Wie Gottes Gnadentau in die Eifelberge kam
In jenen Jahren marschierte von Trier herauf über Bitburg und Oos in einer kaltwindigen Septembernacht eine Kohorte der m Köln stationierten Legion, ich glaube, es war die neunte oder siebzehnte im Reich. Die etwa sechshundert Soldaten kamen eben von einem ehrenhaften Kommando zurück, das sie auf ein Jahr in die umbrischen Berge auf einen der größten Exerzier= und Übungsplätze des weiten Imperiums geführt hatte, wo sie zusammen mit Kameraden von allen durch Barbaren gefährdeten Grenzstrichen an der neuartigen Steinschleuder des Senators Marius Scoparius ausgebildet worden waren, um auch die in ihren festen Lagern, Kastellen und Wachttürmen verbliebenen Hüter des römischen Friedens an den langen Grenzen mit der Bedienung und Handhabung dieser weittragenden Wunderwaffe vertraut machen zu können. Der Kaiser hatte sogar die ersten Modelle des Scopariusgeschützes der Kölner Abordnung mit auf den langen, beschwerlichen Rückmarsch gegeben, um die Colonia Claudia Agrippinensium Divitia ganz besonders vor germanischen Überfällen zu sichern. Die Legionäre würdigten dies Vertrauen ihres Kaisers und nahmen im Gedanken an die neidischen Gesichter ihrer am Rhein verbliebenen Kameraden beim Heimzug der Heimkehrer mit der neuen Kaiserwaffe freudig die Beschwerden des mühsamen Marsches durch die rauhen Berge auf sich. Sicherlich, Schwert, Helm und Brustpanzer, Schnappsack und Beinschienen drückten erbärmlich, aber ihr Kommandeur hatte im Sattel nicht vergessen, wie es sich zu Fuß geht, und gewährte gern und oft ein Ordnungshalt, manchmal an einer Straßengabel, manchmal bei einer Posthalterei oder an einer in Stein gefaßten Quelle, seltener bei einer Villa oder gar in einem Ort, in dem es Wein und Mädchen gab. Auch jetzt, die Marschsäule näherte sich gerade Marmagen, ertönten die knappen, schneidenden Kommandos, die vom Nachtwind zerschnitten und in die Dunkelheit entführt wurden. Die Bremsen an den Scopariusgeschützen quietschten, Pferde wieherten und schnaubten, Waffeneisen schlug gegeneinander, wenn sich die müden, gepanzerten Centurionen ins Gras legten, um ihre Füße von der Last, die sie im Namen des Kaisers zum Schrecken der Barbaren durch die Provinzen des Imperiums trugen, zu befreien.
Unter denen, die klirrend zur Erde fielen, war auch der Centurio Mandubracius aus einem Dorfe im cisalpinischen Gallien, der während des letzten größeren Aufenthaltes in der Civitas Dividorum eine Liebschaft gehabt hatte, die viel mehr zu sein schien als eine übliche Soldatenliebschaft von der Dämmerung bis zum Trompetensignal am Morgen. Claudia, so hieß das Mädchen aus Divodurum, dem heutigen Metz über der Mosel, hatte ihrem Liebsten Mandubracius beim Abschied die Taschen mit Haselnußkernen gefüllt, und der verliebte und träumerisch dreinschauende Mandubracius knabberte schon während des dreitägigen Marschierens an seinen Claudiavorräten. Nun griff er wieder vor sich hinlächelnd in seine rechte Hosentasche, um, wenn nicht ihre Nähe, so doch die ihrer Geschenke der Zuneigung zu suchen. Aber so genau er auch die Tasche durchstöberte, er fand keinen Claudiakern mehr und wurde sehr unruhig. Schließlich erhob er sich umständlich und kramte erneut den Inhalt seiner Taschen durch. Um ganz sicher zu gehen, kehrte er zu guterletzt sogar seine Taschensäcke um, aber auch dies änderte nichts daran, daß er die Erinnerungsstücke an Claudia über dem eintönigen Marsch bis auf den letzten Kern zwischen seinen blendend weißen Zähnen zermahlen hatte.
