Schwierig war der Weg durch den Fels
Aber menschliche Beharrlichkeit überwand beim Bau des Abwasserstollens Altenahr die Tücken der Geologie
Wolfgang Pechtold
Schlagzeilen werfen Schlaglichter. Aneinandergereiht aber erzählen sie manchmal ganze Geschichten. Das gilt bestimmt für die Sammlung, die man zwischen August 1978 und August 1979 aus den Tageszeitungen im Ahr-kreis im wahrsten Sinne des Wortes zusammenlesen konnte:
„Gestern gingen die Bohrer auf den Weg durch den Fels“ — „Schwerer Schaden im Schacht“ – „Mit Preßluft und Sprengstoff“ -„Rückschlag im Stollenbau“ — „An der Engelsley ließ die Geologie den Teufel raus“ — „Felsen und Geröllschicht bezwungen“ — „Tunnelbau wird nicht unerheblich teurer“…
Zusammengetragen sind unter diesen Überschriften Hoffnungen und Enttäuschungen, Fortschritte und Rückschläge, Versagen modernster Technik und der Sieg menschlicher Beharrlichkeit beim vierten Durchstich des Riegels aus Devonschiefer und Quarzit, der sich unterhalb Altenahr einst den Straßen-und Schienenbauern als schwer zu nehmendes Bollwerk in den Weg gestellt hatte und sich nun als nicht minder schweres Hindernis für die Ingenieure und Mineure erwies, die einen weiteren, den Dimensionen nach vergleichsweise bescheidenen, der Funktion nach aber durchaus wichtigen Weg durch den Fels zu brechen hatten: Der Einzugsbereich des Abwasserzweckverbandes Mittelahr liegt oberhalb der Barriere, der Standort der Kläranlage unterhalb; günstiger als der Umweg durch das Langfigtal erschien den Planern eine direkte Führung des Transportsammlers durch den Fels.
Direkt durch den Fels! — dieser Devise war auch die preußische Wegebauverwaltung gefolgt, als sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Trasse einer Ahrtal-straße festlegte, die es bis dahin nicht gab;
der Verkehr zwischen den Dörfern am Fluß hatte sich auf steilen Pfaden über die Berge, auf schmalen Fahrwegen entlang der Ahr und durch Furten abgewickelt. Im Frühjahr 1832 wurde mit dem Bau des Straßentunnels begonnen, der unter Leitung des preußischen Wegebaumeisters, Hauptmann Scnmülling, zügig voranging. Am 19. November 1833 wurde der erste Felsdurchstich bejubelt, ein Ereignis, das selbst der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm miterlebte. Er durchschritt als erster die enge Felsspalte. Die feierliche Eröffnung fand am 25. November 1834 statt; inzwischen war auch die Fahrstraße von Ahrweiler bis zum Tunneleingang geschaffen worden. Karl Schorn, Autor der „Eifflia Sacra“, läßt in seinen Lebenserinnerungen die Ausstrahlung des Felsdurchbruchs sehr deutlich werden: Er sei „Ziel der Neugier für die gebildete Welt“ gewesen, schreibt er, ,,ein staunenswertes Ereignis‘, das ,,nicht nur das Rheinland, sondern auch weitere Kreise in Erregung brachte“. Die Eröffnungsfeier, so die Altenahrer Ortschronik, fand in Anwesenheit des Oberpräsidenten der Rheinprovinz, des Herrn von Bodelschwing, mit Böllerschüssen und Festgesängen, Spalieren der Schuljugend und Zuschauern auf allen Felsbastionen im Sichtfeld des Tunnels statt und endete mit einem feierlichen Mahl beim Gastwirt Cas-pari. Nicht überliefert ist, ob in den Festreden früherer Tunnelbaupläne gedacht wurde, die es durchaus gab: „Die Idee“, heißt es im Rheinischen Antiquarius, „an diesem Punkt den Felsen zu durchbrechen, war übrigens nicht neu. Einen der Herren von Klosterrade, P. Wolf, der Abtei Kellner an der Ahr, erfaßte der Gedanken, an derselben Stelle den Fluß durchzuführen, um den Strich Landes zwischen Altenahr und Altenburg trocken zu legen und zu Wiesengründen zu verwenden. Die Ausführung unterblieb, weil der gute Pater der Sage nach im zweiten Viertel des 1 7. Jahrhunderts als Hexenmeister verbrannt wurde“.
