Wann erwacht der Tag
ETWAS VON DER „VOGELUHR“ UNSERER HEIMAT
Von Julius Eigner
Wann erwacht der Tag? Mit dieser Frage, deren Sinn nicht ohne weiteres erkennbar ist, wandten wir uns an einige Nachbarn. Der Bauer sagte: „Wann die Kühe gemolken werden müssen.“ Ein Geschäftsmann meinte: „Wann draußen der Sieben-Uhr-fünf vorbeipoltert“, und‘ ein ganz Gemütlicher sagte schließlich: „Wann der Postmann kommt.“ Das aber waren nicht die Antworten, die wir hören wollten, denn wir dachten an das Erwachen des Tages in der Natur, bei den Tieren, besonders den Vögeln. Im Mai machten wir uns daher auf einen ausgedehnten Spaziergang durch die Nacht, einem Gang, der zu einer wunderbaren Verzauberung wurde. Sehr bald stellten wir fest, daß zu einer Zeit, etwa wenn der Bauer aufsteht, die Vögel des Waldes schon längst ihr erstes Frühstück hinter sich haben. So erlebten wir nun die Reihenfolge ihres Erwachens früh im grauen Dämmerlicht, und wie wir den ersten Vogelliedern lauschten, erkannten wir, wie die „Vogeluhr“ des Waldes geht. Wir erlebten aber noch viel mehr, und alles zusammen war so vielfältig und fesselnd, daß wir solche Nachtwanderungen allen jenen empfehlen möchten, die sich wenigstens noch die letzte Bindung mit der Natur bewahren möchten.
Zwei helle Schläge von der Kirchenuhr hallten über das Dorf, als wir in der Dunkelheit den schmalen Fußpfad nach dem Walde suchten. Am Himmel waren noch die Sterne zu sehen, nur manchmal von lichten Wolkenfetzen verdeckt. In den Hecken am Hang schlug eine Nachtigall, und als wir im Schreiten innehielten, erklang dazwischen das Murmeln einer Quelle. Dann war es lange still. Wir erklommen gemächlich den oberen Rand des Hügels und tauchten in einer mannshohen Fichtenschonung unter. In das nächtliche Zwielicht leuchteten die goldenen Büschel des Besenginsters. Ehe sich das gewaltige Blätterdach des Buchenhochwaldes über uns neigte, schien es, als sähen wir im Osten den ersten hellen Schimmer des jungen Tages. Aber vielleicht täuschten wir uns auch, denn unter den Buchen herrschte noch immer dunkle Nacht. Als ersten Vogel hörten wir den Kauz, aber der interessierte uns nicht, denn ihn hört man ja sowieso nur in der Nacht. Dunkel und hohl klang der „huuhuuu-Ruf“ des Männchens, dem gleich danach der unheimliche „Komm-mit-Ruf“ des, Weibchens folgte. Es war eine eigenartige Melodie in dem Kauz-Duett, dem wir in dem Dunkel des frühen Morgens lauschten. Und da es uns so besonders gut gefiel, wenngleich wir dabei niemals ein gewisses Gruseln ganz unterdrücken konnten, ließen wir uns auf einen Baumstumpf nieder. Aus der Ferne hörten wir leise, zaghafte Tritte im Unterholz: ein Rudel Rotwild. Wir verharrten ganz unbeweglich, aber der Wind nahm unseren Geruch mit hinweg. Es dauerte nicht lange, da hörten wir den schreckhaften Ruf eines Tieres, eines Stückes Kahlwild, BöhBöh, und sogleich schallte es wie ein heftiger Regen durch den Wald – das Rudel flüchtete. Nach einer Weile raschelte es ganz dicht bei uns im Gras. Wir sahen zwei Mäuse, die sich pfeifend verfolgten. Der erste Wurf hat längst das Nest verlassen und sich selbständig gemacht. Es war also an der Zeit, daß die Mäuse wieder Hochzeit machten; wie sollten sich sonst auch Füchse und Eulen ernähren? Bald wurde unser Ohr von einem anderen Geräusch gefesselt. Es war ein eigenartiges, zögerndes, vorsichtiges Watscheln, durch das sich der Dachs verriet, lange, ehe wir ihn sahen. Und, was wir von ihm sahen, war nicht viel mehr als ein Schemen im Dämmerdunkel, aber es genügte, um seinen täppischen Gang zu erkennen. Er folgte dem Straßengraben und verschwand bald im Unterholz.
