Die Ahrtour
Onkel Josef erzählt aus seiner Kutscherzeit
Heinrich Schäfer
Ich habe manche schöne Fahrt gemacht als Kutscher der Hauderei Mertens in Rheinbach und dabei gutes Trinkgeld einstecken können, was mir sehr willkommen war, da wir Eifeler jungen Burschen uns im Niederland gegen Kost und Logis verdingen mußten und ein eigentlicher Lohn nicht vereinbart war. (Wen es interessiert, dem erzähle ich mehr.) Heute möchte ich gerne von einer besonders aufregenden Fahrt mit dem Männergesangverein berichten. Diese Männer pflegten jährlich im milden Mai einen Ausflug ins Tal des Ahrbur-gunders zu machen. Wir fuhren zweispännig mit dem großen Leiterwagen. Frische Birkenreiser bogen sich im Wind und am Kopf der Pferde wippten Fliederbüsche. Alles wohl befestigt. Weniger befestigt waren doch die Bänke, zu unserem Verhängnis, wie wir gleich sehen werden.
An sich mochte ich es immer gerne, wenn meine Gäste frohe Lieder sangen, und eine Fahrt an die Ahr konnte bis zu einem gewissen Punkte fröhlich und auch erfreuend sein. Bloß tun sich Rebensaft und Rauflust oft zusammen. Aber das kommt immer erst später. In damaliger Zeit war man allgemein patriotischer gestimmt als heute und an vaterländischer Begeisterung standen die Sangesbrüder niemand nach. Besonders stolz waren sie auf ihre Hüte, als Abzeichen ihres hohen Sinnes ließen sie sie nie im Stich. Dieser Umstand wird uns noch äußerst hilfreich sein. Mit dem bunten Strohhut in der Hand und einem frischen Lied aus noch hellen Kehlen ging es dann zur Stadt hinaus.
Zwar waren wir mit unserem Gefährt zeitig am Mittag abgefahren, aber jeder Eingeweihte weiß, wie schwer es fällt, auch die Rückfahrt pünktlich anzutreten. Wer die Gegend kennt, dem brauch ich nicht zu erklären, daß nach anstrengendem Aufstieg aus der Tiefe des Ahrtals sich auf der Höhe dann die Straße zunächst wieder senkt, bis sie allmählich in die Ebene von Rheinbach übergeht. Den Pferden ist nicht zu verdenken, daß sie in schnelleren Trab fallen, wenn es abwärts geht und der heimische Stall näher rückt.
Nun passiert es oft, daß uns das Mißgeschick dann noch einholt, wenn wir meinen, ihm schon entronnen zu sein. Froh darüber, vollzählig und ohne Schaden an Mann, Roß und Wagen auf dem Heimweg die Höhe der Ahrberge erklommen zu haben, ließ ich hinter der Kalenborner Höhe die Pferde in einen etwas flotteren Trab gehen. Meine Schuld aber ist es, die Herren Sänger nicht gewarnt zu haben, als wir in die erste scharfe Kurve bogen. Es ging ja auch alles so schnell! Der Wagen gerät ins Wanken, die lose aufgestellten Bänke noch mehr, am meisten aber die eben noch so mutigen Sangesbrüder. Wir sind schon in der Straßenböschung und in dieser etwas schiefen Lage fassen alle an ihre Hüte; aber manchmal wird gerade die stramme Haltung zum Verderben. Noch habe ich die Pferde nicht zum Halten gebracht, da ist meine ganze Fracht nach Art von Dominosteinen schon umgekippt und abgeladen. Schneller als erwartet sind sie alle wieder auf den Beinen, nicht so schnell jedoch wieder auf dem Wagen. Denn nun regt sich das Verantwortungsbewußtsein des Vorsitzenden. Um sicher zu gehen, daß keiner seiner Mannen verloren gegangen ist, läßt er sie in militärischer Manier antreten. Er stellt sich vor die Front und läßt abzählen, »eins, zwei, drei . . . neunzehn!« »Wir sind doch zwanzig« ruft er, »da fehlt ja einer.«Zchg.: Deisel
»Laß mich das Zählen machen, ich war bei der Infanterie, du als Husar, du kannst das nicht«, mischt sich der Dirigent dazwischen. Der Husar tritt ins Glied und der Infanterist geht nun vorbei und zählt. Auch er kommt nur bis neunzehn.
Jetzt drohte es bedenklich zu werden. Ich hörte schon Stimmen wie »Untauglich« und »Unfähig« und Gröberes. Wenn sie auf ihre Soldatenzeit zu sprechen kamen, dann wollte jeder tüchtiger sein, dann nahm es kein Ende. Ich kannte das. So griff ich ein.
»Legt eure Hüte auf die Erde, alle in eine Reihe«, befahl ich. Tatsächlich gehorchten sie, und nun konnte jeder, nicht nur Vorsitzender und Dirigent, bequem nachzählen, daß es wirklich zwanzig waren. An der Autorität der Hüte zweifelte niemand.