Die Berufsaufbauschule Ahrweiler eine neue Bildungseinrichtung für den gewerblichen Nachwuchs

VON WALTER JANSEN

1. Wesen und Ziel des zweiten Bildungsweges

Die Forderung „Freie Bahn dem Tüchtigen“ ist nicht neu und das damit zusammenhängende Prinzip der „Startgerechtigkeit in der Bildung“ im Grunde eigentlich nie umstritten gewesen. Tatsächlich blieb aber Tüchtigkeit bisher sehr oft in den Netzen des deutschen Berechtigungswesens hängen, denn fast ausnahmslos war doch der Besuch der höheren Schule mit abschließender Reifeprüfung die Voraussetzung für den Aufstieg in einen gehobenen Beruf. Die Schaffung eines „zweiten Bildungsweges“ ist also im Rahmen unseres Bildungswesens erstmalig etwas grundsätzlich Neues seit der Schulreform durch W. von Humboldt vor etwa 150 Jahren. Daß es innerhalb eines Zeitraumes von nur etwa zehn Jahren gelang, für dieses „Kernstück einer sozialen Schulreform“ geeignete Organisationsformen zu entwickeln, ist ein Beweis für die Dringlichkeit dieses Problems. Es wurde mit dem Beginn der zweiten industriellen Revolution zu einem der wesentlichsten Probleme unserer Zeit, denn die perfektionierte Technik bringt in immer stärkerem Maße eine Verschiebung von der körperlich mechanischen Arbeit zu den qualifizierten geistigen Berufen. Alle Parteien und Wirtschaftsorganisationen sind sich heute bewußt, daß wir nicht nur eine große Zahl universell gebildeter Ingenieure benötigen, sondern daß wir uns darüber hinaus um die Schaffung einer möglichst breiten Intelligenzschicht bemühen müssen.

Der neue Bildungsweg für die begabten Werktätigen ist ein „Aufstieg über die Plattformen der Berufsabschlüsse“, der in fortschreitender Auslese bis zur Hochschulreife führt. Das Fundament des beruflichen Bildungswesens ist die zum Lehrabschluß führende Berufsschule, während die Fachschule wie bisher auf die Vermittlung eines Berufsbildungsabschlusses der nächsthöheren Stufe ausgerichtet bleibt. Für den Übergang von einer abgeschlossenen in eine höhere Berufsausbildung wurden besondere Bildungseinrichtungen geschaffen, deren Aufgabe die Vermittlung der „Fachschulreife“ bzw. der „Hochschulreife“ ist. Diese Ausbildung, ein Weg von der Praxis zur Theorie, ist also sozial und krisenfest; auch der wirtschaftlich Schwache kann diesen Weg einschlagen, und die Ausbildung kann jederzeit abgebrochen werden, ohne die wirtschaftliche Existenz in Frage zu stellen. Es kann im Rahmen dieses Kurzberichtes nur angedeutet werden, daß der herkömmliche Bildungsbegriff hier eine entscheidende Erweiterung erfährt; die über den zweiten Bildungsweg vermittelte Reife ist nicht allein schulische Reife, sondern schließt Bewährung im Beruf und damit „Lebensreife“ mit ein. Es ist deshalb durchaus verständlich, daß mit der Konzeption des zweiten Bildungsweges große Hoffnungen und Erwartungen verbunden sind.

Während im gewerblichen Bildungswesen die zur „Fachschulreife“ führenden Berufsaufbauschulen zum größten Teil Abendschulen sind, handelt es sich im kaufmännischen und frauenberuflichen Bildungswesen ausnahmslos um Vollschulen. Der letzte Abschnitt des zweiten Bildungsweges verläuft zweigleisig, nämlich über die Ingenieurschule bzw. höhere Fachschule zur „Fakultätsreife“ oder über besondere Bildungseinrichtungen (Institute zur Erlangung der Hochschulreife, Technische Oberschulen) zur vollen Hochschulreife. Die Entwicklung, besonders im letzten Abschnitt, ist durchaus noch nicht abgeschlossen; der gegen die Abendeinrichtungen im gewerblichen Schulwesen erhobene Vorwurf der Überforderung wird vielleicht auch hier noch zu neuen Entwicklungen führen.

