Mit dem Herzen in der Heimat an Ahr und Rhein

Vor sechzig, vor vierzig und vor zwanzig Jahren 

Wilhelm Knippler

Johannes Mumbauer schrieb 1928 in unserem Heimatkalender: »Wenn man den heutigen Lebenszuschnitt in unseren Städten und Dörfern an der Ahr mit den Zuständen vor 30 oder 50 Jahren vergleicht, möchten einem die Augen übergehen, man würde sich schämen wegen der Würdelosigkeit, mit der dieses Volk sich um sein Wertvollstes hat betrügen lassen, um seine Seele zu verkaufen für barbarische Unkultur«.

Nun, wir können die Uhren unsrer Entwicklung nicht rückwärts drehen. Jeder von uns ist sein eigener Heimatsucher, zumal der Mensch von heute.

Im Jahre 1925 durchlebte ich Mumbauers Gegensatz. Heute noch war ich musikalischer Begleiter einer Sopranistin und eines Tenors in der Großstadt, man kreierte eine neuartige Stummfilmoperette. Am ändern Morgen war ich Lehrer in Aremberg an der Oberahr, in einem Dorf ohne Eisenbahnanschluß oder Omnibusverbindung, ohne Radio oder Badezimmer, mit Plumpsklo, oder wie mein Freund Pastor Molitor 40 Jahre später zu sagen pflegte: »Senkrechtstarter mit intensiver Ventilation von unten«. Einzelne Telefone waren zwar im Dorf vorhanden, aber wenn der alte Hilterscheid abends in der Post zu Antweiler Feierabend machte und den Klappenschrank verschloß, dann war totale Fernsprechstille für die Nacht. Mein erster Mentor in der Eifelgemeinde war Pastor Alten. Der zeigte beim ersten Spaziergang, als die Dächer des Dorfes unter uns lagen, vom Burgweg aus nach Westen weisend auf die unendlichen, dunklen und geheimnisvollen Wälder und sagte: »Da drinnen sollen noch uralte Volksstämme hausen, die von der letzten deutschen Volkszählung nicht erfaßt sind!« – Aus dem Munde des Geistlichen sprach der Sarkasmus des Menschen, der im Grenzland leben muß, zwischen vier Regierungsbezirken, deren Bewohner in allen Lebensgewohnheiten nach einer nur ihnen eigenen Himmelsrichtung strebten. Die Hauptsorge des Pastors galt aber nicht den unerforschten Volksstämmen, sondern der Instandsetzung der Barockaltäre, einem Vermächtnis des säkularisierten Klosters Marienthal. Ich durfte mich dabei beteiligen. Die beiden Seitenaltäre wurden von schönen Barockrahmen gekrönt. In der Mitte der Rahmen standen vor Samtvorhängen stilwidrige Heiligenfiguren, (s. Eifelvereinsblatt 1926/75) Wir suchten alle Winkel der Kirche und des Pfarrhauses ab nach Überresten von vermuteten Ölbildern. Vergeblich! Ein ganz niedriger Speicher über der Sakristei war noch nicht erforscht. Wir zwängten uns kriechend durch alte Bretter, antiken Staub und Spinnweben. Ganz im Dachwinkel stießen wir auf zwei Holzknubben, ovale Brocken, aus denen abgebrochene Lattenstücke herausragten. Wir säuberten sie im Freien von uraltem Dreck., Dann erst bemerkten wir die ehemaligen Mittelembleme: Adler, Bischofsstab und Mitra. (vgl. 2 Fotos in Clemen, Kunstdenkmäler des Kreises Ahrweiler, S. 163 und 167)

