OB WOHL DIE BERGE NOCH STEHN?
Ein Gedenkblatt für den Priesterdichter Ernst Thrasolt
von Dr. Dr. Walther Ottendorf-Simrock
Ob wohl die Berge noch stehn
herum um den lieben Ort,
und die Stürme vorübergehn
wie an einem stillen Port,
ob die Kinder noch auf den Gassen
spielen und still dann stehn
und sich an den Händen fassen
und nach meinen Fenstern sehn,
wird mich wohl noch einer lachen
so freundlich an? —
Wie zu alten, vertragenen Sachen
gehör ich vergeßner Mann.
Ernst Thrasolt Priester und Dichter
Diese Verse sind einem „Heimweh“ überschriebenen Gedicht entnommen. Josef Matthias Tressel – als Ernst Thrasolt ist er in die Dichtung eingegangen – hat sie in Erinnerung an Heimersheim und seine dortige Kaplanszeit im Jahre 1906 niedergeschrieben. Aber auch andere Gedichte Thrasolts halten die Erinnerung an die Ahr= und Eifellandschaft unseres Kreises und an ihre Bewohner in jener Zeit vor nun mehr als fünfzig Jahren wach. So dichtete Ernst Throsolt im gleichen Jahre ein „Ahrlied“, das, nach der volkstümlichen Weise „Dort tief im Böhmerwald“ gesungen, zwar heute weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen ist. Immerhin verrät das Gedicht, das wohl zu seinen ersten überhaupt gehört, in so manchen Wendungen bereits den späteren eigenwilligen Former und Gestalter.
Und wie fein hat der Dichter das Phänomen der im Sommer „blühenden“ Ahr beobachtet :
Die Ahr rauscht laut und leis
und treibt in Blüten weiß . .
Mit Recht haben daher die Herausgeber des damaligen „Heimatkalenders für den Kreis Ahrweiler“ Thrasolts „Ahrlied“ im Jahre 1927 nochmals abgedruckt, nachdem es bereits zwei Jahrzehnte zuvor die Druckerei Kirfel in Ahrweiler zum ersten Male veröffentlicht hatte. Sie folgten hierbei wohl einer Anregung des damals in Sinzig als Pfarrer wirkenden, später auch als Mitherausgeber des Kreiskalenders tätigen, bekannten Literaturhistorikers Johannes Mumbauer.
Literarisch gewichtiger als Thrasolts Ahrlied ist zweifellos sein Gedicht „Eifeldörfer“. Es gibt den Eindruck wieder, den der Dichter von den unserem Kreis zugehörigen Dörfern Nieder» und Oberheckenbach gewonnen hatte, als er sie bei einer Wanderung besuchte. Das Gedicht „Eifeldörfer“ ist eines der bekanntesten des Dichters überhaupt geworden und in viele Schullesebücher übergegangen:
Zwischen den Bergen fand sich noch Raum
für Häuser und steinige Felder;
unten ein schmaler Wiesensaum,
drüber Wälder und Wälder.
Strömender Heid= und Wacholderduft,
Kiefern im Wind sich bauschend,
Sonnenschein und Blütenduft, Bäche,
stürzend und rauschend.
Kleingehörntes, mageres Vieh
weidet an buschigen Hängen,
hagere Hirten hüten sie
mit fremden, ernsten Gesängen.
Drunten schleift und kreischt ein Rad,
still sinnende Menschen reuten.
Hinaus führt ein halsgefährlicher Pfad
in die Welt und zu reichen Leuten.