2. Aufgaben und Organisationsform der Berufsaufbauschule

Die Bezeichnung „Fachschulreife“ ist zweifellos nicht sehr glücklich gewählt, weil die Zielsetzung der Lehrgänge an den Berufsaufbauschulen wesentlich umfangreicher ist. Sie ermöglichen ja nicht nur den Beginn des Studiums an einer Ingenieurschule, sondern sind gleichzeitig die erste Stufe zur Vorbereitung auf ein Hochschulstudium. Darüber hinaus muß aber noch erwähnt werden, daß es zwischen dem Beruf des Facharbeiters und dem des Ingenieurs eine große Anzahl gehobener Positionen gibt, für die geeignete Kräfte dringend benötigt, aber selten gefunden werden. Zweifellos wird im Zeitalter der „Automatien“ der Bedarf an mittleren Führungskräften sich ständig vergrößern. Es ist also eine wesentliche Aufgabe der Berufsaufbauschulen, den jungen Gesellen und Facharbeltern das hierfür erforderliche theoretische Wissen zu vermitteln; zu lösen ist diese Aufgabe nur, wenn es gelingt, eine möglichst breite Schicht begabter Jugendlicher zu erfassen. Daß durch die Hebung der Allgemeinbildung auch ein wertvoller Beitrag zur Lösung des Freizeitproblems geleistet wird, das sich aus der Verkürzung der Arbeitszeit ergibt, sei abschließend nur kurz angedeutet; die starke Betonung auch der kulturkundlichen Fächer wird ein echtes Bildungsbedürfnis wecken und damit zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung anregen.

Voraussetzung für die Erlangung der Fachschulreife ist eine berufliche Grundausbildung in der Form einer abgeschlossenen Lehrausbildung. Darüber hinaus wird eine erweiterte fachpraktische Ausbildung im Betrieb oder in entsprechenden schulischen Einrichtungen verlangt, die mindestens ein Jahr umfassen soll und gegebenenfalls in verwandten Berufen abzuleisten ist. Die Berufsaufbauschule selbst hat die Aufgabe, die fachtheoretische Ausbildung der Schüler zu vertiefen und ihnen eine gehobene Allgemeinbildung zu vermittein, die sich auf kulturkundliche und mathematisch=naturwissenschaftliche Fächer sowie eine Fremdsprache erstreckt. Die Lehrgänge zur Eriangung der Fachschulreife umfassen sechs Semester mit je 200 Stunden, insgesamt also 1200 Unterrichtsstunden; die Verteilung dieser Stunden auf die einzelnen Fächer geht aus nachstehender Stundentafel hervor:

 Semester:   I    II   III   IV   V  VI  Gesamt=
Stunden:
Deutsch222211200
Geschichte11111100
Erdkunde111180
Englisch111111120
Algebra u. Techn. Rechnen222211200
Geometrie u. Trigonometrie211111140
Physik111111120
Chemie111180
Techn. Zeichen222120
Werkkunde1140
 1010101010101200

Der Nachweis der vorgeschriebenen Allgemeinbildung und der vertieften fachtheoretischen Bildung ist im Rahmen einer schriftlichen und mündlichen Prüfung zu erbringen. Der Prüfungsausschuß besteht aus einem Vertreter der Bezirkregierung als Vorsitzendem, dem Schulleiter, Vertretern der bezirksmäßig zuständigen Fachschulen und den mit der Durchführung des Unterrichts betrauten Lehrkräften. Die Prüfung hat nicht bestanden, wer in einem Fach die Note „ausreichend“ nicht erreicht hat; nicht genügende Leistungen in Geschichte und Erdkunde können durch gute Leistungen in einem anderen Fach ausgeglichen werden.