Mit einem Spezialgerät eigener Entwicklung ging die Hans Brochier GmbH am 2. August 1978 voller Zuversicht den Fels an. Mit Ehrfurcht vor der Technik bestaunten Zuschauer die zylinderförmige Maschine mit ihren Bohrmeißeln und Pressen Der Optimismus verflog rasch, das Gerät mußte vor den Tücken der Geologie kapitulieren
Ein weniger gewaltsamer Tod verhinderte nach dem ersten Tunnelbau einen zweiten. Am 29. Oktober 1865 starb der Altenahrer Bürgermeister Caspary, der — bewußt oder unbewußt — die Pläne des Klosterrather Güterverwalters aufgegriffen hatte, die Ahr durch die Felsbarriere zu führen und so, diesmal im Langfigtal, Wiesengrund zu gewinnen. War das Vorhaben auch nicht neu, so doch die Idee, wie das ehrgeizige Projekt in die Tat umgesetzt werden könne: Der einfallsreiche Bürgermeister wollte die Burgruine Are für 7000 Taler kaufen, um sie dann zum begehrten Gewinn einer einträglichen Riesenverlosung in ganz Deutschland zu machen. Ein Stollen für die Ahr war auch Anfang des Jahrhunderts noch einmal im Gespräch: Eine Turbine sollte eingebaut und so eine private Elektrizitätsversorgung für Altenahr geschaffen werden. Als die allgemeine Stromversorgung im Kreis Ahrweiler in Angriff genommen wurde, war das Altenahrer Projekt hinfällig. Der Schacht, der schon in den Fels vorgetrieben war, diente im zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker.
Ein Bohrkopf voller Rollmeißel sollte sich, elektrohydraulisch angetrieben, rotierend in den Fels fressen und der zwei Meter .dicke Zylinder mit den Aggregaten, von Pressen bewegt, jeweils nachfolgen. Die wechselnden Schichtverläufe und Härtegrade aber sorgten dafür, daß sich das Gerat nicht steuern ließ
Der Lichtpunkt auf der Hand des Mineurs verrät es: Beim Altenahrer Stollenbau wurden — wie neuerdings vielfach im Tiefbau — Laserstrahlen als Orientierungssystem für die Vortriebsrichtung verwendet
Nicht dem Fluß, sondern der Schiene blieb es also vorbehalten, nächst der Straße die Barriere zu überwinden. Am 1. Dezember 1886 wurde das Teilstück Ahrweiler — Altenahr der Ahrtal-Bahnstrecke eröffnet. Zu seinen Anlagen gehörte auch der erste ..Engelsley-Tunnel“, 66 Meter lang. Ein zweiter entstand, als zwischen 1909 und 1913 eine weitere, die ,,strategische“ Bahnlinie durch das Ahrtal geführt wurde. Wegen der geologischen Besonderheiten und der Nähe des Straßentunnels wurde nicht einfach der erste Tunnel erweitert, sondern eine neue Röhre angelegt, diesmal 85 Meter lang.
Schon 1887 war der Straßentunnel geringfügig verbreitert worden, weil der wachsende Verkehr, vor allem der aufblühende Fremdenverkehr es verlangte. Hundert Jahre später, unter dem Vorzeichen rapid fortschreitender Motorisierung, war er erneut Engpaß und Hemmnis. In den Wintermonaten 1969/70 wurde er auf elf Meter Breite ausgebaut, termingerecht trotz ungünstiger Witterungsbedingungen und an einem unberechenbaren Fels, wie bei der Freigabe besonders betont wurde.
Zu kleinen Brocken und Krümeln zermahlen wurde das Schiefergestein — bis der Vortrieb die Storzone mit fluvialen Ablagerungen erreichte und tonnenschwere Blöcke in den Schacht prasselten
Nach dem Scheitern der Vortriebstechnik kehrte Brochier zur traditionellen Stollenbautechnik mit Preßlufthammer und Sprengstoff zurück. Gleichmaßig in der Wand verteilt wurden Bohrlöcher und Sprengstoffchargen, sorgfältig die Zünddrähte abgeschlossen
Die Tücken des Berges waren also bekannt, als die Entscheidung fiel, den Abwasserstollen zu bauen, der als die technisch beste Lösung erschien, weil er gleichzeitig als Rückhalte-Reservoir dienen könne. Sie waren auch den Firmen bekannt, die 1977 ihre Angebote bei der Verbandsgemeindeverwaltung Altenahr einreichten. Und doch sollte der Fels noch Überraschungen bereithalten …
Am 13. Oktober 1977 tagte der Bauausschuß, einen Tag später ging der Brief mit der Auftragserteilung hinaus: an die Hans Brochier GmbH, deren Nürnberger Hauptabteilung Bohrung und Pressung für Planung und Ausführung verantwortlich zeichnete. Am 1. Juli 1978 begannen die Arbeiten an der Preßgrube nördlich des Felsriegels, am 2. August gingen — siehe Schlagzeile — „die Bohrer auf den Weg durch den Fels“. Peter L. Decker, der Bauleiter, rechnete mit sechs Monaten Bauzeit, antwortete freilich vorsichtig auf Fragen nach eventuellen Problemen: „In die Zukunft schauen können wir nicht..“.
