» Op Nolle«

Erinnerungen an Jugendjahre in Staffel

Franz Koll

Als wir 1945 bei einem der letzten Luftangriffe auf Bonn ausgebombt worden waren, zogen wir mit dem ärmlichen Rest unserer Habe nach Staffel, dem 150-Seelen-Dorf im Seitental der oberen Ahr. Die fünf Jahre, die wir dort verbrachten, hinterließen bei mir, dem Heranwachsenden, einen so nachhaltigen Eindruck von Heimat, daß es mich bis auf den heutigen Tag dorthin zurückzieht – besonders zur Zeit der Kirmes. Früher, als deren Termin noch im kalten, dunklen Januar lag, war die Anreise für die wenigen Gäste mühsam und beschwerlich. Um dem abzuhelfen, legten die Staffeler, zumal auch die Ergebnisse der Quellenforschung um ihre Patronin, die hl. Lüftildis, so sicher nicht sein mögen, vor Jahr und Tag die Kirmes kurzerhand auf Pfingsten. Nun finden sich, gleich mir, regelmäßig all jene in ihrem Heimatort ein, für die es dort noch ein Haus gibt, in dem Eltern, Geschwister, Onkel oder Tante köstlich frischen »Fladde« für den Kirmesgast bereithalten.

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Die 1794 errichtete Lüfthildiskapelle und die schmucken Hauslassaden
der früheren Bauernhäuser bestimmen den Dorfkern von Staffel.

Nach meinen Ankunft, bevor ich mich noch einlasse auf das Angebot, als Begrüßungstrunk »en Opjesatte« zu nehmen, steige ich alljährlich für eine Stunde „op Noile«, genauer gesagt, »op NoIle-Nöck«, eine Felskuppe, von der aus sich Dorf und Umgebung am besten überschauen und betrachten lassen. Der Weg dorthin, felsig und an heißen Sonnennachmittagen häufig von huschenden Eidechsen gekreuzt, war in jenen Jahren, als mir Staffel zur Heimat wurde, stärker befahren als heute. Die Geleise, tief ausgefurcht von den eisenbeschlagenen Rädern der alten Pferde- und Ochsenkarren, sind bleibender Beweis. Auf der »Nöck« selbst lagerten wir damals in jungem Ginster und, etwas später im Jahr, in herbduftendem Heidekraut. Nun gibt es eine Bank dort oben, Zeichen eines auch amtlicherseits als lohnend anerkannten Aussichtspunktes.

Noch während der Blick zunächst scheinbar ungerichtet über das Dorf hingeht, es in seiner Ganzheit erfaßt, steigen Erinnerungen auf, aus deren bunter Fülle sich erst nach und nach schärfer umrissene Bilder abheben.

Da läuft aus dem Dort hinaus die schmale, graue Straße auf der Sohle des Wiesentales nach Kesseling, des Sonntags und an den Feiertagen unser regelmäßiger Fußweg zur Messe in die Pfarrkirche. Den jeweils zweiten, ebenso unvermeidlichen Gang am Nachmittag, zur Christenlehre konnte nur gelassenen Mutes auf sich nehmen, wer unablässig und in wachsender Vorfreude an den riesig sich türmenden Stoß braunknuspriger Waffeln dachte, die zu Hause Tante Maria in rußigem Eisen auf offener Herdflamme unterdessen backte.

Als mir dann eines Tages die Eltern den Besuch des Gymnasiums in Ahrweiler nahelegten, führte mich die Straße über Kesseling hinaus ein Stück weiter in die Welt nach Brück an der Ahr zur Bahnstation. Bei Wind und Wetter fuhr ich sie nun täglich auf einem Rad, das bei aller Klapprigkeit auf wundersame Weise doch stets fahrbereit blieb.

Hinter der Straße steigen die bewaldeten Bergflanken der »Damscheid« auf, aus deren Schluchten ich Pfifferlinge und Steinpilze körbeweise heimbrachte, die für 40 Pfennig das Pfund zur Sammelstelle bei Drense Anna kamen. Zusammen mit dem Erlös für mühselig gepflückte »Brämele«, »Ompere« und »Wor-pele« ergab dies wenigstens zur Sommerzeit ein bescheidenes Taschengeld.

Die hohen Fichten auf dem »Rennel« waren vor 40 Jahren christbaumgroß. Zwischen ihnen wuchs feines Gras mit Hasenklee untermischt. Dort hüteten wir bevorzugt die Kühe, hatten viel Zeit, miteinander über Gott und die Welt zu sprechen, strophenreiche, meist schwermütige Lieder zu singen, Beobachtetes und Erlebtes zu verarbeiten und unseren Gedanken und Sehnsüchten nachzuhängen – bis sich bei den Rindern gegen Abend die Hungergrube vor dem Hüftknochen, spätestens nach ausgiebiger Tränke, leidlich gefüllt hatte. Wenn wir nach dem »Jromesch« im Herbst auf den Talwiesen hüteten, nahm der Tag mitunter einen spannenderen Verlauf. Im nahen Bach fingen wir dann mit bloßer Hand unter glitschigen Steinen und knorrigen Wurzelstöcken Forellen, die wir uns am Holzfeuer brieten.

