthüllten sich dem Gelehrten und dem Künstler in Einem!“
„Beiden in Einem!“ wiederholte der Lehrer langsam und fuhr bewegter fort: „Das ist ein Wort! Ich werde lange darüber nachzudenken haben! Sehr lange! Aber ich fühle eine allerhöchste Wahrheit darin! Indessen fürchte ich, diese Ihre Art der Naturbetrachtung wird manchen noch befremden und Sie in manches Mißverständnis setzen!“ Goethe lächelte, als er diesmal das Gespräch beschloß: „Ich glaube es selbst! Allein was tuts?! Wir brauchen diese Art und Einer mußte mit ihr beginnen!“ Noch mancher stöberte ihn auf, und die schöne Sonne der Heiterkeit strahlte wieder und erhellte seine Gespräche. An der Wirtstafel, wo Militärs und Angestellte, Uniformen, Farben und Trachten aller Art ein sinnverwirrendes Schauspiel gaben, verkehrte in jenen Tagen auch ein aller Husarenoffizier. Der Graubart mit seinen blitzenden Augen konnte sich bei dem Gedanken nicht beruhigen, daß man Goethe, dessen Feder er kenne und liebe, solcher Fährnis ausgesetzt habe, wo schon die Not für einen alten Haudegen gleich ihm sonder Maßen sei. Goethe indessen nahm es so heiter, wie sein lichtvoller Geist nur vermochte. Wie allenthalben und wie immer im Leben schaute er sich mit offenen Augen, so trostlos die einlaufenden Nachrichten über die allgemeine Lage auch wurden, in Geschichte und Umgebung der Moselstadt um. Leutnant von Fritsch, den Triererinnen jetzt nicht nur ein hübscher, junger Mann, sondern ein Held, mit dem Goethe in jenen Tagen manche Unterhaltung pflegte, war in der Geschichte der Stadt belesen. Er führte ihn. Später besprach der Dichter dann dies und das aus der Fülle der Eindrücke auch mit seinem Gastherrn. „Ich fühle die historische Bedeutung des Bodens, auf dem wir stehen, bis in den Körper!“ sagte er. „An einem Schnittpunkt großer Geschehnisse ist selbst die Atmosphäre anders. Ich hätte auf der geplanten Rheinreise auch die Mosel besucht. Da ist es mir lieb, daß das Zeitschicksal, in das wir offenbar einzutreten begonnen haben, mich wenigstens für einige Tage hierher geführt hat. Nur muß ich den wahrhaft köstlichen Wein, der den Ernst der Vergangenheit und die Schwere der Gegenwart prächtig mildert, zu hastig trinken.“
„Kommen Exzellenz wieder!“ sagte der Kanonikus herzlich. „Es ist alles zu flüchtig, was an ihrem Auge vorüberzieht, so klar u nd eindringlich es zu sehen gewohnt sein mag!“
Inzwischen war auch der Herzog in die Moselstadt eingerückt. Am vorletzten Tag des Oktober gab er im Kloster Sankt Maximin, wo er Quartier genommen, große Tafel. Er wußte sich auch als ungebetener Gast durch seine ritterlich-edle Art angenehm zu machen. Seine wahrhaft fürstliche Haltung wirkte beispielhaft auf seine ganze Umgebung, so daß die Bewohner des Klosters trotz der schon erduldeten mannigfachen Einquartierungen und Unruhen nicht verärgert waren. Drei der vornehmsten geistlichen Herren waren zur Tafel geladen. Das Kloster gab kostbares Tischzeug und Porzellan, Tafelsilber; andere Schätze und Kostbarkeiten hatte man schon nach Ehrenbreitstein bei Koblenz geflüchtet. Die fürstlichen Köche boten schmackhafte Speisen, auch an gutem Wein und Brot fehlte es nicht. Das alles wurde in Erinnerung an die erlittenen Entbehrungen dankbar hingenommen. Aber sogleich forderte der Krieg wieder seinen Tribut.
Die Kampffront war in immer drängendere Bewegung geraten und der Herzog machte sich ernstlich Sorgen um seine Soldaten. Die Kanonen waren nicht fortzubringen, die Zugpferde kamen eins nach dem anderen um. Zu requirieren war auf dem Rückzug nichts mehr, da der Vormarsch die Ställe schon geleert hatte. So mußte denn das herzogliche Reiterregiment absitzen, damit die Pferde das Geschütz retteten. Aber die braven Reiter litten in den steifen Stiefeln auf den schrecklichen Wegen so sehr, daß sie schließlich reihweise am Wegrand blieben. Darum befahl der Fürst, um die völlige Katastrophe zu vermeiden, sie gleich den Kranken auf dem Wasserwege abzutransportieren. Da kam auch Goethe der Gedanke einer Moselfahrt.
