Zur Bedeutung der Eisenbahn für Oberwinter

Hans Atzler

Der Oberwinterer Bahnhof wurde im Laufe des Jahres 2021 völlig umgestaltet. Die alten, vertrauten Bahndächer wurden abgerissen und werden durch kleine Wartehäuschen ersetzt. Zugleich erhöht man die Bahnsteige, damit der RRX im Ort gehalten werden kann. Dieser Umbruch gibt Gelegenheit, an die (frühere) Bedeutung der Bahn für den Ort zu erinnern.

Der Bau der Eisenbahn

Die „Bonn-Cölner-Eisenbahn“ eröffnete 1856 die Bahnstrecke von Bonn bis Rolandseck. Die „Rheinischen Eisenbahngesellschaft“, die die „Bonn-Cölner-Eisenbahn“ gekauft hatte, verlängerte die Strecke bis 1858 weiter bis Koblenz. Damit lag Oberwinter an der neuen Eisenbahnstrecke.

An einer eigenen Haltestation hatten die „biederen Oberwinterer“, wie Lehrer Pfahl in der alten Schulchronik1) berichtet, zunächst kein Interesse. Die Einwohner waren überwie- gend Selbstversorger und sahen im neuen Verkehrsmittel für sich keinen Bedarf. Sie waren der festen Überzeugung, die Eisenbahn hätte keine Zukunft: „Wenn die mal acht Tage gefahren (sind), so haben sie nichts mehr zu tun“.2) Zu ihrer großen Überraschung nahm der Bahnverkehr aber schnell zu. Immer neue Eisenbahnstrecken wurden gebaut und die Zahl der Züge vermehrte sich rasch. Der Personen- und Güterverkehr wurde nicht mehr vom Eisgang oder Rheinhochwasser behindert. Und auch auf die schlecht ausgebaute Rheinuferstraße war man nicht mehr angewiesen. Der Bahntransport war zudem deutlich schneller und preiswerter. Viele Oberwinterer erkannten bald, dass es viel einfacher wäre, die schweren Weinfässer über einen eigenen Bahnhof zu versenden als den Wein über die holprige Straße mit Pferd und Wagen zum nächsten Bahnhof nach Rolandseck zu transportieren.

Der Bau eines Bahnhofs 1899

Es dauerte allerdings über 40 Jahre, bis es der Gemeinde gelang, im Ort eine Haltestelle einzurichten. Der Preis für den 1899 eröffneten eigenen Bahnhalt war hoch: Die Gemeinde musste unentgeltlich ein geeignetes Grundstück zur Verfügung stellen. Auch den zu errichtenden Fachwerkbau zwischen den Gleisen hatte die kommunale Kasse zu finanzieren. Die Ortschronik3) spricht von 34.000 Mark. Wohl aus Kostengründen wählte man daher die bescheidene Lösung eines sogenannten Inselbahnhofs, also einer Station zwischen den Bahngleisen. An einen kleinen, offenen Warteraum war der Fahrkartenverkauf für die Bahnbeamten angebaut. Zusätzlich gab es – etwas abseits – einen Abort. 1900 wurde noch ein kleiner Güterschuppen angebaut.

Einbau einer neuen Weiche in Oberwinter in den 1930er-Jahren: Weil es noch keine Maschinen gab, erfolgte die Schienenverlegung per Hand. Ein Meter Gleis wog gut 50 Kilogramm, die Schienen wurden zunächst in Fünfzehnmeterstücken gefertigt, später betrug die Länge 30 Meter.

Bau des neuen Bahnhofs 1913: Das neue Empfangsgebäude, diesmal in Stein gebaut, bezahlte die Staatsbahn.

Die Nutzung der Bahndienste im wirtschaftlich aufstrebenden Deutschen Reich stieg stark an. Das galt insbesondere für den Güterverkehr. Die inzwischen „Preußische Staatsbahn“ beschloss daher 1913, auch in Oberwinter einen größeren Bahnhof zu errichten. Das neue Empfangsgebäude, diesmal in Stein gebaut, bezahlte die Staatsbahn. Es wurde an die Provinzialstraße (heute Hauptstraße) verlegt. Zeitgleich baute man zusätzlich zwei Überholgleise. Zur besseren Verkehrssteuerung wurden zwei neue Stellwerke errichtet, eins für den Verkehr in Richtung Koblenz, das andere für den Gegenverkehr. Diese Entscheidungen waren sehr weitsichtig. Rund 100 Jahre war die Bahn damit – von vielen technischen Neuerungen abgesehen – für den steigenden Verkehr gut gerüstet.

