Nachts rauscht der Strom

Nachts rauscht der Strom

Johannes Fr. Luxem

Aus alten Zeiten

„Nachts rauscht der Strom“, sagte die Großmutter, „horch“, und Martin spitzte die Ohren, lauschte hinüber zum ändern Ufer, blickte nach Süden, dorthin, wo der Vinxtbach, uralte Brot- und Sprachgrenze, aus der rauhen Eifel kommend in den Rheinstrom mündete.-

An langen Sommerabenden, wenn die Hitze wie eine Wolke über dem Tal lag, wenn kein Lüftchen wehte, die Schatten länger wurden über dem Dorf am Strom, begann die Großmutter zu erzählen: uralte Geschichten, Märchen, Sagen und Legenden vom Fluß und aus den Waldtälern an seinen Ufern.

Dann war es Martin, als hätten sie sich versammelt in der Dunkelheit, die Geister des großen Stromes, als warteten sie auf ihn, und er hörte ihre Rufe aus dem Rauschen der Gewässer. Er sah sie leibhaftig vor sich, den glotzäugigen Nöck und seine Froschgesellen, die heimtückischen Alben, Wächter des Rheinschatzes, Me-lusine und Nixen, Undine auf der Flucht vor Kühlewein. Alle Sagen und Geschichten kannte Martin, der Strom und Wasser und die Schiffe liebte und der sich danach sehnte, auf dem großen Fluß nordwärts zu fahren, hin zu unbekannten Fernen und Abenteuern…..

Zuflucht und Fernweh

Hinter dem Kaninchenstall stand ein alter, windschiefer Bretterschuppen, in dem Großvater alles aufbewahrte, was ihm zum Wegwerfen zu schade war. „Arme Leute werfen nichts fort“, sagte er häufig, wenn er Eisenstücke, Kettenglieder, Holzklötze und Geäst nach dem Hochwasser am Rheinufer zusammenraffte und in seinen Schuppen brachte.-

In einer Ecke dieses Sammelsuriums hatte sich Martin schon seit geraumer Zeit sein eigenes kleines Reich gebaut. Aus Kistenbrettern, Jutesäcken und Fundstücken vom Rheinufer schuf er sich eine richtige Schiffskajüte. „Spielerei“, brummte der Großvater, ließ den elternlosen Enkel aber gewähren. Hier zeichnete Martin beim Schein eines Öllämpchens seine Traumwelt auf graues Packpapier: ferne Küsten, Segelschiffe, Inseln, Palmenwälder und geheime Pfade, die hinführten zum Schatz der Flibustier in dumpfer Felsenhöhle.

Und hier, in seiner Holzkajüte reifte auch der Plan, eines Tages fortzufahren, stromabwärts, dem Meere und unbekannten Abenteuern entgegen. Als blinder Passagier wollte er mitfahren auf einem der riesigen Holländerflöße, fort bis zur großen Hafenstadt Rotterdam und von da aus übers Meer.

An diese große Reise dachte er schließlich immerfort, in der Dorfschule, bei der Gartenarbeit, beim Ziegenhüten, sogar in der Kirche bei langen Predigten des Pfarrers.-

Er begann, Vorräte zu sammeln, schnitt Graubrot in Scheiben, räucherte sie überm Hütefeuer bis sie hart und haltbar wurden, füllte Tongefäße mit Zucker und Sirup, ein Säckchen mit Mehl, einen Topf mit Griebenschmalz. Aus Jutesäcken und einer grobgewebten Pferdedecke bereitete er sich sein zukünftiges Nachtlager, legte eine Liste an, vergaß nichts.