Aber Ernst Thrasolt, der am 12. Mai 1878 in Beurig bei Saarburg als Nachfahre alter Bauern= und Handwerkergeschlechter geboren wurde, ist weit mehr als ein Heimatdichter. Gewiß, er hat sich zeit seines Lebens seiner moselfränkischen Heimat besonders eng verbunden gefühlt und als schönes Zeugnis seiner Heimatliebe unter dem Titel „Behaal meech liew“ 1922 in Berlin eine Sammlung saar=mosel=fränkischer Dialektgedichte veröffentlicht. Thrasolts eigentliche Bedeutung liegt aber unzweifelhaft in seiner religiösen Lyrik. „Die hohe, fast erdrückende Doppelberufung zum Künstler= wie zum Priestertum war an ihn zugleich ergangen“, so hat Gabriel Pfeill es einmal ausgesprochen. Um die Ausprägung seiner christlichen „Form“ im dichterischen Wort hat er mit letzter Hingabe während seines ganzen Lebens gerungen. Im Jahre 1908 veröffentlichte er den Gedichtband „De profundis“, der in weiten Volkskreisen stärkste Beachtung fand. Damals grüßten ihn Männer wie Carl Muth als starken Mitstreiter in dem Kampf, der in jener Zeit um die Befreiung der katholisch geprägten Dichtung aus einer gewissen Enge entbrannt war. Aber sicherlich gab es auch Stimmen, die dein Priester sein Dichtertum verargten und die den Beruf des Seelsorgers und den des Dichters für nicht vereinbar hielten. Unbekümmert um solche Kritik ging Ernst Thrasolt, der seit dem ersten Weltkriege, ähnlich wie sein Freund Carl Sonnenschein, „als eine Art Wüstenprediger“ in der Reichshauptstadt wirkte, seinen schweren Weg. Auch ein weiterer Gedichtband aus seiner Feder, „Witterungen der Seele“, trägt das unauslöschliche Siegel des Religiösen und läßt erkennen, daß Thrasolt seine große künstlerische Begabung in das priesterliche Werk hineingeopfert hat.
Handschriftprobe
Die „Unruhe zu Gott“ findet wohl ihren erschütterndsten Ausdruck in den „Gottliedern eines Gläubigen“ (1921). Der erste Teil dieses Gedichtbandes steht im Zeichen der Gottesferne und Gottesflucht:
Ich floh vor dir —
und immer, immer folgtest du, und liefest du vor mir.
Und kam ich müde dem Asyle nah,
darin ich vor dir mich sicher wähnte,
warst du schon da, saßest du da.
Und abends schlössest du ab meine Tür,
und rührt‘ im Bett ich mich, stieß ich an dich,
und du lagst mir zur Seite die ganze Nacht,
und bin ich, vor dir bangend, morgens aufgewacht,
warst du der erste stets, der grüßte mich.
Ich floh und floh, und tauchte in des Bechers trunkne Lust,
und dein Bild starrte an mich von dem bitteren Grund — — —
und immer warst du da:
Gott, Gott!
Und doch: Die ewige Flucht vor Gott gelingt dem Dichter nicht. Er kann von seinem Ursprung nicht los und muß bekennen:
Ich lachte, fluchte dir und schwor dir Spott,
und jedes frechen Wortes, jedes Fluches
Nachhall war Gott, Gott!
Inmitten des Ringens mit Gott und der Flucht vor ihm erhebt die Sehnsucht ihre Stimme und fleht um ein „Zeichen“, „daß du Gott noch bist“, und ganz leise und zaghaft noch keimt der Glaube auf: „Am Ufer deiner ewigen Unendlichkeit wandle, irre ich und suche dich.“
Der Herr schickt das „rettende Leid“. Das tiefste Leid wird dem Dichter zur höchsten Gnade. Als ihm „aller Boden unter den Füßen weggezogen“, als nichts „von den alten, blühenden, blinkenden Dingen“ der Erde geblieben war, als „ein Bettler selbst seinen Namen nicht mehr in den Mund nehmen wollte“, da fühlt er Gottes helfende und hallende Hand die seinige ergreifen, und die nun in ihn hinüberströmende Kraft läßt ihn in letzter Stunde die göttliche, alles recht fügende Führung hellsichtig erkennen:
Du rettest, Herr, indem du ganz zugrunde richtest
den alten Menschen und sein altes Leben,
und du erneust, indem du ganz vernichtest
die alte schlimme Welt.
