Ehrenbürger Ferdinand Gies
Lebensskizze einer vorbildlichen All-Ahrweiler Persönlichkeit
Goethe, dieser tiefe Kenner und Deuter des Menschenlebens, hat nicht nur so nebenhin gesagt, daß die Entwicklung und Festigung der Persönlichkeit „höchstes Glück der Erdenkinder“ sei. Theodor Storm, der feine Novellist, dessen Werk immer neu „modern“ ist, schreibt in einem Gedicht an seinen Sohn väterlich mahnend, er möge seine inneren Wesenswerte bewahren, denn am Ende des Lebens habe er nur „sich selber“. D. h. nur die innerstpersönlichen Werte haben Dauer. Persönlichkeitswerte von Dauer werden durch Sammlung gefunden. Der Mensch von heute liebt aber das Gegenteil. Viele zerstreuen ihre inneren Werte so, daß sie unmöglich zu einer Entwicklung ihrer Persönlichkeit kommen können. Die aber tut uns gerade in der Gegenwart not. Zu einer rechten, fest umrissenen Persönlichkeit zu werden, ist sicher göttlicher Schöpfungsauftrag an den Menschen. Darum erfreut und stärkt uns der Anblick eines Menschen, der eine Persönlichkeit geworden ist oder zu werden verspricht. Aus allen Schichten der Menschheit, aus allen Berufen kann sie hervorgehen.
Der 87jähr. Malermeister Ferdinand Gies entstammt einer alten Handwerkerfamilie. Sein Großvater, ein naher Verwandter des der älteren Generation noch wohl bekannten Lehrers Gies, ist in Walporzheim geboren. Er arbeitete nach beendigter Lehre längere Zeit als Gehilfe in Köln, von wo er sich die junge Meisterin mit an die Ahr brachte. Um das Jahr 1840 machte er sich in Ahrweiler selbständig. Sein Sohn Daniel Josef Gies erhielt die handwerkliche Schulung zunächst durch den Vater, bildete sich dann aber wie der Vater in Köln weiter aus. Er brachte sich nicht wie der Vater eine Kölnerm mit, sondern heiratete eine Ahrweiler Winzerstochter. Das vom Vater übernommene Geschäft erhielt durch Arbeiten in dem nach Entdeckung der Quellen urn die Jahrhundertwende bald aufblühenden Bad Neuenahr und dem nicht weniger rasch wachsenden Apollinarisbrunnen starken Auftrieb. Im öffentlichen Leben wurde Josef Gies als langjähriger Vorsitzender des Ahrweiler Kriegervereins und Mitglied des Kirchenvorstandes bekannt.
Von seinen fünf Söhnen erlernte der älteste, unser Meister Ferdinand Gies, wie später noch zwei Brüder, das Handwerk des Vaters. Der Besuch einiger Privatmalerschulen, besonders der rühmlich bekannten Kunstgewerbeschule der Stadt Köln, die Beschäftigung als Volontär und Gehilfe in größeren Malergeschäften der Städte Köln, München und Stuttgart gaben ihm jene Grundlage, die ihn zu dem werden ließ, was er geworden ist: Ein Meister im umfassenden Sinn dieses Wortes. Bei den „Giese“ handelte es sich seit je nicht nur um das Handwerk als Broterwerbsquelle. Wir bemerken bei ihnen, und so auch bei Ferdinand Gies, ein Hinüberstreben des Handwerklichen zum Künstlerisch-Kulturellen, ein Hin- und Herwirken der Kräfte und Interessen, wie wir es so umfänglich im Handwerkertum des Mittelalters finden. Nicht nur der Besuch mehrerer Privaimalerschulen, der Kölner Kunstgewerbeschule, zeigt uns das. Es ist auch nicht nur der Drang nach beruflicher Kenntniserweiterung durch jahrelange Abwesenheit vom Vaterhaus und durch Arbeit in fernen Städten, es ist da noch etwas anderes, was wir sehen müssen.
Wer mit Ferdinand Gies spricht, in ein wirkliches Gespräch kommt, das ja mehr ist als der Austausch von Alltäglichkeiten, der lernt einen Interessen- und Wissenskreis von außerordentlichen Maßen kennen. Der wird es hier wieder mit tiefer Freude bestätigt finden, daß Bildung letzten Sinnes frei von allen Abstempelungen und Etikettierungen, eine Sache wahrer Persönlichkeitsentwicklung ist, die in der Hand eines jeden Menschen liegt. Gewiß hat Ferdinand Gies, wie seine Vorfahren, manches Haus innen und außen angestrichen. Indessen hat die Farbe, die er hierbei brauchte, sein ganzes strebendes Menschentum angeregt und weiter geführt. Was für Kunstwerke hat er auf seinen handwerklichen Fahrten gesehen! Und wie hat er sie gesehen! Und wie hat er sie immer tiefer sehen gelernt! Ob die Pinakothek oder Glyptothek Münchens, ob die Museen Kölns — so haben die mittelalterlichen Handwerksgesellen arbeiten, sehen und schaffen gelernt. Jenes Meister-, Gesellen- und Lehrbubenvolk, das eine ganze Schöpfung einmaliger Formung durch Jahrhunderte schuf! Und noch etwas müssen wir uns hier klar machen: dem Zug der Allgemeinbildung, der damals lebte, ihm begegnen wir auch schon früh in Meister Ferdinand. Opern und Konzerte besuchte er, wo sich ihm nur eine Möglichkeit bot. Welche Mozartoper kennt er nicht! Vor Jahrzehnten schon erlebt er die viel umkämpfte und immer neu siegreiche Welt Richard Wagners.