Das mußte man Martin lassen, er bedachte alles, verwarf und änderte, sammelte und versteckte, plante, grübelte, überlegte, war wie besessen von einer Art Vollkommenheitstrieb. Alles aber mündete in dem großen, unstillbaren Wunsch, endlich fortzukommen aus der Enge des Tales, fort von Schule und Gartenfron, fort vom Geißenhüten, fort in die unbekannte wunderbare Weite der Welt und hin zu den Meeren, die auf ihn warteten.-

Über dem großen Strom

Oben im Wald, hoch überm Rheintal, hatte sich Martin aus Stämmen, Brettern und Geäst ein zweites Refugium gebaut. Hier hütete er Groß-mutters Ziegen, störrisches, unruhiges Spitzbartvölkchen. Von hier aus ging der Blick weit ins tiefe Flußtal. Südwärts ragte Burg Rheineck aus den Grünwogen der Wälder, und auf der gegenüberliegenden Seite erblickte man die Silhouette von Burg Hammerstein, einst Gefängnis eines jungen deutschen Kaisers, sagenumwoben.-

Martins liebstes Versteck aber lag unten im Tal, in der Rheinuferwildnis in der Nähe des kleinen Hafens an der Vinxtbachmündung. Hier wuchs mannshohes Schilf, bildeten Erlen, Weiden und Huflattich eine fast undurchdringliche Wildnis.

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Von hier aus spähte der Knabe über den Strom, betrachtete die riesigen Holländerflöße, die aus dem Schwarzwald, vom Oberrhein kamen, die Schuten, Aalkutter und Lastschiffe. Hin und wieder kam ein stampfendes, qualmendes Ungetüm um die Flußkehre, einer der wenigen Raddampfer, die damals den Strom befuhren. Mächtige dunkle Rauchwolken stieß der hohe Schornstein aus. Man hörte das Zischen des Dampfes, den Lärm von Pleuel und Kolben, das Klatschen der mächtigen Schaufelräder, die sich wie Mühlräder unaufhörlich bewegten, mit unvorstellbarer Kraft. Ganz in der Nähe der Uferwildnis verlief der schmale Treidelpfad, den die Treidler mit ihren Pferden benutzten. Martin vernahm ihre Rufe und Flüche, das Knallen der Lederpeitschen. Schwere Fron war es für Mensch und Tier, ein Lastschiff gegen die Strömung flußaufwärts zu bewegen.-

Einmal schlich sich Martin heimlich an Bord eines Holländerfloßes, hockte sich zu den bärtigen Flößern an die gemauerte Feuerstelle, durfte von der Linsensuppe kosten und in die Blockhütten schauen. In der Vorratshütte staunte er über die Menge der Seile, Taue, Mehl- und Erbsensäcke. Von der Decke hingen geräucherte Schinken und Würste, Fische lagen auf groben Jutesäcken vor einem Stapel Brennholz. Zwischen Holz, Vorräten und Tauen entdeckte er einen Hohlraum, groß genug um hineinzuschlüpfen, eine kleine Höhle und zugleich wunderbares Versteck für einen Abenteurer, einen Flüchtigen, einen blinden Passagier. Hier, auf dem großen Floß hatte er endlich ein günstiges Plätzchen entdeckt, ein Schlupffloch. winzige Höhle der Geborgenheit, Zufallsort, sich zu verstecken und mit hinauszufahren über den großen Strom hin zum Ort seiner Sehnsucht, zu den Häfen, zum Meer.

Flucht

Fortgehen, Verschwinden, Weglaufen, kurz, die Flucht wird in alten Geschichten häufig in eine stürmische Nacht verlegt, in der Mondlicht bleich hervorlugtausflatternden Wolkenschiffen, Sturm die Äste peitscht und Schaumkronen aufwühlt. In einer solchen Sturmnacht verließ Martin das Häuschen seiner Großeltern, seinen Schuppen, seine Verstecke in Wald und Schilfdickicht, rannte hinunter zum Strom, schlich sich in einem günstigen Augenblick auf das große Holländerfloß. Er fand die Vorratshütte offen, kroch in den Verschlag hinter Brennholz und aufgeschichteten Jutesäcken, hüllte sich in seine grobe Pferdedecke, nutzte seinen Seesack mit kargen Vorräten als Kissen und fiel in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Nach so viel Anspannung, Erwartung und Ängsten kam dieser Schlaf wie ein Geschenk. Und die Gewissensbisse über sein Handeln den Großeltern gegenüber versanken in eine wohlige, dunkle, unergründliche Tiefe.

