Egeria

Johannes Fr. Luxem

Träume

Ungeheure Fahnentücher der Sommerwolken bedeckten den Horizont von einem Ende zum anderen, Sturm bog Fichtenspitzen zur Erde, verwehte Hähergeschrei, rauschend überschwemmte der Bach enges Wiesental. Aus dem Steilhang des Kolkes riß das Wasser rötliche Erde, schwemmte Rasenplacken fort, legte Gestein frei, fraß sich tief in Schichten des Schiefergebirges, brachte zutage Geheimnisse aus den Büchern bröckliger Erde und Felsformationen, hart gegen weich, unzerstörbar Kristallines gegen faserige Widerstandslosigkeit, Blätter aus Erdreichfolianten und den weitläufigen Schichten vergangener Zeiten.

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In solchen Sturmstunden träumen die Hütejungen, ihre Seelen zerrissen wie Eifelhimmel und Wolkenburgen vor Coelinblau. Mit den windbewegten Wolkenschiffen fliegen ihre Wünsche fort, münden in die Häfen unausgesprochener Sehnsucht nach Unbekanntem, Unvorstellbarem: Hitze, Sonnenglutball über Pyramiden, Oasen im Sandsturm. Sie sehen Flüsse, Blauwasser, Dreimastbarken, Bugwelle rauscht, der Kapitän unbeweglich auf der Brücke, Rufe, Kommando Brassen und Wende, neuen Gestaden steuert die Bark entgegen. Niegesehenes gilt es zu entdecken, Fremdes zu suchen, zu erwerben, zu horten, einzusammeln, Bündel, Körbe, Taschen voll, alles haben, festhalten, besitzen, alles heimbringen über Meere und Flüsse in die Schatzkammern der kleinen Traumsammler. . .

Seit eh und je ist Pannendecker Vitt – Vitalis, seltener Name in der Vulkaneifel ob der Ahr -besessen von solchen Wünschen, Schönes, Seltenes, Eigenartiges, rätselhaftes Gebilde aller Art zu suchen, zu sammeln, die Dinge mit heimzunehmen in die Enge seiner Kammer, sie auszubreiten auf selbstgehobelten Brettchen.

Abends, bei Kerzenstummellicht, betrachtet er die Vielfalt seiner skurrilen Schätze, verschiebt Lichtquellen, fordert unstetes Spiel bewegter Schatten heraus, denkt sich Geschichten aus, die ihn mit den Dingen zurückführen in längst vergangene Zeiten.

Warten

Nach jedem Unwetter, nach Regenschauern, Sturmböen, Hagel, Blitzschlag, furchterregenden Wolkenbrüchen wird hinter dem tiefen Kolk, verborgen von Weidenastgewirre, Binsen und riesigen Huflattichblättern Erdreich abgeschwemmt, und in ihm kommen eigentümliche Gebilde, Steinreste, Tonscherben, Krugschalen, Eisenspitzen aus Urtagen ans Licht: Abgebrochenes, Zersprungenes, Abgeschliffenes, fremd und schön zugleich. Man muß abwarten, richtige Augenblicke kennen, das Zupacken lernen, sonst wird Abgerissenes und Ausgewaschenes weitergeschwemmt, geht unter, verloren für immer.

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Pannendecker Vitt kennt diesen Augenblick des Zugreifens nach vergeblichem Warten, nach Ausharren im Unwetter, wenn er durchnäßt ist, geblendet vom Blitz, erschrocken vom Donnerschlag, von Wassern und Sturm gegerbt.

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Nichts vermag sein Auge zu trüben, Wachsamkeit zu schwächen, Greifvogelblicke zu verwischen, nichts entgeht dem unruhigen Wächter. Getragen ist er von Instinkt und vom Glauben daran, daß er eines Tages nicht Reste, Trümmerstückchen, Unvollkommenes fände, sondem etwas Einmaliges, unvorstellbar, wunderlich, mehr als Scherben, Knochenreste, Trümmer und Vergeblichkeiten. Vitt hat warten gelernt als Eifler Hütejunge, als Kleinster am Buchenholztisch, als Bote, Kundschafter, Knechtchen, Viehhirte. Er kennt das Wartenkönnen der Krebsgreifer und Forellenfänger im sprudelnden Weidenbach, Warten und Wunschbilder sind bei ihm eins.

Suche

So haben sich in Vitts Kammer Kistchen, Schachteln und Dosen im Lauf der Jahre gefüllt mit Fundstücken, kleinen Kostbarkeiten aus der Tiefe von Sand, Schlamm, Geröll, emporgeschwemmt vom unaufhörlichen Quellensprudeln: Reste, Fragmente, Torsen, Teile von einst wunderbaren Ganzen, Gerät, Schalen, Krüge, Figuren.

Solche Spuren der Zeiten sammelte Vitt mit Leidenschaft, Zeichen, in ihrer Unvollständigkeit Signale einstiger Vollendung. In seiner Kammer legte Vitt Fragmente auf der Fichtenplatte des Tisches aus, drängte größere und winzige Stücke zusammen, suchte verzweifelt nach deutlicheren Spuren.

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Aus dem willkürlichen Mosaik verdichteten sich die Formen zu Geschehnissen und Gestalten der Römer- und Keltenzeit. Sie wurden zu Teilen seiner Wirklichkeit: Völker, Räume, Sprachen, Ereignisse – und aus seiner ripuarischen Seele floß ein lebendiger, unaufhörlicher Strom zurück in ferne Vergangenheit.

