45 Jahre danach: Grabstelle des Vaters in Rußland gefunden
Brunhilde Stürmer
Vor ca. 9 Jahren fand ich bei einer Schwester meines im Krieg gefallenen Vaters ein Bild von seinem Grab, das ein Kamerad seinerzeit in Rußland aufgenommen hatte. Es zeigt im Hintergrund einen Bachlauf und noch weiter zurück einen Bauernhof, vorne drei Soldatengräber mit Birkenkreuzen, die Namen in schöner Schrift. Das mittlere Grab, Bruno Kröger, ist das Grab meines Vaters, von dem die amtliche Todesnachricht feststeht: Am 27. Dezember 1943 in Sasyby gefallen und auf dem Heldenfriedhof in Kusmenzy ca. 30 km südöstlich von Witebsk beerdigt.
Das kleine Bildchen weckte in mir den Wunsch, einmal an sein Grab zu kommen. Doch es sollte lange dauern. Alle Bemühungen verliefen erfolglos. Es schien unmöglich zu sein. Doch dann kam Michail Gorbatschow und mit der Perestroika änderte sich viel.
Zum Anlaß der Silberhochzeit im Mai machten wir eine Reise nach Rußland. Wir buchten die Reise und eine Verlängerung von 4 Tagen vorab, mit Aufenthalt in Smolensk. Ein Brief an Intourist in Smolensk mit der Bitte um Genehmigung für mein Vorhaben blieb ohne Antwort, was ich als positiv wertete, da es keine Absage war. Alle unsere Freunde und Verwandten wünschten uns Glück und Erfolg und bangten mit uns, ob unsere Reise von Erfolg gekrönt sein würde.
Am 17. Mai ist es soweit. Ich nehme Maiglöckchen im Wasserglas und Erde von zu Hause mit. Wir fliegen von Köln über Berlin nach Moskau, und mit dem Nachtzug nach Smolensk. Morgens um 6.30 Uhr werden wir auf dem Bahnhof in Smolensk von Herrn Valery, unserem Dolmetscher und Mitarbeiter von Intouhst, herzlich begrüßt und von Jury, dem Fahrer, zum Hotel gebracht. Schon auf der Fahrt dorthin stellte sich heraus: Mein Brief war nicht angekommen und in die unmittelbare Nähe von Witebsk zu fahren ist leider nicht möglich. Ich bin den Tränen nahe. Herr Valery meint, man müsse den Chef fragen, der komme um 9 Uhr ins Hotel. Wir frühstücken und warten ungeduldig bis 9 Uhr. Der Chef ist nicht da. Dann kommt Herr Valery: Wir hätten Glück, er habe einen so ähnlich klingenden Ort in der Nähe gefunden. Ich weiß es aber genau, das ist nicht unser Ort, der liegt bei Witebsk. Ich renne aufs Zimmer und hole die Karten. Herr Valery stellt fest, daß unser Reiseziel in Belorussland liegt, und Smolensk hierfür nicht zuständig ist. Ich sage ihm, daß ich natürlich weiß, daß Witebsk viel näher gewesen sei, daß ich aber ganz bewußt nach Smolensk gekommen bin, weil Smolensk eine alte Stadt mit Tradition und Geschichte ist, und außerdem ein Wallfahrtsort, und ich gleichzeitig eine Wallfahrt zur Gottesmutter Smolenskaja unternehme, Witebsk hingegen nur eine Industriestadt ist. Nun geht das Bestreben dahin, eine Genehmigung für Witebsk zu bekommen, und von dort nach Kusmenzy zu fahren. Herr Valery führt vom Hotel aus ein paar Telefonate. Die Milizia von Rußland und von Weißrußland müssen eingeschaltet werden. Wir fahren alle zum Intouristbüro in die Stadt. Auch hier wieder Telefonate, dann die freudige Mitteilung: Wir können vielleicht schon morgen starten!
Drei Soldatengräber im russischen Winter:
Erinnerung und Mahnung zugleich.