Das erwies sich schneller, als wohl irgendwer geglaubt hatte, als prophetisch; denn noch im selben Monat scheiterte die Technik, auf der die Arbeitszeitberechnungen beruhten.
Brochier rückte dem Gestein mit einer Maschine aus der eigenen Entwicklungsarbeit zu Leibe, einem zylinderförmigen Bohrvortriebs-System, das die Aggregate umschließt und an der Spitze einen Bohrkopf besitzt, ausgebildet als Rollmeißel. Dieser Bohrkopf wird elektrohydraulisch bewegt, genauer: mit Hilfe von Öldruck, der wiederum durch Strom erzeugt wird. Die Arbeitsweise: während der Zylinder samt Aggregaten fest verankert ist, frißt sich der Rollmeißel rotierend 50 Zentimeter weit in den Fels vor, der dabei ,,zerkrümelt‘ und mit Hilfe von Wasser abgeschwemmt wird. Hat der Bohrkopf sein Werk getan, folgt ihm mit Hilfe hydraulischer Pressen der ganze Zylinder nach, ausgerichtet nach einer ,,Zielvorrichtung . die sich der Laser-Technik bedient.
Selbst bei kilometerlangen Tunnelbauten in den Alpen hatte sich das Vortriebssystem bewährt — in Altenahr versagte es. Das lag nicht etwa an der Härte des Schiefergesteins, dem Geologen Festigkeitswerte von durchschnittlich 1000 bis 1500 Kilopond je Quadratzentimeter und wegen der Quarziteinschlüsse Spitzenwerte bis 3000 Kilopond beimessen, es lag vielmehr an den ständig wechselnden Richtungen des Schichtenverlaufs und dem immer wieder schichtweise auftretenden Geröll, das die Meißel und damit den Vortrieb blockierte. Es blieb nichts anderes übrig, als den Stollenbau auf die althergebrachte Methode umzurüsten, also mit Preßluft und Sprengstoff vorzugehen.
Nicht die Natur, sondern ein krimineller Akt sorgte im Dezember 1978 für einen erneuten Aufschub: Bei einem Einbruch in einen Bauwagen wurde die gesamte elektrische Anlage der Baustelle außer Betrieb gesetzt, so daß die Pumpen versagten und der Stollen überflutet wurde. Die Elektromotoren sämtlicher Geräte mußten ausgebaut, getrocknet, repariert werden, der Schaden war beträchtlich.
„Wir kommen gut vorwärts“, lauteten Auskünfte von der Baustelle im Januar, Februar, März 1979. Zwar störte Hochwasser dreimal den Betrieb, aber ansonsten wurde im Schnitt pro Schicht ein Geländegewinn von 1,30 Meter erreicht. Bei ziemlich genau 200 Meter Stollenlänge erschien der Tag des Durchstichs errechenbar, als ein dramatischer Zwischenfall die Arbeiten erneut stoppte, ja sogar den Abschluß des ganzen Werks in Frage stellte: In der zweiten April-Woche brach plötzlich Gestein in den Schacht ein, Kiesgeröll mit zentnerschweren Felsblöcken. Für die Geologen kam die Wendung völlig unerwartet. „Keine wesentlichen Probleme!‘ — hatte es in ihren Prognosen geheißen. Nun suchten und fanden sie Erklärungen: die Ahr habe in grauer Vorzeit Spalten in den Schiefer gewaschen und mit Kies und Sand verfüllt; durch Nachbrüche sei diese weichere Schichtung dann mit überschweren Steinbrocken durchsetzt worden. Immerhin war das Geologische Landesamt sicher, daß der Stollenbau mit gebührender Vorsicht fortgesetzt werden könne. Das geschah nach drei Wochen ungeduldigen, bangen und natürlich auch geldschluckenden Wartens, und es geschah von da an unter einem schützenden Schild, den die Berufsgenossenschaft verlangt hatte. Anfang August war der Durchbruch erzielt, und am 13. August 1979 wurde bei Rotwein, Bier und Spanferkel Richtfest gefeiert und Bilanz gezogen.
