Das Ahr-Hochwasser im Juli 2021 – Die Wiederholung von 1804?

Dr. Thomas Roggenkamp

Nie hätte man mit einem solchen Hochwasser gerechnet.“ Diese oder ähnliche Aussagen hörte man entlang der Ahr oft nach dem verheerenden Hochwasser vom Juli 2021. Und tatsächlich ereigneten sich in den vergangenen Jahrzehnten keine Hochwasser, aus denen sich eine solches Ereignis hätte ableiten lassen. Gänzlich unbekannt waren den Anwohnern Hochwasser allerdings nicht und volllaufende Keller wurden für eine attraktive Lage in Flussnähe in Kauf genommen. Insbesondere das Hochwasser vom Juni 2016 dürfte den meisten noch präsent gewesen sein. Da dieses zu seiner Zeit das größte je von Pegeln gemessene Ahr-Hochwasser war, wurde es als „Jahrhunderthochwasser“ wahrgenommen und seitens des rheinland-pfälzischen Landesamtes für Umwelt auch als solches eingestuft (LfU 2016). Das Hochwasser vom Juli 2021 übertraf jenes von 2016 um ein Vielfaches. Handelte es sich also tatsächlich um ein noch nie dagewesenes Ereignis? Diese Frage soll nachfolgend behandelt werden.

Hochwasser im Ahrtal – eine unterschätzte Gefahr?

Seit 1947 werden am Pegel Altenahr Wasserstände aufgezeichnet und in Abflussgrößen umgerechnet. Unter dem Abfluss versteht man die Menge an Wasser, die pro Zeiteinheit einen bestimmten Punkt bzw. den Pegel passiert. In der Regel wird der Abfluss in Kubikmetern pro Sekunde angegeben. Die Umrechnung auf den Abfluss ist notwendig, da Wasserstände nur bedingt miteinander vergleichbar sind. So kann die gleiche Wassermenge in einem engen Talabschnitt einen höheren Wasserstand erreichen als in einem breiteren Abschnitt, wo sich das Wasser seitlich weiter ausdehnen kann. Dieser Effekt ließ sich auch im Juli 2021 beobachten. Während der maximale Wasserstand in Altenahr eine Höhe von 10 Metern erreichte, lag dieser wenige Flusskilometer weiter zwischen den Orten Rech und Dernau bei 5,90 Metern. Auf der hier etwa 400 Meter breiten Talsohle konnte sich das Wasser seitlich weiter ausbreiten als im Engtal bei Altenahr.

Die an den Pegeln erhobenen Abflussdaten fließen in die statistische Auswertung ein. Während der mittlere Abfluss im langjährigen Mittel bei Altenahr 6,9 m³/s beträgt, kann sich dieser bei Hochwasser um ein Vielfaches erhöhen. Der bisherige Spitzenwert vom 2. Juni 2016 lag bei 236 m³/s. Weitere Hochwasser der vergangenen Jahrzehnte, welche am Pegel Altenahr gemessen wurden, lagen in einem Bereich zwischen 145 und 214 m³/s. Das aus bisherigen Messungen berechnete HQ100-Ereignis, also ein Hochwasser dessen maximale Abflussgröße statistisch einmal in 100 Jahren erreicht wird, lag bei 241 m³/s (Stand vor Juli 2021).

Wohnhaus in Dernau mit Marken historischer Hochwasser (1804 und 1910) sowie den Hochwasserständen vom Juni 2016 und Juli 2021

Neben dem Pegel in Altenahr befinden sich drei weitere Pegel an der Ahr bei Neuhof, Müsch, und Bad Bodendorf. Hinzu kommen vier weitere Pegel an den Nebenbächen Trierbach, Adenauer Bach, Sahrbach und Kesselinger Bach.

Der Scheitelabfluss, welcher am Abend des 14. Juli, bzw. in der Nacht zum 15. Juli erreicht wurde, konnte allerdings nicht von den Pegeln erfasst werden. Die Pegel waren schlicht nicht ausreichend groß dimensioniert oder wurden während des Hochwassers zerstört, wie im Falle des Pegels in Altenahr. So endeten die Aufzeichnungen dieses Pegels am 14. Juli um 19:45 Uhr bei einem Wasserstand von 575 cm. Eigene Messungen vor Ort zeigten, dass auf Höhe des Pegels Altenahr ein Höchstwasserstand von ca. 10 Metern erreicht wurde. Eine Vergleichbarkeit mit bisherigen Hochwassern ist daher schwierig und eine statistische Einordnung nicht möglich.

Wenn Pegel ausfallen – Die Rekonstruktion des Abflusses

Dass die Pegel das Hochwasser vom Juli 2021 nicht erfassen konnten, erschwert den Vergleich und die Einordnung. Höchstwasserstände waren noch im Nachhinein an Hauswänden erkennbar und auch Treibgut und Schlagmarken an Bäumen zeigten den maximalen Wasserstand.