Altenahr – Ruine Ahrburg
Nun meint ihr sicher, es gäbe eine Liebesgeschichte von Mandubracius und Claudia — aber weit gefehlt! Die beiden haben nur insofern mit der Geschichte, die ich nun weiter erzählen muß, zu tun, als daß der Centuno aus Liebe zu Claudia und ihren Geschenken bei einer Rast seiner Kohorte unweit Marmagen die Taschen umkehrte. Bei diesem Tun nämlich — er selbst merkte es wegen der Dunkelheit und seiner Aufregung um die Claudiakerne nicht — fielen einige schwarze Samen zur Erde, die sich in der Naht des Taschenfutters versteckt gehalten hatten seit jenem schweren Tag unter der Sonnenglut Umbriens, an dem die Kohorte ihre Schleudern in einem schotenknackenden Ginsterfeld in Stellung gebracht hatte. Oh, zitterten die armen Samenmännchen im nächtlichen Eifelwind! Sie versuchten krampfhaft, sich an den Grashalmen festzuhalten, um wenigstens nicht durch den grausamen Kerl, der mit vollen Backen starke Luft pustete, getrennt zu werden. Ihr aber könnt Euch denken, wie diese Versuche endeten, denn der Wind jagte aus Nordwest vom Venn herunter, und was das heißt, weiß jeder Eifeler. So trieb der Kerl die schreienden, rollenden Samenmännchen aus Umbrien wie Bälle vor sich her, hob sie über Hölzer und Steinwälle, trug sie über Bäche und holperige Wege, und wenn ihn der Übermut packte, warf er sich hoch in die Luft, um sie mit ihren Köpfen gegen einen hartrindigen Baumalten zu schleudern, daß sie besinnungslos zu Boden fielen. So kam eines der Männchen ins Ahrgebirge, eines an den Laacher See, ein anderes in die Mauerreste der Blankenheimer Villa und wieder ein anderes wurde bis über die Maare hinunter zur Mosel gejagt. Als es kälter wurde, krochen sie in ein Erdspältchen oder deckten sich mit etwas wärmendem Lehm zu, so daß alle gut über den Winter kamen, bis auf das Blankenheimer Männchen, das einfach erfror unter dem Eishauch des Nordsturms.
Im Frühjahr, als die Sonne die letzten Schneefetzen geschmolzen und das Erdreich angewärmt hatte, trieben die Samenmännchen Keime und schickten Stengel zur Oberwelt, scharfkantige Stengel, angefüllt mit Blattgrün, damit sie durstige Blätter sparen und doch aus der Luft atmen und essen könnten, ohne zuviel Verdunstungs=, das heißt Schwitzsteuer an die Sonne zahlen zu müssen. Ja, und auch das taten sie: Alle begannen von sich aus die verlorenen Brüder zu suchen. Sie bildeten ihre Blüten, die sie in den ersten Jahren nur nachts öffneten, damit tags die Blumen, Tiere und Menschen nicht auf sie aufmerksam würden, mit einer Schnellvorrichtung aus, die, von einer Druckfeder getrieben, Staubblätter und Stempel hochfahren ließen, wenn die Hüllen, in denen sie eingerollt lagen und auf den Augenblick ihres Springens warteten, sich öffneten. Dies geschah durch die hilfsbereiten Hummeln und Bienen, die ohne Honiglohn den mehlartigen, goldgelben Blutenstaub in die Freiheit einer lustigen Frühlingsreise entließen. — Aber auch ihre Samensöhne, die in schwarzen Schoten heranreiften, schleuderten sie viele Meter weit fort, um sie demselben Eifelwind anzuvertrauen, der sie selbst damals so unsanft herumgejagt hatte, als sie noch durchwärmt und verschlafen aus der Tasche des Centurio Mandubracius gefallen waren. So durchwanderten die Kinder und Kindeskinder das Land von