Neue Arbeitsplätze durch die Bahn

Der Bau der Eisenbahn und der ständig wachsende Verkehr schafften im Ort viele neue Arbeitsplätze. Das galt zunächst für den Gleisbau. Die Bahn stellte Rottenarbeiter ein, um die Gleise zu errichten und zu pflegen. In Zeiten, in denen es noch keine Maschinen gab, erfolgte die Schienenverlegung per Hand. Ein Meter Gleis wog immerhin gut 50 Kilogramm und die Schienenstücke wurden zunächst in Fünfzehnmeterstücken gefertigt. Später betrug die Länge der Schienenstücke sogar 30 Meter. Alte Fotos aus Oberwinter belegen, dass noch in den 1930er-Jahren für den Wechsel einer Weiche 30 Arbeiter unter dem Kommando eines Rottenmeisters erforderlich waren. Es muss eine sehr harte Arbeit gewesen sein. Fast alle Arbeitsbewerber begannen ihren Bahndienst als Rottenarbeiter. Viele von ihnen sind bei Bewährung später aufgestiegen. Der Bahnbau zog junge Arbeitskräfte auch nach Oberwinter; einige blieben im Ort und gründeten Familien.

Im Bahnhof selbst fanden unter dem Vorsteher zwölf Männer Arbeit. Es gab Personal für den Fahrkartenverkauf, für die Fahrkartenkontrolle der Abreisenden und Ankommenden, für die Heizung und Säuberung des Gebäudes sowie Arbeiter in der Güterabfertigung. Sogar eine besondere Expressgüterabfertigung war vorhanden. Ankommende Waren mussten gelagert und dem Empfänger schriftlich avisiert werden, damit er die Ware abholen konnte. Das abgehende Stückgut wurde gewogen und in den Zug befördert. Natürlich musste auch der Frachtbrief ausgefüllt werden. Um den Höhenunterschied zwischen Hauptstraße und Bahngleis zu überwinden, gab es seit 1913 zwei Schwerlastaufzüge zu den Gleisen. Im Schalterraum konnte der Beamte, der Kursbücher der verschiedenen Eisenbahngesellschaften hatte, Reiseinteressenten die entsprechende Auskunft erteilen. Auch Gepäckträger gab es am Bahnhof. Solche Serviceleistungen kann man sich heute bei der Bahn nicht mehr vorstellen.

Stellwerkpersonal

Für die Steuerung des Zugverkehrs war zusätzliches Stellwerkpersonal zuständig. Es gab per Telegrafie oder später über ein bahneigenes Telefonnetz die erforderlichen Informationen weiter und hatte auch die Signale zu ziehen. Das ging ursprünglich über Seilzüge, die vom Stellwerk aus über einen Hebelzug betätigt wurden. Nach der Weisung aus dem Stellwerk hatten die (Ober-)Weichensteller ihre Arbeit zu verrichten. Für Eis und Schnee gab es einen besonderen Winterdienst. Immer in doppelter Besetzung mussten Schienen eisfrei und die Weichen gängig gehalten werden. Dazu benutzte man einen Stahlbesen und im Bahnhof vorgeheizte Briketts, die in die Blechpfannen unter die Weichen geschoben wurden. Alle vier Stunden musste der Winterdienst neue Briketts verteilen.4)

Schrankenwärter

In Oberwinter gab es mehrere Bahnübergänge, die durch Schrankenwärter gesichert waren. Ursprünglich hatte die Bahn in bestimmten Abständen Bahnwärter eingesetzt, die für „ihren“ Streckenabschnitt verantwortlich waren. Diese von Köln nach Koblenz durchnummerierten Posten waren in kleinen Backsteinbauten an Straßenübergängen untergebracht. Als der Bahn- und Straßenverkehr stärker wurden, mussten die Übergänge durch Schranken gesichert werden. Den drei Bahnwärtern im Ortsbereich wurde nun insbesondere das Öffnen und Schließen der Bahnschranken übertragen. Weiter mussten sie auf den Zugschluss achten, also entweder auf die rote Laterne oder die „Zugschlusstafel“. Bei nächtlicher Zugdurchfahrt schwenkten sie eine Lampe mit weißem Licht. Schließlich mussten die Schrankenwärter täglich die Haupt- und Vorsignale mit Lampen ausstatten, die zunächst mit Karbit, später mit Petroleum betrieben wurden.

Baustelle mit neuen Bahnsteigen: Am 30. April 2021 fährt der RE 5 nach Wesel in den Bahnhof Oberwinter ein.

Posten 35 war für den Übergang Mariengasse – Hardtweg zuständig. Posten 36 betätigte die Schranke Mauerstraße – Im Ellig. Daneben versorgte er eine sogenannte Anrufschranke zum Weg „Am Bergquell“. Fußgänger, die an dieser Stelle die Gleise überqueren wollten, mussten dem Schrankenwärter durch ein Klingelzeichen ihren Wunsch, die Gleise zu überqueren, mitteilen. Posten 37 versorgte die Schranke am Unkelstein zur Talstraße hin.