Die Untere Ahr im Bereich des heutigen Bad Neuenahr. Die im frühen 19. Jahrhundert noch verwilderte Ahr wurde im frühen 20. Jahrhundert begradigt und die Talsohle inzwischen fast vollständig bebaut.

Das Pegelhaus in Altenahr wurde am Abend des 14. Juli 2021 zerstört.

Die Aussagekraft dieser Wasserstände allein ist jedoch gering. Eine zufriedenstellende Vergleichbarkeit bietet nur der Scheitelabfluss, also jener Abfluss während des Scheitelpunktes der Hochwasserwelle. Anhand einer Rekonstruktionsmethodik, welche bereits auf historische Ahrhochwasser angewandt wurde (Roggenkamp u. Herget 2014a und Roggenkamp u. Herget 2014b), lassen sich Scheitelabflüsse einzelner Hochwasser berechnen. Solche Berechnungen konnten auch für das Hochwasser vom Juli 2021 an der Ahr sowie ihrer Nebenbäche durchgeführt werden (detaillierte Darstellung der Methode sowie Ergebnisse in Roggenkamp u. Herget 2022). In Feldstudien wurden die benötigten Parameter zum maximalen Wasserstand, dem Gefälle sowie der Topographie anhand geodätischer Einmessungen erhoben. Auch Hindernisse, die sich auf die Fließgeschwindigkeit auswirken, wurden bei den Berechnungen berücksichtigt. Die Rekonstruktionsergebnisse untermauern die Dimension des Hochwassers. Bereits bei Müsch am Oberlauf der Ahr lag der Scheitelabfluss zwischen 500 und 650 m³/s (2016 wurden hier 132 m³/s registriert). Insbesondere durch die nördlichen Nebenbäche wurden weitere erhebliche Wassermassen eingebracht und ließen den Scheitelabfluss im Raum Rech/Dernau auf 1030 bis 1230 m³/s ansteigen. Der bisherige Höchstwert vom Juni 2016 wurde um das Fünffache übertroffen. Während die südlichen Bäche Trierbach (60-80 m³/s) und Adenauer Bach (70-90 m³/s) vergleichsweise geringe Abflussmengen erreichten, verzeichneten der Ah-Bach (240-305 m³/s), der Armuthsbach (180-225 m³/s) und der Sahrbach (155-195 m³/s) erstaunlich hohe Abflusswerte und ließen den Abfluss der Ahr entsprechend ansteigen.

Nie dagewesen? – Ein Blick in die Hochwasser-Historie

Wurden also tatsächlich völlig neue Dimensionen von Hochwassern im Ahrtal erreicht? Waren es anthropogene Einflüsse samt des menschengemachten Klimawandels, die ein solches Ereignis überhaupt erst ermöglichten? Die Pegelaufzeichnungen legen diese Vermutungen zunächst nahe. Blickt man jedoch in die Zeit vor der Installation erster Pegel im Ahrtal, so finden sich verschiedenste Quellen zu historischen Hochwasserereignissen an der Ahr: Schriftliche Berichte, die bis in das Spätmittelalter zurückreichen (Seel 1983), Hochwassermarken, die die Wasserstände der Hochwasser von 1804, 1888, 1910, 1918 und 1920 anzeigen und sogar alte Fotoaufnahmen, welche das Hochwasser von 1910 in den auch damals überfluteten Straßen von Bad Neuenahr dokumentieren.

Im Zuge früherer Untersuchungen wurden die Scheitelabflüsse dieser historischen Hochwasser rekonstruiert (Roggenkamp u. Herget 2014a und 2014b). Während die Hochwasserereignisse der Jahre 1888, 1918 und 1920 ähnliche Größenordnungen wie das Hochwasser von 2016 aufwiesen, lag der Scheitelabfluss des Hochwassers vom Juni 1910 mit 450 – 650 m³/s deutlich darüber. Dieses Hochwasser ist ebenfalls auf anhaltenden Starkregen zurückzuführen und sorgte am Morgen des 13. Juni 1910 für erhebliche Zerstörungen entlang der Ahr und forderte 52 Todesopfer (Janta u. Poppelreuter 2010). Nochmals deutlich übertroffen wurde dies vom Hochwasser des 21. Juli 1804. Dieses erreichte einen Scheitelabfluss von etwa 1200 m³/s und belegt, dass die Ahr bereits in vorindustrieller Zeit extreme Abflusswerte ähnlich wie im Sommer 2021 erreicht hat. Auch das Ausmaß der Katastrophe ähnelt dem des Juli 2021. Zahlreiche Ortschaften wurden verwüstet, Häuser zerstört und 63 Menschen starben in den Fluten. Auch dieses Hochwasser entstand durch anhaltenden Starkregen und bildete sich insbesondere aus den Nebenbächen am Oberlauf (Frick 1955).

Während die Informationen bisheriger Pegelmessungen noch die Vermutung zuließen, es handle sich beim Hochwasser vom Juli 2021 um ein einmaliges und gänzlich neues Ereignis, wird dies durch den Blick in die Historie relativiert. Nicht als einmaliges, sondern als seltenes Hochwasser muss es eingestuft werden.