der Maas bis an den Rhein, umstanden dichtgedrängt die Kraterseen, erkletterten die kahlen Felshänge im Tal der springenden Ahr, sonnten sich an der Kyll und Lieser ebenso wie auf den Hochflächen des Nordens gegen das niedere Land und in den Trogmulden der Schneeifel. Wenn sich zwei Reisegruppen trafen, so fielen sich die einzelnen Samenkinder um den Hals und weinten vor Freude, um gleich die große Fahrt fortzusetzen. — Schließlich hatten sie das ganze Ardenner= und Eifelland besetzt, so daß sie eine Sprechkette bilden konnten zwischen ihren Marmagener Ahnherren; auf der wiederum gelangte der letzte Wunsch der Alten an die weit verstreut wohnende Großfamilie: Alle Kinder umbrischen Samens, so lautete der weitergegebene Wunsch, möchten all ihre Kraft und Dankbarkeit, Wärme und Freude, all ihren Prunk und all ihre Pracht, da sie es schon nicht in Worten vermöchten, doch in Farben in die Welt hinaussingen. Und da es ein gewaltiger Dankeschoral in Farben, eine Lobeshymne der hohen, freudigen Sicherheit sein sollte, in der für alle Kreatur sichtbar die Farbigkeit ins Unbegreifliche, ins Glänzend=Unerreichbare und doch Wesensnahe wachsen müsse, sollten sie goldene Kleider anlegen einmal in jedem Sonnenjahr, wenn der Wintertod überwunden wurde. So kam es, daß in einer warmen Mainacht von den Rebhügeln der windungsreichen Mosel bis vor die Tore von Aachen, von den Hügeln der Wallonei bis zum Schluchttal des Rheins die Kinder umbrischen Samens einen goldenen Teppich webten, einen Teppich, auf dessen Goldgrund die Offenbarung aller Dinge zu lesen war, der aus dem Seelengrund des Guten auf der Welt erblühte, aus der Dankbarkeit und der Liebe.
Und die Menschen der Berge sahen staunend das Wunder und suchten es zu deuten: „Der Teppich Unserer Lieben Frau“ sagten die einen, „Gottes Gnadentau“ die anderen, und sie waren recht beschämt in jedem Maimonat und taten das, was nur Beschämte tun können, sie beteten, auch ein Stück Teppich sein zu dürfen, und holten das blühende Gold in ihre Stuben als Mahnung und Quell der Kraft zugleich. Für einige kurze Wochen im Jahr war das Gute unter ihnen und gab ihnen Hoffnung. In diesen Wochen pfiffen sie fröhlich bei der Arbeit, gaben den Witwen und Waisen, segneten die Frucht auf dem Felde und schauten am Abend in das blühen= de Gold wie in das Auge Gottes. Im Monat des blühenden Goldes, im Fallen von „Gottes Gnadentau“, pries der Steinfelder Mönch Hermann=Josef die Gottesmutter wie nie zuvor, der heilige Willibrord aus Echternach schrieb genau so wie Regino von Prüm am liebsten im Ginstermonat, Gottfried von Bouillon predigte im Maimond, als das Gold auf den Bergen brannte, das Kreuz, und auch die, die ihn sonst nicht verstanden, weil er ein Welscher war, jetzt verstanden sie ihn auch, obwohl er mit fremder Zunge redete, jetzt hefteten sie das Kreuz auf ihre Schulter und zogen aus, um das Grab zu schützen. Nur wer selbst in den Bergen lebt, versteht dies ganz zu ermessen, nur er kann auch mitweben am Teppich Unserer Lieben Frau, über den die Freude des Nichtverlassenseins zu uns kommt und uns wie übermütige Kinder singen und springen und uns demütig in den Choral der Farben und Taten einstimmen läßt, den die Kinder umbrischen Samens einst wie jetzt zum Wonnemond anstimmen.