Wildblumen im Garten

VON JOSEF HILGE

Unsere vornehmen Gartenblumen, etwa die Edelrosen und die Rittersporne, sind Kosmopoliten; sie sind aus Kreuzungen von Arten hervorgegangen, deren Heimatländer durch Ozeane und Kontinente getrennt sind. Darum sind sie in ihrem Klimagebiet überall und nirgends zu Hause. Aber wir pflegen auch artreine Wildlinge in unsern Gärten, etwa die Goldrose und den enzianblauen Zwergrittersporn, die beide am Fuße der chinesischen Mauer blühen. In unseren Steingärten gedeiht manche fremde Wildpflanze, und wir danken den Gärtnern für jeden fremden Wildling, den sie in unsere Gärten einführen. Aber auch an unsern Wegen, in unsern Wäldern, an unsern Ufern blühen manche Wildblumen, die des Gartens würdig sind. Ich bin schon manchmal mit der Pflanzkelle gegangen, um eine Pflanze auszugraben und in meinen Garten zu holen. Das war mitunter kein weiter Gang. Unsere Dorfstraße ist zum Teil ein Hohlweg, der von Aufgang nach Untergang steigt und darum eine sonnige und eine absonnige Wand hat. Die Sonnenseite ist reich an schönen Blumen.

Da blühen sehr zeitig die Veilchen; es sind die Vorposten des Veilchenheeres, das in blauen Scharen rund um das Dorl in den Tälern lagert. Sind diese ersten Veilchen voll erblüht, dann werden die Kinder so unruhig, als ob sie ein Signal gehört hätten. In kleinen Gruppen eilen sie hinaus zum Veilchenpflücken und kommen mit dicken Sträußen nach Hause. Die Blumenbecher werden gefüllt, die Wassergläser und Eierbecher. Am Sonntag winden die Mädchen Veilchenkränze und legen sie in feuchte Teller. Die Häuser sind bis unterm Dach voll Blumenduft. Das ist das Veilchenfest. In den Veilchen holen die Kinder den Frühling ins Haus, und darum können sie nicht genug bekommen. Gewiß, die armen Veilchen müssen frühzeitig sterben. Aber es geschieht so oft, daß der Mensch das zerstört, was er liebt. Einige Wildveilchen setzte ich an den Rand eines Beetes, und sie haben sich angewöhnt, mehrmals zu blühen. Auch an späten Herbsttagen holen die Kinder die Veilchen ins Haus.

Die blauen Blüten des Veilchens, das bei uns keineswegs bescheiden im Moose blüht, sind fast immer unfruchtbar. Fruchtbar sind die knospenartig grünen, wirklich bescheidenen Zweitblüten, die fast unsichtbar am Grunde entstehen, wenn die duftenden Blaublüten verwelkt sind. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß die Blüte mehr ist als ein Organ der Fortpflanzung.

Unter dem Gesträuch der Straßenseite blüht schon früh der zarte Lerchensporn. Er trägt das rötliche Blau der Fastenzeit und scheint mit nickenden Blüten verhalten zu trauern. Auch ihn halte ich im Garten. Und die lockeren Polster des Frühlings=Fingerkrautes, welches mit grünen Blättern, roten Stielen und goldgelben Blüten recht österlich aussieht. Jenseits des Gesträuches holte ich von einer Wiese wilde Narzissen, die im Steingarten reizend aussehen. Die kleinen goldenen Trompeten jubeln die Osterfreude all den nachbarlichen Kreaturen zu, den sprießenden Gräsern und erwachenden Blumen.

Die schattige Böschung unserer Straße überspinnt stellenweise das blaue Immergrün, auch Vinca genannt, mit seinen glänzenden Ranken, die von dunklerem Efeu durchflochten sind. Die Pflanze heißt bei uns Mädchenpalme. Die Blätter erinnern an die immergrüne Tracht südlicher Bäume, darum wird sie den Namen der Palme bekommen haben. Der erste Teil des Namens ist eine Ehrenbezeigung vor den Mädchen. Ich holte sie an eine schattige Stelle, und sie hat den Boden dicht begrünt. Sie blüht in den Mai hinein, weshalb sie auch Maipalme heißt. Die Kinder pflücken sie gerne für den Maialtar, und sie paßt mit ihrer Klarheit und lieblichen Strenge vor das Bild der heiligen Jungfrau.

Im Walde holte ich den niedlichen Sauerklee und den würzigen Waldmeister und einen kräftigen Farn, von einer Schneise die große Flockenblume. Auf dem Berge fand ich die seltene Einbeere, deren glänzend schwarze Frucht inmitten der kreuzförmigen Rosette der vier Blätter steht. Am Flußufer grub ich die Goldnessel aus, die blaue Akelei und den Eisenhut, aus den schrägen Graten des Burgfelsens verwilderten Goldlack, der da in dichten gelben Polstern blüht. Diese Blumen holte ich vom Wegrain und aus der Wildnis in den Garten, so wie wir Christen vom himmlischen Gärtner heimgeholt sind aus dem Elend in den Garten des Herrn, wie wir alle von Landstraßen und Zäunen zum Gastmahl genötigt wurden, damit das Haus des Herrn voll werde. Andere Pflanzen brauchte ich nicht erst zu holen. Der Windhauch weht ihren Samen über Hecke und Zaun auf die gute Erde, wo er aufgeht und zum Lichte emporwächst.

