Wie die Wassenacher zum Spitznamen »Klieburger« kamen
Über den Kartoffelanbau in unserer Heimat
Werner Müller
Der Kartoffelanbau in unserer Heimat begann mit zaghaften Versuchen in den Gärten der Herrschaften und der Klöster gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts. In einer Schrift über die Familie von Kolb zu Wasse-nach, die Dr. Julius Wegeier um 1860 herausbrachte, lesen wir in einer Ernteübersicht aus dem Jahre 1705, daß 7,5 Malter Erbsen als Hauptnahrung dienen müßten, sollte die Kartoffelernte mißraten. Dies kann als Beweis dafür herangezogen werden, daß es zu dieser Zeit bereits Kartoffelanbau in Wassenach gab. Mit der Verbreitung der Kartoffel wich auch der Hunger aus den Dörfern. Speziell in Wassenach geriet die Kartoffel sehr gut. Um zu verstehen, warum dies so war, muß man wissen, wie sich der Nährstoffbedarf der Kartoffel zusammensetzt und wie der Ackerboden beschaffen ist.
Die Kartoffel als stärkereiche Frucht benötigt zum Gedeihen viel Kali. Dieser Nährstoff ist von Natur aus in unseren leichten Vulkanböden in hohem Maße enthalten. Den wenigen noch benötigten Stickstoff brachte man in Form von Stallmist und Jauche aufs Feld. Dies waren in Ermangelung mineralischer Dünger die einzigen Düngemittel neben etwas Asche oder Kalk. Mit Phosphorsäure konnte man damals nicht düngen, da man sie noch nicht kannte. Die Kartoffel nahm dies im Gegensatz zum Getreide aber nicht übel, da sie sehr wenig Posphorsäure zum Gedeihen benötigt. Wenn man dann noch bedenkt, daß bei der Kartoffel ein Ertrag von ca. 80 Zentnern je Morgen erreicht wurde, wogegen man bei Roggen gerade auf 8 Zentner kam, kann man sich vorstellen, wie schnell sich der Kartoffelanbau auch ohne Drängen durch die Obrigkeit verbreitete. Hinzu kam noch, daß die Abgabenordnung des 17. Jahrhunderts noch keine Zehntabgabe auf die Kartoffel vorsah. Dies änderte sich jedoch bald in der Abgabenordnung von 1732, die u. a. die Branntweinherstellung aus Kartoffeln verbot, und bestimmte, daß eine Zehntabgabe darauf fällig war. Jetzt, nachdem die Kartoffel heimisch war, konnten sich die Menschen das ganze Jahr über sattessen; schmeckte doch die Kartoffel gekocht oder gebraten, als Pellkartoffel oder als Salat. Mit einem Wort, sie war zum Volksnahrungsmittel geworden. Ein einfaches Rechenbeispiel mag die Beliebtheit der Kartoffel noch verdeutlichen: Erntete man 8 Zentner Roggen je Morgen, so bleiben nach Abzug des Mahllohnes und der Kleie noch ca. 6 Zentner Mehl übrig. Diese ergaben gebacken ca. 200 Brote unseres 1,5 kg Schwarzbrotes. Wie schnell waren diese 200 Brote bei meist 10- oder mehrköpfigen Familien verbraucht? Die 80 Zentner Kartoffeln je Morgen reichten hingegen für das ganze Jahr und in Ergänzung beider Nahrungsmittel blieb sogar noch etwas zum Verkauf übrig. Diesem Verkauf waren allerdings sehr enge Grenzen gesetzt. Ballungsgebiete wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Auch besaß noch lange nicht jeder Bauer ein Fuhrwerk und Fahrten von mehr als 2 Stunden kosteten mehr an Hufbeschlag und Wagenreifen als der Verkauf von Feldfrüchten einbrachte. Daher unterblieben solche Fahrten fast gänzlich, abgesehen von Fahrten zum Arzt, in die Apotheke oder zum Einkauf einiger Wirtschaftsgüter, die wenige Male im Jahr stattfanden. Mit Napoleon trat nun plötzlich eine große Änderung ein. Von einem Tag zum anderen war alles anders. Das Feudalsystem mit seinen vielen Abgaben und Hemmnissen wurde hinweggefegt. Etwa 40 % der Ackerfläche, die vorher dem Adel oder der Kirche gehört hatten, wurden säkularisiert und an Private öffentlich verkauft. Die Schlagworte der französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« fanden ihren Weg bis an den Rhein. Heiratswillige, die bisher eine Genehmigung des Grundherrn zur Heirat oder zum Umzug in ein Nachbardorf haben mußten, konnten sich frei bewegen und heiraten, wen sie wollten. Dies hatte einen Anstieg der Bevölkerungszahlen zur Folge.