Das Ergebnis unsres Suchens war sehr zufriedenstellend, künstlerisch betrachtet. Was unsere Kleidung betraf, war weniger schön. Ich war ja noch nicht verheiratet, aber schwarze Priestersoutanellen eignen sich überhaupt nicht für verdreckte Kirchenböden. Bei diesem Suchen hatte sich der Erfolg schnell eingestellt. Der Hunger auf heimatgeschichtlichem Gebiet braucht lange Geduld und viel Ausdauer bis zur Sättigung. Aremberg war geschichtsträchtiger Boden und als früherer Residenzort der Herzöge beherbergte es viele Verwaltungsbeamte. Nachdem das Vertrauen der älteren Bürger durch Sprechabende aufgelockert war, wuchs das Interesse. Reiche Unterstützung fand ich beim Eifelvereinsbibliothekar Hörter in Mayen, bei Reichsoberarchivrat Dr. Kisky und bei Domänenrat Göpfert in Schleiden. Schließlich kamen mancherlei Urkunden und Archivalien zusammen. Vakanzen im Pfarrhaus ergaben die Möglichkeit, und De-finitor Steffens unterstützte mich darin, Familiengeschichte bis ins 17. Jahrhundert zu erarbeiten, ergänzt durch Forschung in den Standesamtsregistern. So entstand das Aremberger Familienbuch. Nach zehn Jahren ergaben sich gute Übersichten über die Geschichte der Heimat und das dörfliche Brauchtum. In Aremberg hatte ich meine Familie gegründet. Meine Frau kam auch aus Frankfurt und lebte sich rasch ein in das ländliche Dorf. Das wurde erleichtert durch unsere Kinder, die sich in fröhlicher Freiheit entwickelten, zu unsrer Freude und zur Freude der Dorfbewohner. Aremberg war uns zur lieben Heimat geworden und zum Paradies der Kinder. Meine Frau und ich fanden zahlreiche Freunde, mit denen ich bis heute noch – 60 Jahre danach – Freud und Leid teile.

Das muß leider auch noch gesagt werden: In einem kleinen Eifeldorf können sich maßlose Opferbereitschaft und stille Tapferkeit mit menschlichen Schwächen mischen zu einer Tragödie, die in eine moderne Edda gehören würde.

Das linke Chorfenster der Aremberger Kirche kündet von einer Mutter, die drei Söhne für Kaiser und Vaterland opfern mußte. Doch der Vierte war aus der Art geschlagen und trampelte auf dem Herzen der Mutter herum! Ich höre jetzt noch die Brandglocke läuten!

Vor vierzig Jahren

Jeder Landser, aber besonders der, welcher enge Beziehungen zu daheim hat, öfteren Briefwechsel unterhält, baut sich in Gedanken eine Idealwelt auf, und er kommt mit Bündeln von guten Vorsätzen aus der russischen Öde in die Geborgenheit der rheinischen Heimat. Die Lieben daheim haben sich auch in Freudenträume hineingesteigert, aber beide Teile müssen enttäuscht werden. So hatte ich im Herbst 1943 aus dem letzten Urlaub ein ungutes Gefühl mitgebracht in den Osten. Ich hatte erstmals Luftangriffe auf rheinische Städte, auch auf Sinzig, miterlebt, die Hektik bei den nächtlichen Überfällen, aber dazu die relative Gelassenheit der Familie. Das war der Grund der Besorgnis, und diese wurde auch durch noch so schöne Briefe aus der Heimat nicht verdrängt.

Das folgende Jahr endete nach mehreren strategischen Rückzügen in der »vergessenen Heeresgruppe« in Kurland. Ich war abgestumpft gegen die negativen Heeresberichte, aber kurz nach dem Jahreswechsel 1945 änderte sich die Lage radikal. Für die Masse hörte jede Postverbindung auf. Die Nächte wurden grausam. Plötzlich kommt für unsern Trupp die Glückswende. Wie ein makabres Roulettespiel mutet es an, daß sich zwei Truppführer geeinigt hatten. Trupp 315 verlor, niemand weiß etwas von ihnen, und wir von 311 wurden von der »Göttingen« unbeschädigt durch massenhafte Schiffsleichen nach Stettin verfrachtet. Jetzt auf deutschem Boden, in Pommern und in Mecklenburg hofften wir, leider wieder vergeblich, auf Nachricht vom Rhein. Durch Rundfunk erfuhren wir nur, daß die Gegner immer mehr nach Osten vorstießen, schließlich, daß Sinzig zweimal den Besitzer gewechselt haben sollte und die Remagener Brücke vom Amerikaner erobert worden war. Von Sinzig und Remagen konnte also nicht viel übriggeblieben sein. Wie mochte meine Familie dieses Chaos überstanden haben? Oder irrten sie als Flüchtlinge irgendwo umher, so wie die endlosen Trecks aus Ostpreußen, die Tag für Tag an uns vorüber nach Westen strebten? Das Bild der Heimat verschwand hinter einem düsteren Schleier.