Wir besuchen die Kathedrale, beten bei der Gottesmutter und stellen eine Kerze auf. In der Kirche sind viele Gläubige. Wir bleiben längere Zeit hier. Als wir herauskommen, steht Valery vor uns und sagt, daß wir sofort fahren können; die Gottesmutter hat schon geholfen. Wir nehmen die Straße Smolensk-Witebsk. Ich frage nach einem Denkmal, das ich in der Stadt gesehen habe, mit der Aufschrift »21. Oktober 1941«. Valery sagt mir, daß an diesem Tag dort 5 000 Gefangene von der SS erschossen wurden, weil sie einen Ausbruch versucht hatten. Ich habe mich geschämt. An der Straße sieht man alle 3 – 5 km Gedenkstätten für russische Gefallene. Nur ein schlichter Stein, ein Zäunchen darum, und Blumen liegen dort. Der erste größere Ort ist Rudnja. Es fängt an zu regnen. In Ljesno fragen wir einen Polizisten, wo die Straße nach Kusmenzy abgeht. Er kennt den Ort nicht. Das Wetter ist wieder besser. Kurz vor Witebsk fragt Valery noch einmal. Man kennt den Ort nicht. Dann biegt eine Straße nach links ab, sie wird erneuert. Nun kommen wir auf die Straße Witebsk-Orcha. Valery fragt an einer Bushaltestelle nach den Orten. Valery sagt uns, die beiden Orte um Kusmenzy seien noch vorhanden. Das ist eine gute Nachricht. Wir fahren weiter. Der nächste Ort ist Dymano-wa; rechts ein kleiner See, links den See sieht man nicht, dort stehen Bäume. Ich hatte mir alles gut eingeprägt für den Fall, daß wir die Karten nicht behalten dürften. Dann Podniwje, und ich schreie es förmlich: Kusmenzy 3, in kyrillischer Schrift auf dem Wegweiser. Wir biegen von der Straße ab, ein neuer Schreck! Die Straße ist kaum befahrbar, tiefe Löcher im losen Sand, das Auto setzt mehrfach auf. Jury ist ein Künstler im Fahren. Ich habe schon Angst, daß das Auto die Achsen bricht. Aber Jury scheut nicht davor, einen Graben runterzufahren, übers Feld ein Stück, und wieder auf den Weg. Ich sehe den Bach: die Ssuchodrowka. Wo kommt die Stelle, die mir vertraut ist? Rechts eine Senke, es könnte auch hier gewesen sein. Hier sind große Traktoren dabei, das ganze Gebiet trocken zu legen. Gräben und Drainagerohre. Gerade jetzt, wo ich in der Landschaft nach der beschriebenen Stelle suche. Dann kommt das Dort. Es ist Kusmenzy. Eine Frau geht auf der Straße. Valery steigt aus. Ich will auch raus, aber mein Mann hält mich zurück. Er meint es sei besser, erst einmal abzuwarten. Valery kommt zum Auto zurück. Die Frau war während der Okkupation im Dort geblieben. Die Deutschen waren dort, wo die Traktoren jetzt buddeln. Jury dreht den Wagen. Ich frage Valery, ob ich mit der Frau sprechen darf. Valery steigt mit mir aus, und wir gehen zu der Frau. Mittlerweile sind noch ein paar Frauen dazugekommen. Ich gebe allen die Hand, und sage „Strastwuitje“ (Guten Tag!) Sie erwidern meinen Gruß. Ich zeige ihnen das Bildchen. Nun geht alles drunter und drüber. Valery kann gar nicht alles auf einmal übersetzen. Man will wissen woher ich komme, wer das Bild gemacht hat, wie ich es bekommen habe, ob mein Vater Offizier gewesen ist, wie alt er war, wie wir die Nachricht bekommen haben, ob meine Mutter wieder geheiratet habe (Sie ist 1948 gestorben), und ob ich noch Geschwister habe. Aus allem höre ich, daß man mir nicht feindselig gesonnen ist, ganz im Gegenteil. Sie reden von einem Massengrab, von derartigen Einzelgräbern in einem anderen Dort, von Sasyby. Ich zittere und habe Angst, daß ich nicht mehr reden könnte. Aber ich beharre darauf, daß das Bild von Kusmenzy ist, und mein Vater liegt in einem Einzelgrab. Dann kommt eine Frau hinzu. Sie sagt, sie sei damals noch ein Kind gewesen, aber sie habe solche Gräber gesehen, und sie sei bereit, mit uns dahin zu gehen. Wir gehen die Straße runter, in Richtung Ortseingang. Es kommen andere Männer und Frauen dazu, und sehen das Bildchen. Alle sind aufgeregt, so wie ich auch. Die Frau zeigt auf einen Obstgarten zwischen dem 1. und dem 2. Haus. Dort habe sie die Kreuze gesehen. Ich kann nicht in den Garten. Er liegt etwa 2 Meter höher als die Straße, und ist mit einem Lattenzaun umgeben. Im Hof vor dem Haus sind keine Leute. Ich kann doch nicht einfach durch das Törchen über den Hof in den Garten gehen! Da kommt ein Mann vom Haus gegenüber. Er sieht das Bild und sagt: er wisse es ganz genau. Er war 13 Jahre alt, als sie wieder ins Dorf zurückgekommen sind. Dort habe er die Kreuze gesehen. Ich frage, ob man vom Feldweg, der hinter dem Haus hergeht, auf den Obstgarten kommen kann. Er geht vor, und so gelangen wir von hinten in den Obstgarten. Ich stelle fest, das kann der Ort sein.