Landrat Dr. Egon Plümer gratulierte zu einem Jahrhundertwerk, Bürgermeister Hermann Heiser sprach von einem entscheidenden Erfolg im Bemühen um eine verbesserte Infrastruktur, Brochier-Prokurist Dr. Conrad sagte den Mineuren Dank, „die nicht den Bohrer weggeworfen haben, obwohl ihnen sicher oft danach zumute war“, und Siegmund Reuter, Bauleiter in der zweiten Vortriebsphase, zog das Fazit des Technikers: Exakt 203 Meter lang wurde der Stollen, in dem Betonrohre von zwei Meter lichtem Durchmesser mit vier Prozent Gefälle verlegt sind. 235 Schichten erforderte der Tunnelbau, der demnach mit einer Durchschnittsleistung von 0,68 Meter pro Schicht voranging. Zu bewältigen blieb nach dem Richtfest noch die Verfüllung der Hohlräume mit Zementsteinmehl. „Im November“, versprach Reuter, „sind wir fertig“.
Kein Gast des Richtfestes faßte es wohl als bloße Artigkeit auf, wenn Hermann Heiser im Namen des Zweckverbands vor allem den Mineuren Dank für ihre Arbeit sagte, wenn sich Bauleiter Reuter bei heimischen Vertragsfirmen für gutes Zusammenwirken und bei der Bevölkerung für ihr Verständnis bedankte, und wenn schließlich Dr.-Ing. Conrad den Kommunalpolitikern des Altenahrer Lands versicherte: „Ich kann Sie zu diesem Bürgermeister nur beglückwünschen; er hat es uns nicht leicht gemacht . Angesprochen waren damit die zähen Verhandlungen um das liebe Geld; denn natürlich blieb es angesichts von Umplanungen, Unterbrechungen und Rückschlägen nicht bei der ursprünglichen Angebotssumme von 647 590,65 Mark für den kompletten Stollenbau. Die Umstellung auf konventionellen Vortrieb und von 1600 auf 2000 Millimeter vergrößertem Rohrdurchmesser schlug mit 250000 Mark zu Buche, der Zeitverlust und Mehraufwand für die Bewältigung der Störzone mit 280 000 Mark, und noch einmal 150000 Mark Mehrkosten waren zu verkraften, weil sich mit der geänderten Vortriebsart auch das Volumen der Hohlraumverfüllung änderte. Fazit: 1,3 Millionen Mark statt ursprünglich rund 650000 Mark, also fast eine Verdoppelung — kein Wunder, wenn der Zweckverband als Bauherr und das Unternehmen um ihre Anteile rangen.
Der Durchstich ist geschafft‘ Richtfest wurde am 13 August 1979 gefeiert Mit dabei und natürlich zu einer Besichtigung Im Stollen Landrat Dr Plümer (vorn links), Bürgermeister Heiser (mit Broschüre) und Bauleiter Reuter (ganz rechts)
Fotos: Vollrath
Beim Richtschmaus gingen beide Seiten auch der Frage nicht aus dem Wege, die sich natürlich aufdrängte: Wäre ein Umweg durch das Langfigtal nicht doch günstiger gewesen? Das Nein kam entschieden, weil vor allem nur die Tunnel-Lösung in das System paßt, die Abwasser von den entferntesten Punkten des Zweckverbandsbereichs bis zur Kläranlage allein in freiem Gefälle, also ohne betriebskostenträchtige Pumpstationen zu transportieren. Zudem bildet der Stollen ein Rückhaltebecken von rund 700 Kubikmeter Aufnahmekapazität, für den Betrieb einer biologischen Kläranlage, wie sie für Altenahr gewählt wurde, in Zeiten starken Regenwasser anfalls eine überaus wichtige Einrichtung. ,,Zugegeben, wir haben nicht billig gebaut“, faßte Bürgermeister Heiser die Meinung von Auftraggebern, Planern und Ausführenden zusammen, „aber wir haben die beste Lösung gefunden“.