Schon vor 100 Jahren! Don Camillo und Peppone im Ahrtal
Hans Warnecke
Vor genau 100 Jahren — im Jahre 1882 — ereignete sich zwischen dem evangelischen Pfarrer in Bad Neuenahr und dem Bürgermeister ein Streit, der in manchem an die streitbaren Kontrahenten Don Camillo und Peppone in Italien erinnert.
In der preußischen Rheinprovinz war es selbstverständlich, daß ein Bürgermeister evangelisch zu sein hatte. Von Berlin aus wurde streng darauf geachtet, daß an allen wichtigen Posten Protestanten eingesetzt wurden. Es verwunderte von daher niemanden, daß Bürgermeister Hepke evangelischer Konfession war, sonntags im evangelischen Gottesdienst in der Kirche der kleinen Diaspora-Gemeinde Bad Neuenahr zu finden war und bei der Gemeindegründung aktiv mitwirkte. Der evangelische Pfarrer des Ortes mit Namen Gustav-Adolf Pliester nahm in den Angelegenheiten der Gemeinde immer wieder die tatkräftige Unterstützung der weltlichen Obrigkeit dankbar in Anspruch. Aber auch schon damals brachte die Liebe Verwirrung in den so straff geordneten preußischen Staat. Der Bürgermeister ehelichte eine katholische Frau, die als Einheimische selbstverständlich weiterhin zu ihrer Familie und ihrer Gemeinde gehören wollte. Für die evangelischen war das bereits eine mittlere Sensation. Vollends wurde hierein Konflikt erkennbar, als am 30. Juli 1880 ein Kirchengesetz verabschiedet wurde, in dem die Verletzung kirchlicher Pflichten in Bezug auf Taufe, Konfirmation und Trauung geregelt wurde. Das Presbyterium der evangelischen Diaspora-Gemeinde Bad Neuenahr war von diesem Gesetz so beeindruckt, daß es beschloß, jedem Gemeindeglied dieses Gesetz gedruckt zugänglich zu machen. In einer kurz darauf stattfindenden Presbyteriumssitzung besprechen die Herren — Frauen waren damals im Presbyterium undenkbar —, in welchen Familien gegen dieses Gesetz verstoßen worden ist. Besonders erregt ist man, als man von Herrn Pfarrer Pliester hört, daß Herr Bürgermeister seinen evangelisch getauften Sohn dem evangelischen Religionsunterricht entzieht, ihn aber an dem katholischen Religionsunterricht teilnehmen läßt. Damit ist der Streit eröffnet! Denn unsere heutigen Vorstellungen vom Zusammenleben zwischen katholischen und evangelischen Christen waren 10 Jahre nach Bismarcks Kulturkampf damals unbekannt. Auf beiden Seiten gab es ein tiefes Mißtrauen gegenüber der anderen Konfession. Ein preußischer Beamter und zudem noch ein Bürgermeister des Badeortes Bad Neuenahr verstieß gegen ein vom preußisch-königlichen Konsistorium erlassenes Gesetz. Deshalb greift der evangelische Pfarrer den Fehdehandschuh auf, um hier ein Exempel zu statuieren, was denn in einer evangelischen Gemeinde Recht und Ordnung sei.
Zunächst führt Herr Pfarrer Pliester ein Gespräch mit Herrn Bürgermeister Hepke, um ihn ernstlich zu ermahnen. Ohne Ergebnis. Er bittet daraufhin die Herren des Presbyteriums, auf den Bürgermeister einzuwirken. Die antworten ihm, daß weitere Gespräche völlig nutzlos seien, sich auch der Bürgermeister eine persönliche Einwirkung verbeten habe. Pfarrer Pliester aber ist nicht bereit aufzugeben. Am 30. Januar 1882 beschließt das Presbyterium, auf Antrag von Herrn Pfarrer Pliester, den Bürgermeister schriftlich aufzufordern, innerhalb von 8 Tagen seiner kirchlichen Pflicht hinsichtlich der evangelischen Erziehung seines Sohnes nachzukommen, damit das Presbyterium nicht in die unangenehme Lage komme, die im § 6 des Kirchengesetzes vom 30. Juli 1880 bestimmten Maßregelungen der Kirchenzucht über ihn zu verhängen.
Erinnerungstafel für Pfarrer Pliester an der evangelischen Kirche Bad Neuenahr
Foto: Kreisbildstelle
Dieser Brief ist ein Kanonenschuß. Denn hier wird einem amtierenden preußischen Bürgermeister vom Pfarrer der eigenen Konfession angedroht, ihm die Fähigkeit, ein kirchliches Amt zu bekleiden, zu entziehen sowie ihm das kirchliche Wahlrecht abzusprechen. Das bedeutet für den Bürgermeister, daß er seiner kirchlichen Rechte weitgehend entäußert wird, ja, in einem gewissen Sinne auch bürgerlich disqualifiziert wird. Deshalb ist eine Gegenreaktion von Bürgermeister Hepke unumgänglich notwendig. Sie kommt auch prompt! Am 16. Februar erhebt er schriftlich gegen die auf ihn angewandte Disziplinarmaßregelung Protest. Gleichzeitig aber versucht er auch seine Beziehungen zur Obrigkeit »spielen« zu lassen. In Koblenz war nicht nur der Sitz der preußischen Rheinprovinz, sondern auch der Standort des kirchlich-protestantischen Konsistoriums. Es wäre doch gelacht, wenn ein Pfarrereiner Dreihundert-Seelen-Gemeinde so mit einem preußischen Bürgermeister umgehen könnte. Bürgermeister Hepke macht deswegen bei dem Präsidenten des Königlichen Konsistoriums, Herrn Snethlage, in Koblenz einen Besuch und klärt ihn über den unbotmäßigen Pfarrer Pliester auf. Der setzt sich daraufhin sofort in den Zug, um in Bad Neuenahr als kirchlicher Oberhirte ein verirrtes Schaf wieder auf den rechten Weg zu bringen. Aber, da hatte er sich getäuscht. Pfarrer Pliester macht in außerordentlich ironischer Art und Weise das Presbyte-rium mit diesem Besuch bekannt und fragt, ob denn eigentlich ein Gesetz der Kirche nur für einen bestimmten Personenkreis gelte, andere aber aus undurchsichtigen Gründen davon ausgenommen seien. Im Protokoll dieser Sitzung ist vermerkt, daß die versammelten Presbyter ihre Entrüstung über das die Würde und das Ansehen der ev. Kirche tiefverletzende Einschreiten des Herrn Konsistorialpräsidenten zugunsten eines seiner christlichen Pflicht tatsächlich verleugnenden Gemeindegliedes aussprechen. Jetzt oder nie soll sich erweisen, was es heißt, im Jahre 1882 ein rheinischer Protestant zu sein:
In der nächsten Sitzung soll ein Schreiben vom Presbyterium beschlossen werden, in welchem dem Bürgermeister die Disziplinarmaßnahme mitgeteilt wird.