Ein stilles, friedliches Fleckchen Erde. Die Bäume stehen in voller Blüte, eine Nachtigall singt, und unten fließt still der Bach. Heute sind an seinem Ufer Bäume. Nur, spärlich kann man durch das Laub das andere Ufer sehen. Den Bauernhof auf der anderen Seite gibt es nicht mehr. Ich stehe still, und nehme das alles in mich auf. Vollkommen überwältigt von meinen Gefühlen kommen mir die Tränen. Ich weine um Vater, den ich nie gekannt habe. Ich nehme die Erde, streue sie in Form eines Kreuzes über den Boden und nehme mir eine handvoll russicher Erde mit. Ich wäre so gerne länger hier geblieben. Man fragt mich, ob ich Blumensamen ausgestreut habe. Ich sage, daß ich Erde von zu Hause mitgebracht habe, um meinen Vater damit zu bedecken, und nehme Erde von hier mit, für das Grab meiner Mutter und seiner Mutter. Ich reiche dem Mann die Hand, und sage »Spassiba«. Er sagt, er heiße Wladimir und fragt nach meiner Mutter und mir, und daß es nie wieder Krieg geben dürfe. Er habe so viel Leid gebracht. 9 Monate sei hier die Front verlaufen. Die Bevölkerung war zum Teil evakuiert. Die Verwundeten von Sasyby wurden in Booten (Bergungsschlitten) nach Kusmenzy gebracht und in den Häusern versorgt. Die, die hier gestorben sind, wurden in dem Garten beerdigt. Es waren ein paar Dutzend. Das bedeutete für mich, daß Vater nicht sofort tot war (wie im Brief an meine Mutter geschrieben wurde), sondern schwerverwundet hierhin gebracht wurde. So weiß ich doch, daß er nicht irgendwo allein gelegen hat, sondern daß Kameraden bei ihm waren, und ihm Hilfe geleistet haben, soweit dies möglich war. Als die Bevölkerung im Nachbardorf von den Russen befreit wurde, und ins Dort zurückkam, waren ihre Häuser zerstört. Sie haben mit dem Vieh in den Bunkern der Deutschen gelebt, bis die Häuser wieder aufgebaut waren. Man hat die Kreuze entfernt, und die Bäume gepflanzt. Man wollte dort kein Gemüse mehr anpflanzen. Die Toten ließ man in Frieden ruhen. Man hat die Schlachtfelder abgesucht, und die Toten geborgen. Es war nicht mehr festzustellen, wer Freund oder Feind war. Alle sind in einem Massengrab beerdigt worden. Das blieb übrig vom schrecklichen Krieg. Im Tod sind sie friedlich vereint.
Wir sind dann zum Massengrab auf dem Friedhof am anderen Ende des Dorfes gefahren. Ein einfacher Stein in Form eines Obelisken, mit russischem Stern, den Jahreszahlen 1941-1945, dahinter, auf Platten, die Namen der russischen Gefallenen. Es waren viele (ca. 420).
Wir stehen an dem Grab, und ich sage, daß ich hier auch der russischen Gefallenen gedenken möchte, Valery steht gerade, Jury geht zur Seite. Er ist bedrückt. Als wir den Friedhof verlassen, zündet Valery sich eine Zigarette an. Es war für ihn sehr anstrengend gewesen. Er hat seinen Großvater im Krieg verloren, und sein Vater wurde sieben mal verwundet. Im Auto stehen noch die Maiglöckchen. In der Aufregung waren sie in Vergessenheit geraten. Ich überlege. An Vaters Grabstelle in dem Obstgarten muß gemäht werden. Also stelle ich sie vor den Gedenkstein, zum Gedenken an meinen Vater und alle deutschen und russischen Gefallenen. Am Ortseingang halten wir noch einmal an. Mein Mann macht noch ein paar Fotos. Wir sind alle sehr mitgenommen.
Die Rückfahrt in Richtung Orscha vergeht wesentlich schneller. 6 Stunden sind wir unterwegs gewesen, und haben 312 km zurückgelegt. Ich denke immer wieder, alles sei nur ein Traum gewesen. Die Reise nach Kusmenzy hat mir mehr gebracht, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte. Wir haben in Rußland Freunde gefunden. Danke Valery. Danke Jury. Danke Wladimir.