Da die Schrankenanlage außerhalb des Ortskerns lag, wohnte der Bahnwärter mit seiner Familie im Wärterhaus. Zu diesem Haus gehörten ein kleiner Schuppen und ein Stück Gartenland, das der Wärter bewirtschaftete. 1906 wurde diese Schranke wegen des steigenden Straßen- und Bahnverkehrs durch eine Unterführung ersetzt. Das nun freigewordene Bahnwärterhaus wurde vermietet. Die ganze Anlage wurde 1955 im Zusammenhang mit dem Bau der hochwasserfreien Schnellstraße (B9) abgerissen.

Arbeitsmarkt

Bei der Eisenbahn standen viele Oberwinterer in Lohn und Brot. Manche Oberwinterer sollen auf die „Reichsbahner“ neidisch gewesen sein, weil deren Lohn auch in Krisenzeiten gezahlt wurde.5) Wegen des festen Lohns zog die Eisenbahn zusätzliche Arbeitskräfte in den Ort. Schaut man sich die Einwohnerverzeichnisse der Jahre 1913 oder 1926 an, erkennt man rasch die Bedeutung der Eisenbahn für den örtlichen Arbeitsmarkt: Etwa zehn Prozent aller Arbeitsplätze waren „bahnabhängig“.

Die französische Regiebahn

Nach dem Ersten Weltkrieg kam es für viele Bahnbeamten zu großen Problemen. Nach der deutschen Niederlage standen dem französischen Staat hohe Reparationsleistungen zu, die auch in Kohleleistungen und in der Lieferung von Telegraphenmasten bestanden. Als das Deutsche Reich nach Auffassung der Besatzungsmacht mit den Lieferungen in Rückstand geriet, besetzten französische und belgische Truppen 1923 das Ruhrgebiet. Die Reichsregierung rief daraufhin zum Generalstreik auf. Viele „Reichsbahner“, auch solche aus Oberwinter, folgen dem Aufruf.

Um die Reparationsleistungen trotzdem befördern zu können, übernahmen die Franzosen die Reichsbahn in eigner Regie. Da sich die französischen Feldeisenbahner mit dem für sie fremden deutschen Bahnsystem aber nicht auskannten, kam es, obwohl die Züge nur auf Sicht fahren durften, zu schweren Zugunglücken. Deutsche Eisenbahner, die sich dem Streik angeschlossen hatten, wurden aus der französischen Besatzungszone ausgewiesen. Darunter waren auch Oberwinterer mit ihren Familien. Sie wurden überwiegend nach Mecklenburg verbracht. So beispielsweise die Familie des Rottenführers Anton Thelen, die es nach Zippendorf bei Schwerin verschlug.

Die Oberwinterer Ortschronik beschreibt, wie die Geistlichkeit, Lehrer und viele Freunde die Ausgewiesenen verabschiedet hätten. Für die Daheimgebliebenen sei es „Ehrensache“ gewesen, nicht die „Regiebahn“ zu nutzen, selbst wenn sie für Reisen große Umwege über die rechte Rheinseite in Kauf nehmen mussten, die nicht französisch besetzt war.

Folge des Generalstreiks war eine entsetzliche Geldinflation, da die Gehälter der vielen Streikenden nur „über die Druckerpresse“ aufgebracht werden konnten. Die ausgewiesenen Familien litten besonders unter der Inflation. Wegen der hohen Inflation gab die „Regiebahn“ sogar eigenes Geld heraus. Erst nach fast zwei Jahren, gegen Ende des Jahres 1924, durften die deutschen Eisenbahner nach Hause zurückkehren und ihre Arbeit bei der Bahn wieder aufnehmen.

Die Bahn nach 1945

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Zahl der Bahnmitarbeiter kontinuierlich verringert. Die Fahrkartenkontrolle wurde aufgegeben und der Verkauf von Fahrkarten auf Automaten verlagert. Signale und Weichen werden heute elektronisch gesteuert und die Schrankenanlagen hat man durch Unterführungen ersetzt. Schienen werden durch Gleisbauzüge aufgenommen und verlegt. Sogar das Empfangsgebäude, den Bahnhof, hat die Bahn veräußert. In Oberwinter ist, soweit ersichtlich, heute kein Arbeitsplatz mehr „bahnabhängig“. Der Personenverkehr ist für den Ort allerdings noch von sehr hoher Bedeutung.

Es bleibt zu hoffen, dass der Umbau des Bahnhofs zu einer zukunftsfähigen Anlage gelingen möge. Außerdem ist ein gepflegter Bahnhof auch eine erstklassige Visitenkarte für jeden Ort.

Anmerkungen:

  1. Ludwig Pfahl in: Chronik der katholischen Schule Oberwinter, Band 1
  2. wie Fn. 1
  3. Ortschronik Oberwinter für das Jahr 1899
  4. Weitere Informationen: H. Atzler, „ … bitte einsteigen! Oberwinter und die Eisenbahn“, „Oberwinterer Geschichte(n)“ Heft 11, Rathausverein Oberwinter, 2021
  5. Freundliche Auskunft von Frau M. Matthias