Am oberen Ortsausgang, wo sich das Tal nach Ramersbach und Heckenbach hin teilt, lehrte mich Onkel Alois »op’m Eje« das Pflügen auf so eindringliche und ernsthafte Weise, daß mir sehr bald bewußt wurde: Dies gehörte, zusammen mit dem Mähen und Sensedengeln, zu den höheren bäuerlich-handwerklichen Fertigkeiten. Die Schule, einklassig nach alter dörflicher Art und an sich der eigentliche Ort des Lehrens und Lernens, trat im Vergleich dazu in jenen Jahren deutlich weniger eindrucksvoll in Erscheinung.

So war es eine Art Bildungsausgleich, als der Pastor mich neben dem bereits erfahrenen Alfred als zweiten Meßdiener heranzog. Im Lateinischen indessen, bei der Messe in unserer Filialkapelle, einmal die Woche frühmorgens an einem Werktag, brachten wir beide es – von den Worten »mea culpa, mea maxima culpa“ einmal abgesehen – nur zu undeutlich verwaschenem Gemurmel. Geradezu virtuos dagegen, in immer wieder neuen rhythmischen Varianten geriet mir das Läuten der hell und weittragend klingenden Glocke, als wir – Haus-Nr. 40 – mit der Übernahme des Kapellendienstes endlich an die Reihe kamen. Jetzt noch, da ich den spitzaufragenden Turm vor mir sehe, empfinde ich deutlich, wie sehr Morgen-, Mittag-und Abendläuten das Geschehen im Dorf und die Arbeit auf den Feldern im zeitlichen Ablauf bestimmten und regelten. Und wer es draußen hörte, wußte, daß dies die heilige Wandlung anzeigte, ließ sein Tun einen Augenblick ruhen und bekreuzigte sich.

Von »Nolle«, meinem Blickpunkt aus, ist deutlich zu erkennen, wie sehr die Kapelle den Mittelpunkt des alten Dorfkerns bildet. Und ganz in der Nähe, auf der anderen Straßenseite, liegt das Haus meiner Großeltern, in dem wir damals Aufnahme fanden. So hatte ich es bei meinen Besuchen im Unter- und im Oberdorf ungefähr gleich weit. Kaum eines der Häuser blieb mir im Laufe der Zeit fremd. Noch heute ist mir der ganz unverwechselbare Geruch bei den einzelnen Familien gegenwärtig, eine charakteristische Mischung aus den Quellen Stall, Küche und »Rösches«. Damals hätte ich mich leicht mit verbundenen Augen zurechtgefunden.

Gewiß wäre ich auf diese Weise auch unfehlbar zum Hause von Krings Anton gelangt, zumal dort noch beständiger, dicker Tabaksqualm und auf der blanken Herdplatte in der Schale schmorende »Quellmänn« das Geruchsbild vervollständigten. Krings Anton arbeitete mehr geistig, nicht so gerne körperlich, weswegen er den ändern im Dorf ein dauerndes Ärgernis war. Ich ging gerne zu ihm. Er las mir dann im Schein seiner geschwärzten Petroleumlampe mit alter, tiefer Stimme und in ruhigem, feierlichem Ton aus einem dicken Sammelband „Stadt Gottes« vor, besonders immer wieder Fortsetzungen der Geschichte vom »Hauptmann Jaguar« oder auch so Erstaunliches wie die Meldung, in Frankreich sei der Verzehr von Schnecken und Froschschenkeln durchaus üblich, was mich umgehend zu eigenen, ganz heimlichen Versuchen während des Kühehütens anregte.

Ebenso saß ich auch manches Mal mit roten Ohren dabei, wenn die Alten bei uns in der Wirisstube in der Sprache, die auch mein Heimatdialekt geblieben ist, beim Kartenspiel in einer »Siwwe-Schröm«-Pause Geschichten von Witzbolden, Käuzen und Schlitzohren erzählten. Einder der letzten dieses Schlages ist nun auch gestorben – Baltersch Matthese Josef. An seinem 90. Geburtstag noch hatte er das Ansinnen der Nachbarn, in seinem hohen Alter doch ein Altersheim aufzusuchen, barsch zurückgewiesen: »Do jon ech net hin; do sen jo nur ahl Löck«.

Es wird Zeit für mich, ins Dorf zurückzukehren, zumal der »Fladde« wegen der vielen Kirmesgäste zusehends weniger wird. Ich nehme deshalb die Abkürzung durch »Mottele«. Dabei kommt mir eine Frage erneut in den Sinn, die mich in der Vergangenheit immer wieder beschäftigte: Waren die Staffeler Jahre, herausgerissen aus der eigentlich zunächst anders sich abzeichnenden Lebensbahn, nicht doch auch verlorene Jahre? Heute weiß ich die Antwort: Ich fühlte mich ärmer um ein Stück Heimat. wenn sie mir fehlten.