Maibrauchtum und Maikirmes in Kempenich

Manfred Becker

Schön sind die Jugenderinnerungen, besonders an den Wonnemonat Mai und an das Brauchtum dieser Zeit. Am Vortag des 1. Mai streiften wir durch Wald, Feld und Wiesen und pflückten Blumen und Zweige. In der guten Stube wurde anschließend im Herrgottswinkel ein Maialtärchen aufgebaut. Mitten in einem Meer von Grün und Blumen stand dann die Muttergottes und blickte freudig auf uns herab.

Nach dem Angelusläuten am Vorabend des 1. Mai, wurde es dann rege am Jugendheim. Junge Männer gruben ein Loch auf dem Dorfplatz und bald erschien ein Pferdegespann, welches den stattlichen Maibaum auf einem Langholzwagen heranbrachte. Mit bunten Bändern wurde der Fichtenbaum geschmückt und zusätzlich mit einem Tannenzweigkranz geziert. Unter lauten „Hau-ruck-Rufen“ wurde der Baum aufgestellt, und die örtliche Blaskapelle spielte das Lied „Der Mai ist gekommen.“

Wenn dann die Dämmerung über unser Dorf kam, wurden wir Jungen munter. Jetzt wurde „geschleift“, das heißt, es wurde alles, was in den Höfen herumstand, zum Markt, also „Op de Pomp“, geschleppt. Ackerwagen, Eggen, Handwägelchen, Leitern, Ruhebänke und Gartentörchen. Bald war es auch eine Ackerwalze, die unter lautem Gejohle über das holprige Pflaster gezogen wurde.

Die Alten schimpften hinter uns her, sich nicht mehr bewußt, daß auch sie in ihrer Jugend die gleichen Streiche verübt hatten. Bald lag alles Zeug und Gerät hoch aufgetürmz auf dem Platz, und die ersten Leute erschienen am Tatort, um ihre Sachen zurückzuholen.

Gut erinnern kann ich mich noch an „Flonte Hannes“, einen alten eigenwilligen Junggesellen, dessen Holzbock jedes Jahr den Weg zur Pomp machen mußte. Hannes wäre beleidigt gewesen, wenn er mal in einem Jahr vergessen worden wäre, seine Enttäuschung hätte keine Grenzen gekannt. Die ganze Nacht lag er auf der Lauer, und er scheute sich nicht, unter lautem Fluchen mit der Axt hinter uns herzulaufen. Doch seine Beine waren nicht mehr schnell genug, daß er uns hätte einfangen können.

Einmal kam der Dorfgendarm, Franz Leich, ein gutmütiger Herr, und ermahnte uns, den Unfug in Grenzen zu halten. Er müsse nur noch schnell in Weibern nach dem Rechten sehen. In einer Stunde sei er wieder zurück. Schnell nutzten wir die Zeit, um sien Hoftor zu holen. Am anderen Morgen bat er uns, sein Törchen zurückzubringen und gab uns als Belohnung DM 5-, und eine Packung Zigaretten.

Aber das war nicht der einzige Unfug in der berüchtigten Hexennacht. Gab es im Dorf ein Liebespaar, so wurde der Weg von Haus zu Haus mit Kalk bestreut, um Jedermann auf das Geheimnis der Liebe aufmerksam zu machen. Beim Erwachen des Maimorgens sah man dann die Betroffenen mit Eimer und Schrubber, die Kalkspuren zu verwischen, meist jedoch ohne Erfolg. Auch wurden die Geräte und Landmaschinen von den Eigentümern wieder an ihren angestammten Platz gebracht. Der Ärger saß tief in den Herzen der Betroffenen, und manche Tracht Prügel wurde uns noch nach Tagen verdientermaßen verabreicht.