Dann blieb es lange still, so lange, daß es uns fast unheimlich wurde. Wir machten uns also wieder auf den Weg und schritten langsam und ohne Laut über den grasbewachsenen Waldweg. Jetzt sahen wir deutlich den ersten zarten Lichtbogen im Osten, den Vorläufer der Sonne. Der Buchenhochwald blieb zurück, wieder umfing uns eine Tannendickung. Wie merkwürdig verwandelt alles in dem ersten fahlen Morgenlicht aussieht? Die kleinen Fichten schienen viel niedriger als sonst, und zwischen ihnen stand wie ein Nachtgespenst ein einsamer Wachholder. Im nahen Gebüsch erhob sich wieder plötzliches Lärmen. Das heftige Ticken einer Amsel lag über dumpfem Getrappel, das wie das Davonstieben einer unsichtbaren Herde wirkte. Wann werden endlich die Singvögel erwachen?
In diesem Augenblick hörten wir als erstes das zarte, etwas schwermütige Lied des Rotkehlchens. Wir atmeten auf, die Nacht war vorbei. Nicht ganz allerdings, noch immer sahen wir einige Sterne an dem sich aufhellenden Nachthimmel. Es war 3.25 Uhr. Ein paar Schritte weiter, und wir hörten ein melodisches Trillern. Wir wußten nicht sogleich, wem wir es zuschreiben sollten; denn der Ton war voll und süß, so daß wir zunächst an die Nachtigall dachten. Aber an der dreifachen Wiederholung eines jeden kleinen Motivs erkannten wir die Singdrossel. Bald sahen wir sie auch, auf der äußersten Spitze einer hohen Fichte. Aus der Ferne antworteten andere Drosseln, auch eine Amsel.
Als unser Weg bald danach am Waldrand entlangführte, hörten wir Kohlmeise, Buchfink und Distelfink, dann den Kuckuck und schließlich das selige Tirilieren der Lerche, und das war, als wir einen flachen, steinigen Hang erreicht hatten, den einige kleine Felder bedeckten.
Und auf einmal schien es, als erwache plötzlich der ganze Wald. Ein Sänger weckte den anderen, und bald war es schwer, die einzelnen Stimmen zu unterscheiden. Wir lauschten dem Gartenrotschwanz, von denen es mehrere auf einem Kahlschlag gab, dann verzückt dem schönen Ruf des Pirols, wir hörten ihn zwar deutlich, konnten ihn aber nicht recht ausmachen. Dann folgten Mönchsgrasmücke, Girlitz, Goldamnier u. a. Zwischendurch ertönte das teuflische, gellende Gelächter des Grünspechtes, gleich einem harten Diskant. Und als die Sonnenstrahlen immer mehr den östlichen Horizont aufhellten, erblickten wir an einer rissigen Eiche den Kleiber, kurz darauf den Baumläufer. Beide hatten ihr Morgenlied wohl schon hinter sich, denn sie widmeten sich eilfertig der Futtersuche. Später hörten wir noch das Goldhähnchen, den Zilp-Zalp, den Baumpieper. Schließlich schmetterte mit gewaltiger Stimme der Zaunkönig sein Morgenlied. Unter den letzten, die den Morgen begrüßten, waren die Fliegenschnäpper.
Als wir nach der erlebnisreichen Nachtwanderung wieder in das Dorf zurückkehrten, sahen wir nur einen einzigen Menschen, einen Bauern. Er ging, mit den Milcheimern klappernd, in den Stall und begann seinen Arbeitstag.