In Italien läßt er manches Glas kostbaren Weines stehen und geht stundenlang durch Kirchen und Museen. Ob Gewölbe-, ob Glasfensterkunst, ob Portal oder Orgel — seinem Auge entgeht nichts. So reift ein Mensch, eine echte, vorbildliche Persönlichkeit!. .. Da brauchen wir nicht zu staunen, daß er heute mit bewunderungswürdiger Ruhe echten Alt-, das heißt menschlichen Reifgewordenseins sagt: „Goethes Faust habe ich immer in meiner Nähe liegen. Ich halte ihn neben der Bibel für das bedeutendste Buch.“ Und der Verfasser dieser Zeilen wunderte sich auch nicht, als er von Ferdinand Gies bei Erwähnung einer Stelle aus dem Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller von ihm hörte: „Ja, ich entsinne mich der Stelle gut! Ich habe diesen Briefwechsel mehrfach gelesen!“
In seiner 70|ähngen Berufstätigkeit war der bedeutendste und interessanteste Auftrag die ornamentale Ausmalung bzw. die Wiederherstellung der mittelalterlichen Bemalung der Deckengewölbe in der Ahrweiler St. Laurentius-Pfarrkirche, den er gemeinsam mit seinem auch noch in Ahrweiler lebenden Bruder Johann Gies ausführte. Bei der kunstgeschichtlichen Bedeutung der Ahrweiler Stadtkirche unterstanden diese Arbeiten dem damaligen Provinzialkonservator Prof. Clemen, sowie seinem Assistenten und späteren Nachfolger Renard. Sogar der Landeskonservator der damaligen Reichshauptstadt Berlin besichtigte und begutachtete einmal die Erneuerungsarbeiten.
Ferd. Gies erlebte auch die Entstehung und Entwicklung der Dr. von Ehrenwallschen Kunstanstalt vom ersten Neubau 1881/82 als Lehrling und Gehilfe bei seinem Vater und dann als selbständiger Meister. Und heute genießt wieder sein Sohn das Vertrauen der Leitung dieses großen und bedeutenden Unternehmens. Materialmangel warf Ferdinand Gies gegen Ende des Krieges 1914/18 für mehrere Jahre aus seinem Beruf. Drei Jahre sehen wir ihn in der sogenannten „Kornstelle“ des Landratsamtes zu Ahrweiler, drei Jahre in der Buchhaltung der „Ahrtalbank“. Über ungenügende Verwendungsmöglichkeiten kann da niemand klagen. Aber noch mehr, Ferdinand Gies wurde ehrenamtlicher Zeichenlehrer an der vom Katholischen Gesellenverein eingerichteten, von der Ahrweiler Bauhandwerkerinnung und später der Stadt weitergeführten „Fortbildungsschule“. Er wurde Mitglied des Meisterprüfungsausschusses für das Malerhandwerk in Koblenz. Er wurde Stadtverordneter und Beigeordneter, Mitglied des Kirchenvorstandes und Gerichtsschöffe. Doch selbst hiermit ist diese Liste nicht erschöpft.
Das Lebensbild dieses schätzenswerten und in seiner Vaterstadt wahrhaft hoch geschätzten und verehrten Mannes wäre unvollständig, erwähnten wir nicht den verborgenen Musiker in ihm. Von jungen Jahren an hat er gesungen, später Geige und Bratsche gespielt. Über 50 Jahre war er im Kirchenchor, mit Johannes Müller befreundet. Ja, er hat ihn oft als Dirigent vertreten, wenn Müller selbst an die Orgel mußte. 1892 wurde Ferdinand Gies Leiter des „Quartettvereins Ahrweiler“, dessen Konzerte 40 Jahre unter seiner Dirigentschaft standen. Dann wurde er Ehrendirigent und sprang immer wieder helfend ein, wenn der Verein nach ihm rief. Als Bratschist war er viele Jahre Mitglied des „Stadt. Orchestervereins“. Selbstverständlich ist dieser vielseitige, unentwegt tätige, strebende Bürger der alten Kreisstadt dem „Mittelpunktsverein“ seines geliebten Alt-Ahrweiler von je tief verbunden, der St. Sebastianus-Schützengesellschaft. 1900 trat er in ihr Elitekorps ein und wurde schon im Jubeljahr 1903, dem Jahr des 500jährigen Bestehens dieser weithin bekannten Gesellschaft, zum Mitglied des Verwaltungsrates und Fähnrich gewählt. 1930 wurde er Schützenkönig und 1935 nach dem Tode des Chronisten Geh. Rat Dr. von Ehrenwall dessen Nachfolger. Ferdinand Gies ist ein wirklicher „Sebastianer“. Seine Geschichtskenntnis und seine Vortragskunst haben manchen Mann vom Fach in Staunen gesetzt. Besinnliche Klugheit, tiefe Herzensbegeisterung vereinen sich hier, wie auch der Beitrag im Kreisjahrbuch für 1954 aus seiner Feder erneut bezeugt. Zum guten Ende ist noch zu sagen, daß die Ortsgruppe Ahrweiler des Eifelvereins bei ihrer 50-Jahrfeier 1954 Herrn Gies als Jubilar ehren konnte. Auch hier ist er seit langem Vorstands- und Ehrenmitglied. Wenn wir nun noch bedenken, daß Meister Ferdinand seit einigen Jahren als 2. Vorsitzender im „Heimatverein Alt-Ahrweiler“ tätig ist, haben wir dieses reiche, inhaltvolle Leben im Geiste durchschritten. Wahrhaft ein Ehrenbürger der Kreisstadt Ahrweiler!