Am ersten Maiwochenende war dann unsere Maikirmes. Solange man denken kann, spielte sich das Kirmestreiben immer „op de Bach“ ab, auf dem Platz am Goldbach, vor dem Jugendheim. Hier standen die Schiffsschaukel und das Kinderkarussell, Schießbude und sonstige Buden mit Spielzeug und Süßigkeiten. Immer noch klingt der Klang der Kirmesorgel in meinen Ohren: Eigentümliche, geheimnisvolle, romantische Kirmesmusik.

Der kleine Platz konnte die Menschen kaum fassen, die von nah und fern zur Kempenicher Kirmes kamen, um sich hier ihres Lebens zu freuen. Verwandte weilten zum Kirmesbesuch im Dorf und an der festlich gedeckten Kirmestafel wurden Erinnerungen ausgetauscht und nette Anekdoten erzählt. Am Abend ging es zum Tanz . In allen drei Sälen des Dorfes, die bis auf den letzten Platz besetzt waren, spielte die Musik.

Weinhändler Ernst Lohmeier hatte in seinem Keller einen Weinkeller eingerichtet. Nur über eine Leiter gelangte man in den Keller, wo an einer Theke der köstliche Rebensaft kredenzt wurde. Mancher wußte nachher nicht mehr, auf welchem Wege er den Keller wieder verlassen hatte.

Am Kirmesmontag war Frühschoppen des Männergesangvereins. Dort ging es hoch her und stimmungsvolle Lieder erfreuten die Gäste und erfüllten die Gassen des alten Dorfes mit frohem Klang. Traurig begann der Kirmesdienstag, denn nun hieß es „Abschiednehmen“ von der Kirmes. Zunächst war Kram- und Viehmarkt am Bahnhof und in der Bahnhofsstraße. Alles, was für den täglichen Gebrauch bestimmt ist, war hier zu erwerben, dazu noch manch köstliche Naschereien. Derweil wurde im Dorf ein „Zeckel“, also ein junges Geißlein, geschlachtet und fachmännisch ausgestopft. Symbolisch stellte es das „Kemmeje Zeckel“ dar, der Spottname der Kempenicher.

In nachgemachten Richtergewändern zogen bald nach Mittag die Karnevalisten zur Wirtschaft. Nun ging es ans Kirmesbegräbnis. Unter schaurigen Gesängen setzte sich dann der „Trauerzug“ in Bewegung. Das Zicklein wurde durchs Dorf getragen und in jeder Gastwirtschaft mit Schnaps übergossen. Noch heute höre ich die Litanei, wie einen fernen, vielstimmigen Chor: „Word ihr at ön Weiwe? Üwweall als do noch net. – Word ihr at ön Spärset? Üwweall als do noch net. – Word ihr at bei Jelekerchs Grit? Üwweall als do noch net. – Und es reizten die gereizten Weiber und die gereizten Weiber reizten sie bis zum Januar, Februar, März…“

So ging der monotone Gesang fort, und das Volk stand jubelnd am Straßenrand. Im Garten der Gastwirtschaft wurde dir Kirmes begraben und im Goldbach, der damals noch durchs Dorf floß, der Geldbeutel gewaschen. Das Fleisch des „Kemmeje Zeckels“ wurde schließlich im Garten der Gastwirtschaft verzehrt.

Die geschilderten Zeiten sind inzwischen vorbei und das Maibrauchtum weitgehend verschwunden. Kaum merkbar wird der Maibaum aufgestellt, ohne Musik und ohne Resonanz der Bevölkerung. Das „Schleifen“ in der Mainacht ist anders geworden. Vieles wird beschädigt und fortgeschleppt: Blumenkästen, Mülltonnen und Verkehrsschilder. Dies kann jedoch nicht der Sinn des Brauchtums sein. Schon lange ist es her, daß der letzte „Kirmesbock“ begraben wurde. Auch den Geldbeutel braucht man nicht mehr zu waschen. Zum ersten ist der Bach verrohrt, und zum anderen Geld genug vorhanden, so daß man nicht mehr bis auf den letzten Pfennig Kirmes feiert.

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