Er sah Kelten, Römer, Franken bauen, befestigen, kämpfen, jagen und ernten, hörte verworrene Sprache, sah ihre Feuer brennen, vernahm jahrtausendealte mächtige Klage dahingegangener Völker und Geschlechter aus Gestein und Gewässern, erkannte Spuren, ahnte große Zusammenhänge und Tragik der Wiederkehr.

Quelle

Der Lieblingsplatz des Hütejungen aber war die Quelle. Sie entsprang unweit der Viehweide inmitten eines fast undurchdringlichen Dikkichts aus Schwarzdornhecken, Brombeeren und Ebereschen am Ende einer Lichtung, eingegrenzt von wucherndem Huflattich, Röhricht, Binsen, Bärenklau, Kratzdisteln und Pestwurz. Von durchdringendem, wildem Geruch war die Luft dort an schwülen Sommertagen erfüllt, fremd und betäubend.

Vitt schaute oft unbeweglich hinab in die grünblaue Quellentiefe, in unaufhörliches sanftes Bewegen, Gleichmaß aufsteigenden Wassers. Aus unbekannten Tiefen voller Geheimnisse drängte es ans Licht des Tages, bildete auf fast kreisrunder Oberfläche sanfte Schlieren. Sie kamen dem Knaben vor wie geheime Schriftzeichen uralter, mächtiger Natur, Botschaften der Quellgottheiten Egeria, Juturna, Fontus . . .

Fund

Vitt hatte das Warten gelernt, die unerläßliche und unbeschreibliche Geduld der Sammler. Und es wurde wahr, was er so unentwegt erhoffte: Als seine Hände tastend hinabgriffen in die Tonschichten spürten sie glattgeschliffene Umrisse eines eigentümlich geformten Steines. Vitt hielt ihn fest, damit er, glitschig vom Schieferschlamm, nicht wieder entgleite, zog ihn behutsam empor in das Lichter- und Schattenspiel des Sommertages auf der Quellenlichtung.

Warnung schrie der Häher, als Vitt seinen Fund mit Gras und Huflattichblättern zu säubern begann; wie festgebacken klumpten Schichten sandigen Tones um ein eigentümliches Gebilde. Schicht um Schicht entblätterte der Knabe mit äußerster Vorsicht im instinktiven Ahnen, daß dies der Augenblick seiner endlichen Wunscherfüllung sei, einmalig, erregend, kostbare Stunde eines langmütigen Suchers.

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Aus Sand und Tonschlamm aber schälte sich eine merkwürdige kleine Figur, Schlichtheit in Haltung und Form, Würdevolles strahlte sie – aus in ihrer Unversehrtheit: Egeria, Quellengottheit, die die Quelle schützte und die lebendigen Wasser der Vulkaneifel bewahrte durch Jahrhunderte.

Vitt hatte seinen Schatz gefunden. Er trug ihn, eingehüllt in ein Stück groben Sackleinens, in der Dämmerung nach Hause. Im fernen Tal des Stromes sah er Nebel aufsteigen, hörte den spitzen Ruf des Milans und es kam ihm vor, als trüge ihn der verebbende Sturm über die Hügel heimwärts, ihn und die Nymphe.

Epilog

Kein Geheimnis aber bleibt genug behütet, daß es auf immer verborgen bliebe, Ereignisse, Worte, Handlungen, Glück und Unglück oder ein kostbarer Fund.

Fügung oder Zufall wollten es, daß der Dorfpfarrer, kunstsinniger Liebhaber der Antike, Vitt’s kranken Ohm besuchte und die marmorne Statuette auf einem Hobelbrertchen des Hütejungen entdeckte. Er nahm sie mit in sein stilles Pfarrhaus, schrieb darüber einen gelehrten Artikel und krönte seine Abhandlung mit dem Hinweis, den kostbaren Fund pflichtgemäß dorthin zu verbringen, wo er von Rechts wegen hingehöre, in das Landesmuseum der alten Universitätsstadt am Rhein.

Dies war damals von den Walddörtern unserer Ahreifel aus eine regelrechte Tagesreise. Natürlich mußte Vitt als Finder der Statue mitfahren, und er fand es ganz selbstverständlich, daß der Herr Pastor während der langen Fahrt die sorgsam verpackte und verschnürte Kostbarkeit nicht aus den Händen ließ. Seitdem steht die Quellnymphe unter Panzerglas und es kommt zuweilen vor, daß die Kinder Vitt’s den Fund des Vaters dort besuchen und bewundern.

Noch auf der Rückreise begann der Pfarrer, Vitt in die Anfangsgründe der lateinischen Sprache einzuführen, und später verließ der beharrliche Suchersein Eifeldorfzum Studium. Er lebte in einer großen Stadt jenseits des Stromes als gefragter Architekt und versierter Sammler kostbarer Funde aus der Epoche der Römer an Ahr und Rhein. Er wirkte nach den Worten des Dichters, bemüht, Dinge neu zu schaffen, indem er sie ihres Namens beraubte und ihnen zugleich einen anderen, neuen Namen gab, neue, kunstvolle Formen, die ihre Ursprünge in den Bauten, Geräten, Kunstwerken aus dem Geiste der Römerzeit hatten, jener Zeit, die er sein Leben lang mit seiner Seele suchte.

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