Das Einzugsgebiet der Ahr mit den Standorten der Pegelstationen

Juli 2021 – Die Wiederholung von 1804?

Die Rekonstruktionen vergangener sowie des jüngsten Hochwassers zeigen, dass die Hochwasser von 1804 und 2021 einen vergleichbaren Scheitelabfluss erreichten. Auch hinsichtlich der niederschlagsbedingten Entstehung sowie der katastrophalen Folgen für die Menschen im Ahrtal zeigen sich Parallelen. So weckt eine Zeichnung von Nicolas Ponsart, welche nach dem Hochwasser von 1804 entstand, auch Erinnerungen an die Bilder des Hochwassers von 2021.

Bei aller Ähnlichkeit der beiden Hochwasserereignisse hat sich das Bild des Ahrtals zwischen dem frühen 19. Jahrhundert bis heute grundlegend verändert. Zwar existierten die meisten der heutigen Orte bereits, doch waren diese noch deutlich kleiner und bestanden oft nur aus wenigen locker bebauten Straßen. Insbesondere ab Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl deutlich an und die Orte dehnten sich entsprechend aus. Besonders deutlich wird dies am Unterlauf der Ahr. Im Bereich zwischen Ahrweiler und Heimersheim ist die Talsohle heute fast vollständig bebaut. Die Ahr, welche hier natürlicherweise ein verwilderter Fluss mit dynamischen Laufverlagerungen und Seitenarmen ist, wurde begradigt und die Ufer befestigt, um diese Mobilität zu verhindern.

Während die Hochwasserwelle 1804 im dünn besiedelten Ahrtal freien Raum hatte, traf die Hochwasserwelle 2021 auf eine weitgehend bebaute Talsohle. Diese Bebauung nahm dem Wasser Raum, wodurch sich der Wasserstand zusätzlich erhöhte. Trotz ähnlicher Wassermengen wie 1804, wurden somit in bebautem Gebiet höhere Wasserstände erreicht. Deutlich wird dies an einem Wohnhaus in Dernau, welches neben den Wasserständen von 2016 und 2021 auch jene von 1804 und 1910 in Form von Hochwassermarken anzeigt.

Fazit

Die sukzessive Bebauung der Talsohle, insbesondere am Mittel- und Unterlauf der Ahr, hat die Vulnerabilität stetig erhöht. Der fehlende Platz, den die Ahr bei Hochwasser beansprucht, führte zu überhöhten Wasserständen in den Orten und hat ihren Teil zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen. Auch wenn ein Rückbau der Orte nicht realistisch ist, so sollten vorhandene Freiflächen im Überflutungsgebiet vor weiterer Bebauung geschützt werden.

Baum in Ufernähe zwischen Rech und Dernau mit Schlagmarken durch Treibgut sowie Ablagerungen in den Zweigen als Wasserstandsanzeiger

Der Blick in die Historie zeigt, dass das Hochwasser vom Juli 2021 kein Einzelfall war und sich in der Vergangenheit ähnliche Hochwasser im Ahrtal ereignet haben. Die zeitlichen Abstände zwischen den Fluten von 1804, 1910 und 2021 haben ausgereicht, um die Gefahr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden zu lassen. Das Verhindern einer erneuten Hochwasserdemenz muss daher höchste Priorität haben, damit bei einem zukünftigen Extremhochwasser Gefahren frühzeitig erkannt werden und entsprechend gehandelt werden kann.

Literatur:

  • Frick, H. (1955): Das Hochwasser von 1804 im Kreise Ahrweiler. In: Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 1955, S. 43-51.
  • Janta, L. u. H. Poppelreuter (2010): „…Das Elend übersteigt jeden Begriff…“ In: Landkreis Ahrweiler (Hrsg.): Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2010, S. 188-197.
  • LfU Rheinland-Pfalz (Hrsg.) (2016): Starkregen und Hochwasser in Rheinland-Pfalz im Mai/Juni 2016. Abrufbar unter: https://www.hochwasser-rlp.de/publikationen/bericht_starkregen_hoch– wasser_juni2016.pdf
  • Peters, H. (Hrsg.) (1953): Die Ahr – Ansichten des 19. Jahrhunderts. Selbstverlag des Herausgebers. Honnef.
  • Roggenkamp, T. u. J. Herget (2014a): Reconstructing peak discharges of historic floods of the River Ahr, Germany. In: Erdkunde 68, S. 49-59.
  • Roggenkamp, T. u. J. Herget (2014b): Historische Hochwasser der Ahr. In: Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 72, S. 150-154.
  • Roggenkamp, T. u. J. Herget (2022): Hochwasser der Ahr im Juli 2021 – Abflussabschätzung und Einordnung. In: Hydrologie und Wasserbewirtschaftung 66, H. 1, S. 40-49.
  • Seel, K. A. (1983): Die Ahr und ihre Hochwässer in alten Quellen. In: Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 40, S. 91-102.