Er zögerte nicht, sondern mietete mit einem preußischen Offizier, der als Page am Weimarer Hof auch ihm Dienst getan hatte, ein kleines Boot. Es war schon November und doch versprach ein leidliches Wetter gute Fahrt. Die Reisenden schätzten Fahrt und Wetter um so mehr, als sie vom Fluß her auf schlechten, überfüllten Wegen endlose Kolonnen sich quälen sahen. Sie waren guten Mutes und gedachten noch vor Nacht in Trarbach zu sein. Der tüchtige Fährmeister bewies Kraft und Gewandtheit. Er vermied die vorgeschobenen Kiesbänke und verstand es, den an steilerem Ufer rascher fließenden Strom zu schnellerer Fahrt zu nutzen. Goethe fühlte sich von den vielen malerischen Winzerdörfern zu beiden Seiten des sich in weitläufigen Schlangengängen windenden Flusses ermuntert. Er glaubte Heiterkeit und Fleiß der Bewohner im köstlichen Saft der über und über mit Weingärten gesegneten Hänge zu schmecken. Jede sonnige Lage war genutzt. Wie große und kleine Bastionen türmte sich Gemäuer um Gemäuer, und noch von schmalen, gefährlich vorspringenden Kanten winkte der Rebstock.
Nach einer kurzen Brot- und Weinpause in einem Uferwirtshaus aber sahen sich die Reisenden beim Einbruch der Dämmerung in den mäandrischen Flußlauf des Gebietes von Montroyal getragen. Schon überfiel sie, noch bevor sie Trarbach erreichen konnten, die Nacht. Und nicht genug hiermit, jetzt brach zwischen Fels und steilem Ufer ein Sturm herein. Es ward stockfinster und ruckweise kam das Unwetter heran. Alle Heiterkeit der Flußfahrt verwandelte sich rasch in Sorge und Schrecken. Der Strom schwoll im Gegenwind und jagte schließlich Welle um Welle über Bord. Endlich versicherte der Schiffer, er wisse weder, wo er sei, noch wohin er zu steuern habe. Goethe, der auf seiner Italienreise nur um Haaresbreite einem Schiffsuntergang entronnen war, saß still gefaßt. Dem jungen Offizier war längst das Sprechen vergangen. Er rechnete mit dem sicheren Untergang und hatte schon Rock und Reitstiefel abgeworfen. Da endlich schimmerte fern ein Licht und mit ihm neue Hoffnung. Nach Kräften ward drauflosgerudert und endlich stiegen sie in Trarbach an Land. Bei Huhn und Reis war der drohende nasse Tod bald vergessen und erholten sich die verbrauchten Kräfte. Und daß auch hier der Moselwein seine Hilfe nicht versagte, hat der Dichter noch nach Jahren dankbar bestätigt.
Noch in derselben Nacht finden wir die Reisenden bei einem angesehenen Trarbacher Kaufmann, der – die Landung nach böser Sturmfahrt vernehmend – sie zu sich bat. Bei hellem Kerzenschein betrachteten sie heiter in den wohleingerichteten Räumen des gereisten Mannes und seiner jungen Gattin englische Kunstblätter, wobei Goethe den ganzen Reichtum seines Wissens entfaltete. Er vermochte dies ohne jeden Beiklang der Belehrung, der solche Gespräche oft unerträglich macht. Er führte die gelehrte Unterhaltung ganz im Gegenteil unauffällig so, daß ein jeder der auf diese bemerkenswerte Art zusammengewürfelten Runde seine Meinung für wichtig und entscheidend halten durfte. Von der Güte und Fürsorge des Hausherrn und seiner Gefährtin umhegt, waren die letzten Spuren des überstandenen Grauens überwunden. „Sie pflegen ein Kaufherrentum“, sagte Goethe, als sich die Stunden zu Ende neigten, „das in einem tieferen Sinne jegliche Achtung verdient. Es ist ein Herrentum, das mit Recht so heißt, ist doch der Austausch der Materialien, durch die wir erst als Menschen auf diesem Stern zu leben, zu wirken, zu schaffen vermögen, seinem Ursprung nach etwas Großes und Erhabenes. So wundert es mich nicht, daß die Kaufherren von Rang zugleich Geist und Kultur schätzten und förderten. Es ist bewundernswürdig, was Völker und Nationen hervorbringen. Aber nicht nur auf dem Gebiet der äußeren Lebensnotwendigkeiten. Das andere, was sie aus ihrem ewigen Wesen erzeugen, ihr Beitrag zur Kultur, zum Fortgang der tieferen
menschlichen Entwicklung, das muß ebenso gesehen und ausgetauscht werden. Wenn uns ein solches Kaufherrentum erhalten bleibt, ist mir nicht bange!“
Die Kleider des Dichters waren kaum getrocknet, als er zum Aufbruch drängte. Zwar tat der Trabacher Kaufherr, in dessen Haus sie wohnten, alles, die buchstäblich ans Land gespülten noch ein paar Tage beherbergen zu dürfen, – aber die Unrast der durchlebten Kriegswochen hatte auch in Goethes Geist eine Gewöhnung an Aufbruch und Ruhelosigkeit erweckt, wie er sie sonst nicht kannte, und die er noch nicht zu überwinden vermochte. So schwammen sie dann, diesmal von schönen und starken Eindrücken umspielt, gegen Koblenz.
Noch im Alter erinnerte sich der Dichter des, wie er meinte, schönsten Bildes auf der ganzen Fahrt. Es war der Blick durch die Bogenöffnungen der schwärzlichen Moselbrücke auf die stattlichen Gebäude am Ufer und das Schloß Ehrenbreitstein, welches wie ein herrliches Phantasiebild im farbigen Duft einer spätherbstlichen Atmosphäre lag, als Goethe in Koblenz landete.