Der Wind weht das Gundermännchen in den Garten. Ich dulde es in den Fugen den Steingartens. Im Frühjahr läßt das putzige Wesen seine schwachen Triebe über die Steine hinabhängen, im April hebt es sich daumenhoch und schaut sich mit blauvioletten Lippenblüten, die bärtigen Zwergengesichtern ähnlich sehen, nach Mücken, Bienen und Schmetterlingen um. Auch die majestätische Königskerze brauche ich nicht zu säen. Der Wind wirft viele der winzigen Samen auf meine Beete. Im Staudenbeet und zwischen den Krautern darf die eine oder andere blühen als das Abbild des Auferstandenen. Sogar einigen Unkräutern gönne ich ein bescheidenes Plätzchen, denn auch wir sind nur Unkräuter im Garten des Herrn, und wir müssen hoffen, daß es uns darin duldet und nicht vertilgt. Die einjährige Winde darf da und dort stehen bleiben wegen der rötlichen Kelche, die wir Muttergottesgläschen nennen. Dem lästigen Löwenzahn bleibt ein Fleckchen, auf dem er sein kräftiges Wesen ganz entfalten kann. Er ist zwar so gemein wie der Stein im Acker, aber er ist doch so schön! Ich nennen ihn mit seinem alten Namen: Sonnenwirbel. Die tellergroßen Rosetten, aus kühn gezahnten Blättern gebildet, liegen flach auf dem Boden. Einen schönen Gegensatz zu den zackig ausfahrenden Konturen bilden die glatten, hohlen Röhren der Blütenstiele. Erinnert schon die Blätterreihe an die lodernde Sonne, so bildet die Blüte das strahlende Gestirn noch einmal, auch in der Farbe, nach. Freilich erlaube ich der Pflanze nicht, ihren Fruchtstand zu reifen, der die Form der Sonnenkugel hat und viele strahlige Federkränchen trägt.

Es fällt mir immer wieder auf, wie vielfältig die Pflanzen das Gestirn nachbilden, von dessen Wärme und Licht sie leben. Alle Pflanzen mit kugeligem oder scheibenförmigem Bau, alle zentral gebauten Blüten und Blütenstände bilden die Sonne nach mit allen Farben und Zwischenfarben, die in ihrem blendenden Weiß enthalten sind, und viele dieser Blüten wenden sich immer der Sonne zu. Alle kugeligen oder gar stacheligen Früchte bilden die Sonnenkugel ab.

Wollen uns die Pflanzen sagen, daß auch wir Ebenbilder sind und uns nach dem wenden und formen müssen, von dessen Licht wir leben?

Jedes Geschöpf, auch das bescheidenste Unkraut, ist vom „Worte“ gebildet. Ein jedes Geschöpf ist ein Wort Gottes an uns Menschen, ein Wort seiner Weisheit und Macht, seiner Liebe und Güte. Es scheint, daß der Allgütige, dessen Sohn Knechtsgestalt angenommen hat, uns durch das Gewöhnliche besonders viel zu sagen hat. Unser Herr hat auch vom Königsmahl und Königsgericht, von der kostbaren Perle, vom vergrabenen Schatze gesprochen, öfter aber hat er auf die alltäglichen und gewöhnlichen Dinge am Wege gewiesen: auf Weingarten und Weizenfeld, Hirt und Herde, auf Feldblumen, Senfkorn und Feigenbäume, Weizen und Tollkorn, auf die Vögel des Himmels und die armseligen Spatzen. Er wies auf sie hin als Zeichen und Gleichnisse des Himmelreiches. Aber er gab die Deutung selber, denn die Menschen, die ihm zuhörten, hatten Augen und sahen nicht, hatten Ohren und hörten nicht. Mich dünkt, daß Gottes Wort, aufgeschrieben in der Heiligen Schrift, die Deutung mancher Gleichnisse enthält, die nicht aufgeschrieben sind, uns aber alltäglich begegnen. Der Priester, der uns taufte, hat unsere Ohren berührt mit dem Rufe: Ephatha! Tu dich auf! — auf daß sie dem Worte Gottes geöffnet seien. Jedes Geschöpf ist ein Wort Gottes an uns, und manches Geschöpf ist ein Gleichniswort. Auch die Wildpflanzen, die vom Gärtner heimgeholt und vom Hauche hineingeweht werden, sind Gleichnisworte Gottes. Und der Garten ist eines, und zwar ein vielbedeutendes Gleichnis.