Der Krieg endete für uns in amerikanischer Gefangenschaft in Schwerin. Zu unserm Glück gehörten wir nicht zu jenen 50 Prozent, die den Russen ausgeliefert wurden. So landeten wir im Korps Stockhausen, lauter Internierte, nach dem 8. 5. in amerikanischer Hand, also unter deutschem Kommando, hinter der von den Amis scharf bewachten grünen Grenze in Ostholstein. Dort lernte ich den Hunger kennen. Um den zu mildern, übernahm ich für einen halben Löffel Suppennachschlag die Leitung einer Jugendlichenkompanie von Siebzehnjährigen. Das gab wenigstens ordentliche Beschäftigung. Es vergingen wieder Wochen, aber die Sorgen um die Familie hörten nicht auf.

Das war alles nur die Vorgeschichte zum Nachfolgenden. Dies war ein Ereignis, einmalig in seiner Art, damals bestaunt von allen, die es vernahmen, von mir aufgenommen wie ein unglaubliches Wunder.

Wir schrieben den 19. September 1945. Am Abend saß ich mit den Unterführern der Jugendlichen in der Schulwaschküche von Stolpe und besprach mit ihnen den nächsten Tagesplan. Die Aufmerksamkeit läßt plötzlich nach, die Jungen reißen die Augen auf, ich drehe mich um zur Tür. Ich springe auf und schwanke, einer hält mich. (So sind wahrscheinlich die letzten Reaktionen vorm Herzinfarkt!) Wirklich, ich sehe richtig! Da stehen im Türrahmen meine beiden Töchter, Inge und Ulli, strahlend über die ganzen Gesichter! Ich wollte beide nicht mehr loslassen.

Weiß überhaupt jemand, was das heißt? – Die deutsche Offiziersstreife war auf der Landstraße bei Eutin ebenso sprachlos wie ich, beförderte dann aber die Mädchen auf schnellstem Wege bis Bad Grömitz. –

Da kommen zwei Mädchen, 16 und 17 Jahre alt, während die deutsche Welt in Trümmern liegt, durch Besatzungszonen und Feldpolizeistreifen hindurch, 600 km weit von Sinzig entfernt, über die streng bewachte grüne Grenze in einen Landstrich, in dem kein Bewohner seine Dorfgrenze überschreiten darf, waren drei Tage und drei Nächte unterwegs, auf Kohlenwagen oder Loks, sogar auf Zügen der Amis, sehen aus dazu noch wie frisch aus dem Schaufenster, ohne besonderen Erlaubnisschein, nur mit Identitätskarte, aber mit der Parole: »Wir suchen unsern Vater!«

Eine ganze Woche verging im Rausch. Des Fragens und Erzählens nahm kein Ende. Ein Koblenzer Stabsfeldwebel, frühzeitig von unserm Korps entlassen, hatte meine Frau über meinen Aufenthaltsort unterrichtet. Die Kinder berichteten, sie hätten so vielen Gefangenen aus dem Sinziger Lager herausgeholfen, deshalb hätten sie der Mutter versprochen, daß sie ihren Vater suchen würden, wenn sie nur eine Spur seiner Existenz erführen. Als dann die Odyssee Wirklichkeit werden sollte, hätte die Mutter keinen Moment in der Überzeugung geschwankt, daß die Kinder ihr Vorhaben auch vorbildlich lösen würden.

Mit Bergen von Post in den Rucksäcken machten sich Inge und Ulli auf den Heimweg. Sie brauchten wieder drei Tage, um unversehrt zur glücklichen Mutter und den Geschwistern zu gelangen.

Alles, was jetzt noch auf mich zukommen sollte, war mir gleichgültig. Ich hatte meine Familie und meine Heimat wieder! Sind wir nicht alle Marionetten am Leitfaden von oben?

Vor zwanzig Jahren

Ein Foto weckt die Erinnerung an den 17. Februar 1965, als der Redaktionsausschuß des Heimatjahrbuches von Landrat Werner Urbanus Abschied nahm.

Die allgemeine Aufwärtsentwicklung, die in der Bundesrepublik mit Adenauer begonnen hatte, zeigte sich im Ahrkreis auch in der Neuerscheinung des Heimatjahrbuches 1953, und die gezeigte Elf hatte sich zwölf Jahre lang bemüht, daß man dieses heimatliche Sprachrohr nicht nach erstem Lesen achtlos beiseiteschob, sondern es auf dem Bücherbord aufhob, bis man es in einer stillen Stunde hervornahm, um irgendein Heimaterlebnis wach werden zu lassen.