Es ist natürlich sinnvoll, die Berufsaufbauschulen als weiterführende Bildungseinrichtungen den Berufsschulen anzugliedern. Wegen der starken finanziellen Belastung durch die beiden Berufsschulneubauten war der Kreis Ahrweiler aber leider nicht in der Lage, zu der bereits bestehenden zweijährigen Handelsschule auch noch eine Berufsaufbauschule als weitere freiwillige Aufgabe zu übernehmen. Entsprechend dem Beispiel anderer Kreise wurde deshalb als Träger der „Berufsaufbauschule Ahrweiler“ im Frühjahr 1957 unter maßgeblicher Beteiligung des Handwerks die „Vereinigung zur Förderung des technischen Nachwuchses im Kreise Ahrweiler“ gegründet. Nach einem entsprechenden Beschluß des Stadtrates erklärte die Stadt Ahrweiler ihren korporativen Beitritt. Zum l.Vorsitzenden wurde bei der Gründungsversammlung einstimmig der Kreishandwerksmeister gewählt; als Geschäftsführer ist der Direktor der Kreisberufsschule Mitglied des Vorstandes. Zur Mitarbeit im Kuratorium haben sich sowohl der Landrat unseres Kreises als auch der Bürgermeister der Stadt Ahrweiler bereit erklärt. Ein hervorragender Beitrag seitens des Kreises war die Genehmigung, den Unterricht in den Räumen der Kreisberufsschule durchzuführen. Allerdings muß dieser Unterricht von den Lehrkräften der Kreisberufsschule nun leider in der Form zusätzlicher Unterrichtsstunden erteilt werden. Nennenswerte Schwierigkeiten haben sich bisher daraus noch nicht ergeben, da die Lehrkräfte die Dringlichkeit der neuen Aufgabe erkannten und sich in ausreichender Zahl für die Arbeit in der Berufsaufbauschule zur Verfügung stellten. Eine endgültige Lösung stellt aber doch nur die Eingliederung der Berufsaufbauschule in den Rahmen der Kreisberufsschule dar; es bleibt also zu hoffen, daß nach einer gewissen Anlaufzeit die Voraussetzungen hierfür geschaffen werden können.

3. Durchführung und bisheriger Verlauf der Lehrgänge zur Erlangung der Fachschulreife

Die Aufnahme in den Fachschulreife=Lehrgang erfolgt frühestens mit Beginn des zweiten Lehrjahres; das gilt auch für Schüler mit Obersekundareife, da diese sofort in das 3. Semester übernommen werden. Eine Aufnahmeprüfung findet nicht statt; gute Volksschulbildung und entsprechende Leistungen in den Fachklassen der Berufsschule sind durch Vorlage der entsprechenden Zeugnisse nachzuweisen. Am Schluß eines jeden Semesters erfolgt eine Bewertung der Leistungen in den einzelnen Fächern in der Form von Zwischennoten. Nach dem 2. und 4. Semester werden Zwischenprüfungen durchgeführt, die aus fünf schriftlichen Arbeiten und einer mündlichen Prüfung bestehen. Aus den Zwischennoten und den Leistungen bei der Prüfung ergibt sich das Jahreszeugnis; wer auf Grund dieses Zeugnisses zum nächsthöheren Semester nicht zugelassen wird, muß die beiden letzten Semester wiederholen oder aus dem Lehrgang ausscheiden. Die Teilnehmer am Fachschulreife=Lehrgang zahlen bei der Aufnahme eine einmalige Verwaltungsgebühr von 5,— DM; die Semestergebühr beträgt 60,— DM und kann in zwei Vierteljahresraten gezahlt werden. Für die am Schluß des Schuljahres stattfindende Zwischenprüfung wird eine Gebühr von 10,— DM erhoben.

Da der Kreis Ahrweiler sehr weiträumig ist und die Schüler teilweise eine Anfahrt von mehr als 30 km haben, mußten die zehn Unterrichtsstunden pro Woche auf einen Tag zusammengefaßt werden; als Unterrichtstag kam natürlich nur der Sonnabend in Frage. Es bestanden zunächst erhebliche Bedenken in Bezug auf die Aufnahmefähigkeit der Schüler bei einer Unterrichtszeit von 8 Uhr bis etwa 18 Uhr. Inzwischen hat sich aber gezeigt, daß hier der richtige Weg beschritten wurde; einige Schüler aus dem Bonner Räume nehmen an unseren Lehrgängen teil, weil sie den in Bonn üblichen Abendunterricht an mehreren Wochentagen als zu große Belastung empfinden. Wesentliche Schwierigkeiten beim Unterricht ergaben sich bisher nur in den Fächern Deutsch und Englisch. Große Kenntnislücken in Grammatik und Stilistik sind der Grund dafür, daß von unseren Schülern das Unterrichtsfach Deutsch im allgemeinen als das schwierigste Fach angesehen wird, für das sie am meisten zu arbeiten haben. Daß sich diese Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache auch auf das Unterrichtsfach Englisch auswirken, bedarf keiner näheren Erläuterung. Die für die Fächer Deutsch und Geschichte zur Verfügung stehenden Stundenzahlen gestatten natürlich bei weitem nicht eine ausreichende Berücksichtigung des Musischen. In den Wintersemestern werden deshalb auf freiwilliger Grundlage Abendkurse mit zwei Wochenstunden durchgeführt, die in vierzehntägigem Wechsel Geschichte der Musik und der darstellenden Kunst umfassen. Leider können an dieser freiwilligen Arbeitsgemeinschaft nur die Schüler teilnehmen, die keinen allzu weiten Anfahrtsweg haben; trotzdem war die bisherige Beteiligung sehr erfreulich.