Du stürzest ihn hinab ins leerste Nichts, wo deine Hand
nur ist, in die er fällt,
und die im fall ihn auffängt und ihn hält,
ihn aus dem Nichts und tiefster Tiefe zu erheben
nach deinem harten, harten gütigen Rat
in neuer Schöpfungstat.
Alles Übrige ist nun Dank und Gebet:
„Halt mich!“
Ich weiß: nun halt ich ewig bei dir aus, oder ich geh
von dir und kehre nie, daß ich dich wiederseh.
Den Balken schieb, Herr, vor das Tor,
den Graben zieh ums Haus,
halt mich bei dir mit Küssen und mit Ketten
und laß mich nie mehr in das fremde Land hinaus:
sein Boden sind nur brandberußte Trümmerstätten,
sein Himmel ist nur tag= und sternenloser Graus —
verflucht sei alles Land, in welchem kein Gott ist,
in dem du, Herr, nicht bist.
Solche Strophen bilden unstreitig den Höhepunkt von Thrasolts lyrischem Schaffen sie, sind vielleicht Gipfelgedichte der religiösen Lyrik überhaupt. Thrasolt erblickt mit der Hellsichtigkeit des Dichters in dem politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Chaos der Zeit zu allererst den Zusammenbruch der neueuropäischen, gottentfremdeten Kultur. Angesichts dieses sittlichen Zusammenbruchs tut uns vorläufig nichts mehr not als die Erkenntnis unseres Abfalls von Gott und das demütige Bekenntnis dieser unserer Verirrung: die Gesinnung der Buße und Zerknirschung. Als erster Dichter der Gegenwart hat Thrasolt mit dem Ungestüm und der Wucht leidenschaftlichen Erlebens gerade das Gefühl der Schuld zum Ausdruck gebracht und damit alle menschliche Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit in Trümmer geschlagen.
Thrasolts Wirken beschränkte sich indessen nicht auf das Gebiet der Dichtung. Er war — lange vor dem ersten Weltkrieg — einer der ersten, die den Wert der Jugendbewegung klar erkannten und sich bewußt in ihren Dienst stellten. In den von ihm begründeten und herausgegebenen Zeitschriften „Heiliges Feuer“ und „Vom frohen Leben“ rief er das Volk auf, sein Leben in christlichem und deutschem Geiste zu gestalten. In der Zeit der Unterdrückung kämpfte er mutig gegen die Gewaltherrschaft und ließ dem protestierenden Wort die Tat folgen, indem er verfolgte Juden in seinem Hause versteckte und mit Lebensmitteln versorgte.
Als Ernst Thrasolt am 20. Januar 1945 im St.=Hedwigs=Krankenhaus in Berlin nach schwerer Krankheit die Augen schloß, vollendete sich ein Leben, das erfüllt war von ungewöhnlichen Kämpfen, Leiden und Überwindungen. Leben und Werk dieses Dichters sind mehr denn je auch für unsere Zeit beispielgebend und dürfen nicht schon jetzt in Vergessenheit sinken. Diese Zeilen möchten zu ihrem bescheidenen Teil dazu betragen, das Andenken an den großen Priesterdichter unseres Landes wieder ins Bewußtsein zu heben.
Über der religiösen Dichtung, die selbstverständlich im Mittelpunkt des Schaffens Thrasolts steht, wollen wir auch den treuen Freund unserer Ahrheimat nicht vergessen, der entlang der Ahr und über die Berge der Eifel gewandert ist und etwa in dem Gedicht „Hochgang“ unser Eifelland anschaulich gezeichnet hat:
Ein Pfad aus blauem Schiefer,
von blühender Heide umbraunt,
grün säumt ihn Kiefer an Kiefer,
ein Windhauch raunt und raunt.
Und Sonne und Schatten von Zweigen
wechseln dir übers Gesicht.
Still schreitest du hin durch das Schweigen,
durch der Höhen Luft und Licht.
Die Täler drunten wie Särge
voll Nebel und Schwäche und Not,
rund hoch die Felsenberge
sonnenumloht.