Die Jahre 1953 und 1965 sind auch in meinem Leben von großer Bedeutung gewesen, und dabei ging es um nichts anderes als um den Besitz der Heimat. 1948 hatte ich den Heppinger Chor übernommen und ihn zu respektabler Leistung geführt, vier Jahre später meisterten sie zusammen mit Neuenahrs Kammerchor Handels Messias. Dabei hatte ich Heppingen als Dorf, einen Großteil seiner Bürger kennen und schätzen gelernt. Ich wohnte noch nicht dort, aber heimatliches Gefühl keimte schon auf. Als die Schulleiterstelle dort frei werden sollte, bewarb ich mich um diese. Damit begann ein unschöner Kampf, und ich hätte wahrscheinlich den Kürzeren gezogen, wenn sich nicht höchste Landesstellen für mich eingesetzt hätten. Hierdurch durfte ich von 1953 bis 1965 in dem von mir erstrebten Heppingen arbeiten. Die Heppinger Einwohner wissen, was das Jahr 1965 für sie und mich bedeutet. Was ich schilderte, war nicht Kampf um des Kampfes willen und um Recht zu bekommen, es war ein Existenzkampf und ein Streit um das Recht der Heimat.

Der Redaktionsausschuß des Heimatjahrbuches im Jahre 1965: (sitzend v. l.) Leo Stausberg (+), Jakob Rausch, Landrat Werner Urbanus (+), Dr. Dr. Walther Ottendorff-Simrock (+), Heinrich Olbrich (+), Hermann Bauer (+); (stehend v. I.) Karl Holtz (+), Ignaz Görtz, Harry Lerch, Wilhelm Knippler, Jean Linden (+)

Früher war der Mensch meistens in die Heimat hineingeboren, in Aremberg hatte es sich bewiesen, daß dort viele Familien seit Generationen bodenständig waren und schon dadurch ein traditionelles Heimatrecht haben. Die Menschen von heute wissen aber, daß durch Verlust der alten Heimat und Flüchtlingselend viele Millionen gezwungen wurden, sich eine neue Heimat zu erwerben.

So setzte sich auch der Mitarbeiterstab des Heimatjahrbuches aus Menschen zusammen, die hier im Ahrkreis geboren sind und solchen die zwar nicht hier ihre Jugend verbracht haben, die aber hier durch Beruf, durch Ansied-lung, Hausbau, manche durch Heirat Verankerung im Volkstum erreichten, die diesen Besitz nicht nur genossen, sondern durch ihr heimatbetontes Schaffen ihr Anrecht auch verteidigen. Allen Freunden der Heimat habe ich diesen Abschnitt gewidmet. Die Elf auf dem Foto -einerlei, woher sie kamen – arbeitete seit Jahren ehrenamtlich für die Existenz dieser Heimatschrift. Sieben von ihnen sind bereits verstorben, das Bild soll den Leser an sie erinnern. Vielleicht benutzt er dann das Gesamtverzeichnis der Jahrgänge 1953 bis 1977 zur eigenen Orientierung.

Heute

Drei Stationen versuchte ich zu beschreiben. Den Anfang bildete mein erstes Heimaterlebnis, das zweite Kapitel spiegelte jenes Heimattief, das fast alle Deutschen damals durchlebten. Der dritte Abschnitt war Zeugnis für das Glück des Heimatbesitzes oder das Einfinden in die neue Heimat, aus Blut und Tränen geboren.

Im Januar 1985 war ich wieder in Aremberg, nicht mehr am Ende einer Welt. Dort fehlt nichts mehr, was 1925 an Zivilisationsgütern der Großstadt vorbehalten blieb. – Ich saß wieder in der Kirche, diesmal vor dem rechten Gedächtnisfenster und las neunzehn Namen von jungen Menschen, die einmal vor mir auf der Schulbank saßen. Ihre Blütenträume durften nicht reifen!

Doch eine Gewißheit habe ich: Für ein drittes solches Fenster wäre kein Platz mehr im Kirchenraum. Es würde auch nicht mehr notwendig sein!

Mit diesem Aufsatz legt ein alter Kalendermann die Feder aus der Hand. Mit 85 soll man aufhören und Jüngeren Platz machen. Ich resigniere nicht, habe auch wirklich keinen Grund dazu. Ich dürfte, wie Ganghofer, den »Lebenslauf eines Optimisten« schreiben, sage aber lieber nur, was H. W. Geißler seinem lieben Augustin am Ende in den Mund legte:

»Das Leben hat mich grenzenlos verwöhnt!«