Beim Anlaufen der Lehrgänge im Frühjahr 1957 wurden drei Klassen mit einer Gesamtzahl von 116Schülern gebildet; davon sind bis zum Abschluß des i. Semesters 24 Schü= ler, während und nach Abschluß des 2. Semesters 12 Schüler ausgeschieden, so daß im Frühjahr 1958 die Zusammenlegung zu 2 Klassen erfolgen konnte. Zum Sommersemester 1958 erfolgten für 2 Klassen insgesamt 66 Neuaufnahmen; außerdem wurden drei Schüler mit Obersekundareife in das 3. Semester aufgenommen. Ein Nachholbedarf dürfte nun wohl nicht mehr bestehen, so daß für die nächsten Jahre jeweils mit 30—40 Neuaufnahmen zu rechnen ist. Die berufliche Gliederung der Schüler zu Beginn des Schuljahres 1958/59 zeigt nachfolgende Zusammenstellung:

  1. Sem.   3. Sem.   Gesamtzahl:
Metallgewerbe:   36   31   67
Bau= und Holzgewerbe:   23   44   67
Nichtkonstruierende Berufe:   8   7   15*)
*) darunter 4 Mädchen   67   82   149

Es ist beabsichtigt, in Zukunft die Aufnahme in den Fachschulreife=Lehrgang von der vorherigen Teilnahme am Unterricht einer Förderklasse der Kreisberufsschule abhängig zu machen, der vorwiegend eine Vertiefung der Kenntnisse in den Elementarfächern Deutsch tmd Rechnen bewirken soll; eine Leistungsprüfung im März soll dann über die Zulassung zum Lehrgang entscheiden. Durch dieses Verfahren ergeben sich für den Unterricht in der Berufsaufbauschule zweifellos bessere Startbedingungen; außerdem dürfte die Zahl der Abgänge im l. Semester sich dadurch wesentlich verringern. Da schon durch die Förderklasse der Berufsschule eine gewisse Auslese erfolgt, ist für die kommenden Jahrgänge jeweils nur noch eine Zwischenprüfung vorgesehen. Diese wird dann zweckmäßigerweise nach dem 3. Semester durchgeführt; eine Zulassung zum 4. Semester wird nicht erfolgen, wenn die Leistungen in Deutsch oder Mathematik nicht ausreichend sind. Dieser Bericht wäre nicht vollständig, wenn die fast ausnahmslos vorbildliche Haltung unserer Schüler, ihr Fleiß und ihre bemerkenswerte Zielstrebigkeit unerwähnt blieben.

Trotz der oft schweren beruflichen Anforderungen opfern sie den weitaus größten Teil ihrer Freizeit, um ihre Allgemeinbildung zu erweitern und die Voraussetzungen für den Aufstieg in eine gehobene Stellung zu schaffen. Bei der Arbeit in der Berufsaufbauschule gewinnt man ein ganz anderes Bild von unserer Jugend als dasjenige, das heute gemeinhin mit dem Begriff „Halbstarke“ umrissen wird; die Hoffnung, daß hier für unser Volk eine geistige Elite entsteht, wird durch die bisherigen Erfahrungen durchaus bestärkt. Der Betriebsinhaber, der einem begabten Jugendlichen durch die Verweigerung seiner Zustimmung den Besuch der Berufsaufbauschule unmöglich macht, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Glücklicherweise gibt es bei uns nur ganz wenige Fälle dieser Art, und in Handwerkskreisen ist man sich durchaus bewußt, daß der zweite Bildungsweg der Weg der zukünftigen Führungskräfte unseres deutschen Handwerks ist.