Kaffeepause bei der Kartoffelernte (1936)
Hatte Wassenach 1817 erst 379 Einwohner, so stieg die Zahl bis 1852 schon auf 556. Dieser allgemeine Bevölkerungsanstieg hatte auch einen Anstieg der Kartoffelanbauflächen zur Folge. Selbst Brachflächen, die bis dahin nur alle 2 – 3 Jahre bebaut worden waren, kamen jetzt unter den Pflug. Auch die Städte, in denen sich Industrie anzusiedeln begann, wuchsen und konnten sich mit einem Mal nicht mehr aus ihrem näheren Umland versorgen. Sie waren jetzt auf die Zulieferung aus einem weiteren Umkreis angewiesen. Daher legten eines Tages im Herbst Schiffe in Brohl an, deren Eigner in die Dörfer kamen und Kartoffeln aufkauften. Mit Pferdefuhrwerken wurden die Kartoffeln nach Brohl geschafft und auf die Schiffe verladen. Jetzt, da sich ein Markt anbot, der die nicht zum eigenen Verzehr benötigten Kartoffelmengen abnahm, weitete sich der Kartoffelanbau auf Kosten des Getreideanbaus immer mehr aus. Eine Umstellung der Verzehrgewohnheiten, wobei anstelle der Mehlspeise immer mehr die Kartoffel trat, förderte auch noch diese Entwicklung. Die Folge war ein Überstrapazieren der Böden und damit verbunden ein Rückgang der Erträge. Dies besserte sich erst, als man mit dem Anbau von Rotklee und Luzernen zur Stallfütterung des Viehs überging. Jetzt fielen größere Mengen Stallmist und Jauche an, die so nötig im Ackerbau gebraucht wurden. Bei einer Ernteerhebung im Amt Burgbrohl aus dem Jahre 1851 wird die Kartoffelernte in Wassenach mit 2 400 Scheffel angegeben. Dies entspricht etwa 1 700 Zentnern. Bis zur Erhebung im Jahre 1855 stieg die Erntemenge schon auf 6 560 Scheffel. Dies waren etwa 4 600 Zentner. Für das Jahr 1861 schätzt Dr. Julius Wegeier, von dem diese Zahlen stammen, den Kartoffelverkauf nach Auswärts auf 4 000 Zentner, die einen Erlös von 3 300 Reichstalern, nach heutiger Kaufkraft etwa 60 000 DM, erbrachten. Allerdings, so vermerkt Wegeier, kenne er keine Gemeinde in der Umgegend, die so viele Kartoffeln nach Auswärts verkaufe wie gerade Wassenach. Wegeier schreibt in seinem Buch weiter, daß eine rätselhafte Krankheit die Kartoffel bei feuchtem und schwülwarmem Wetter innerhalb von wenigen Tagen zum Absterben bringe. Um diese Verluste auszugleichen, habe man die Anbaufläche noch vergrößert. Heute wissen wir, daß es sich bei der Krankheit um die Krautfäule gehandelt hat. Dies war zum Teil eine Folge der Qualitätssteigerung. Auch heute können wir noch beobachten, daß eine Kartoffelsorte um so anfälliger für die Krautfäule ist, je höher die Geschmacks- und Kochqualität ist. Als Folge der Krautfäule, die in trockenen Jahren weniger auftrat als in feuchten, war der Ertrag 1861 auf 40 Zentner je Morgen gesunken. Um diese Zeit hatte man, im Gegensatz zu heute, noch keine speziellen Sortennamen. Man baute die Frühe Gelbe und als Späte die Rote Rauhschalige an. Als neue mittelfrühe Sorte nennt Wegeier die Mittelfrühe Badische. Um 1880 taucht als Kartoffelsorte die Klieburger auf. Es muß eine sehr gute, ertragreiche und widerstandsfähige Sorte gewesen sein, die in Wassenach in sehr großen Mengen und mit gutem Erfolg angebaut wurde. Der Absatz florierte, zumal mittlerweile die Eisenbahn im Rheintal einen Versand ab Bahnhof Brohl per Waggon ermöglichte und die Ballungsgebiete zwischen Rhein und Ruhr immer größere Mengen zur Versorgung der Bevölkerung benötigten. Durch den Kartoffelanbau kam ein gewisser Wohlstand nach Wassenach. In dieser Zeit wurde die Bausubstanz des gesamten Ortskerns erneuert. Die Krotzenhäuser und -gehöfte sind heute noch beredte Zeugen dieser Zeit. Damals wurde in den Nachbardörfern etwas neidvoll der Spitzname vom »Wassenacher Klieburger« geschaffen. Um 1900 baute man zwar noch Klieburger Kartoffeln an, aber ihre große Zeit war vorüber. Abbaukrankheiten, die auch die heutigen Sorten nach jahrelangem gutem Ertrag plötzlich befallen und vom Anbau verdrängen, brachten auch das Aus für die Klieburger. Andere Sorten wie Optodate, Odenwälder Blaue oder Magnum Bonum bestimmten fortan bis nach dem 1. Weltkrieg das Kartoffelgeschäft. Nicht unerwähnt bleiben soll in dieser Chronologie der Hunger- oder Steckrübenwinter im Kriegsjahr 1917/18. Im total verregneten Sommer 1917 war fast die gesamte Kartoffelernte in Deutschland von der Krautfäule vernichtet worden. Die wenigen geernteten Kartoffeln waren so stark mit den Fäulnispilzen infiziert, daß beim Waggonversand durch die dichte Lagerung und die damit verbundene Erwärmung die Kartoffeln so stark in Fäulnis übergingen, daß am Bestimmungsbahnhof die Ladung meist ganz verdorben war. Nach dem 1. Weltkrieg machte die Sorte Industrie das Rennen. Als Oberländer Kartoffel genießt sie heute bei der älteren Generation noch einen legendären Ruf.
Der Kartoffelanbau wuchs auch zu dieser Zeit noch. Durch den mittlerweile eingeführten Mineraldünger stieg der Ertrag je Morgen auf 150 -180 Zentner. Mit eigenen Arbeitskräften konnten diese Kartoffelmengen nicht mehr geerntet werden, da ja alles von Hand gegraben werden mußte. Zur Zeit der Kartoffelernte warb man deshalb von Mitte September bis Martini Tagelöhner, Männer und junge Frauen, vom Hunsrück an, die für den Erlös eines Zentners Kartoffeln pro Tag bei der Kartoffelernte mithalfen. Nach einer Stagnation und sogar einem Rückgang des Kartoffelanbaus zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, stieg der Anbau in den Kriegsjahren wieder merklich an. Die Sorte Ackersegen ist allen über 40jährigen noch ein Begriff. Ihre Ertragstreue und Resistenz gegen die Krautfäule waren auch Gründe dafür, daß in den Kriegs- und Nachkriegsjahren nicht noch mehr gehungert werden mußte. Mit der Währungsreform im Jahre 1948 wurde ein neues Kapitel in der Geschichte der Kartoffel eingeleitet. Durch einen langsamen Wandel der Verzehrgewohnheiten zu immer hochwertigeren und feineren Nahrungsmitteln ging von Jahr zu Jahr der Bedarf an Speisekartoffeln zurück. Wurden 1948 noch 5 Zentner Kartoffeln pro Kopf und Jahr verzehrt, so ist diese Menge heute auf unter einen Zentner abgesunken. Der dadurch bedingte Preisverfall und der hohe Arbeitskräftebedarf zur Erntezeit mit nicht mehr zu realisierenden Lohnkosten ließ den Kartoffelanbau in Wassenach zur Bedeutungslosigkeit absinken. Heute deckt die Kartoffelanbaufläche in Wassenach kaum noch den Eigenbedarf des Ortes. Das einzige, was aus der großen Pionierzeit des Kartoffelanbaus übrig geblieben ist, ist der Spitzname vom »Wassenacher Klieburger«. Die junge Generation weiß jedoch schon fast nichts mehr damit anzufangen, obwohl noch keine hundert Jahre seitdem vergangen sind. Zur Fastnachtszeit erklingt zwar lautstark der Schlachtruf »Klieburg Alaaf«, aber das Bühnenbild zeigt eine Burg mit vierblättrigen Kleeblättern verziert, die eigentlich nichts mit dem Namen und der Sache zu tun haben.
Vielleicht malt man demnächst ein paar Kartoffeln dazu oder verschenkt symbolisch eine Kartoffel als Fastnachtsorden, um damit an die große Kartoffelzeit, die Klieburger Zeit, zu erinnern, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.