Vierzehn Tage später ist man im Presbyterium ein wenig ruhiger geworden. Nicht an Herrn Bürgermeister Hepke wird geschrieben, sondern an das Königliche Konsistorium. In diesem Brief wird der gesamte »Fall Hepke« dargestellt und eine Antwort erbeten. Die kommt leider nicht! Der Superintendent des Kirchenkreises Koblenz schickt vielmehr die Anfrage des Neuenahrer Presbyteriums mit seinen Randbemerkungen versehen an das Presbyterium zurück. Im Presbyterium herrscht große Aufregung. Aus diesen Anmerkungen des Superintendenten Rehmann ist nämlich deutlich zu erkennen, daß er sich zuvor mit dem Beschuldigten Konsistorialpräsidenten Snethlage besprochen hat. Jetzt oder nie ist die Devise. Noch einmal geht die Post nach Koblenz mit der herzlichen Bitte an den Superintendenten, ohne weiteren Aufschub die Stellungnahme des Königlichen Konsistoriums dem Presbyterium zuzuleiten. In der Tat, jetzt hat das Presbyterium Erfolg. Bereits am 26. Mai trifft die Antwort des Königlichen Konsistoriums ein. Es wird in diesem Antwortschreiben dem Presbyterium zuerkannt, daß die Kompetenz der Kirchenzucht bei ihm alleine liegt. Zugleich aber wird in diesem Brief es lebhaft bedauert, daß das Presbyterium die Schritte des Herrn Präsidenten Snethlage einer nicht geziemenden und persönlichen, verletzenden Kritik unterworfen hat. Das Schreiben schließt mit der Bemerkung, daß die entgegenstehende Angabe des Pfarrers Pliester gegen die Meinung des Herrn Präsidenten Snethlage nur dafür ein Beweis sei, wie sehr das Gehörleiden des Herrn Pfarrer Pliester, selbst bei einer Besprechung unter vier Augen, das klare Verständnis erschwere. Inzwischen geht es nicht mehr um einen Fall Hepke, sondern um eine innerkirchliche Angelegenheit und um die Selbständigkeit und Gültigkeit presbyterialer Entscheidungen. Das Presbyterium empfindet, daß sein Pfarrer vor dem eigenen Konsistorium in Schutz zu nehmen ist.
In einem Schreiben wird deshalb vom Presbyterium und nicht vom Pfarrer Pliester eine Klarstellung abgegeben. Im Konsistorium macht man es sich leicht. Man lehnt es einfach ab, auf die Vorwürfe einzugehen und ermahnt als kirchliche Obrigkeit das Presbyterium zur geziemenden Bescheidenheit. Die Mitglieder des Presbyteriums kommen deswegen zu der Einsicht, daß auf dem Verwaltungswege ihnen kein Recht zuerkannt würde. Sie beschließen deshalb, bei der nächsten Kreissynode ihre gesamten Beschwerden vorzutragen. Damit ist ein Grad der Öffentlichkeit erreicht, der den Fall Hepke für den gesamten Regierungsbezirk Koblenz akut werden läßt. Pfarrer Plie-ster erhält denn auch bei der Tagung der Kreissynode Gelegenheit, alles vorzutragen. Die Entrüstung ist groß. Aber die Angelegenheit ist damit keineswegs beendet. Das Konsistorium ist nicht bereit, die hier öffentlich vorgetragenen Vorwürfe hinzunehmen. Herr Pfarrer Pliester wird deswegen angeschrieben, sofort sein Konzept des Vortrages, den er auf der Synode gehalten habe, und in dem er »in einer im hohen Maße ungeziemenden und den Herrn Vorsitzenden auch persönlich verdächtigenden Weise kritisiert habe« dem Konsistorium zuzuschicken. Er antwortet daraufhin, daß er die Gabe der freien Rede habe und deshalb vor der Synode ohne Manuskript gesprochen hätte. Die Einsendung eines Manuskriptes müsse er deshalb ablehnen.
Das Konsistorium verzichtet auf weitere Nachforschungen. Das Presbyterium läßt den Fall Hepke auf sich beruhen. Pfarrer Pliester amtiert noch viele Jahre in Bad Neuenahr und der Sohn von Bürgermeister Hepke geht weiterhin zum katholischen Religionsunterricht. Es bedurfte noch vieler Jahrzehnte, bis das Verhältnis der Konfessionen sich grundlegend besserte und Vertrauen und Glaubwürdigkeit an die Stelle von Mißtrauen traten.