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Als Martin erwachte, wußte er lange nicht, wo er sich befand. Holzscheite waren verrutscht, deckten ihn fast zu. Durch die halboffene Türe erblickte er den Strom, silberglänzend; auf der anderen Uferseite ragten die Kegel des Siebengebirges in den Morgenhimmel. Sein Herz schlug schneller. „Ich fahre mit“, rief er laut, „wir fahren stromabwärts – Meer, Häfen. Klipper, Brigantinen – ich komme!“

Stromfahrt

Ununterbrochen ging die Flußfahrt weiter. Martin konnte durch Bretterritzen nur wenig wahrnehmen, hörte aber die Flößer Namen von Dörfern und Städten nennen: Königswinter, Go-desberg, Beuel, Bonn. Als das Floß Köln erreichte, erkannte der blinde Passagier für einen Augenblick die Umrisse des Domes. Dann vergingen die Tage auf dem Floß eintöniger. Mehr schlecht als recht lebte Martin von seinen Vorräten; zusammengekauert hockte er in seinem unbequemen Versteck, zitterte jedesmal, wenn einer der Männer die Vorratshütte betrat. Doch alles ging gut. Jeden Abend betete Martin zum Schutzpatron der Seeleute, dem heiligen Nikolaus von Myra, bat um Hilfe und Obhut, versprach – wie so viele Christenmenschen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht – auch eine Wallfahrt, kurz, er wurde richtig brav und fromm in seiner Holzhöhle. Der Pfarrer hätte seine Freude an ihm gehabt!

Nachts aber packte ihn eine bisher unbekannte Krankheit. Sie durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz, bemächtigte sich seiner Seele ganz: Martin bekam plötzlich Heimweh. Sein Herz wurde soschwerwieBlei, Kümmernis ließ ihn nichtzur Ruhe kommen. Er sehnte sich zurück nach seiner kleinen Kammer, nach der Wärme, nach duftendem Graubrot, frischer Geißenmilch, nach Eichelkaffee und Gerstensüppchen. Doch wenn er am Morgen darauf erwachte, war dieses Gefühl verschwunden wie ein Spuk. Mit Herzklopfen begrüßte er den neuen Tag, spähte durch die Bretterritzen über den Strom, sah an den Ufern hohe Deiche, hörte das Wort, das Zauberwort: Holland!

Entdeckt

Es kam, wie es kommen mußte: im gleichen Augenblick, in dem Martin aus seinem Versteck kroch, sich reckte und streckte, seine schmerzenden Glieder dehnte, erlöst aus der Enge seiner kleinen Höhle, wurde die Brettertüre geöffnet. Wie ein Riese erschien Martin der große, bärtige Flößer, der urplötzlich vor ihm stand. Er wollte zurück in sein hölzernes Refugium – zu spät! Der Flößer packte den blinden Passagier, hob ihn hoch wie ein Bündel, trug ihn nach draußen ans Tageslicht, hin zur Feuerstelle, an der die rauhen Burschen saßen und heißen Morgenkaffee tranken.

Das hatten sie, die so weit herumgekommen waren, noch nicht erlebt: ein schmächtiger Flüchtling auf ihrem Floß – rätselhaft, daß sie ihn nicht eher entdeckten!

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Zeichnungen: Johannes F. Luxem

Doch wie es im Leben so zugeht – das große Donnerwetter blieb aus. Die Reise hatte unter einem glücklichen Stern gestanden, es gab keine Unglücksfälle; das große Floß war heil geblieben, niemand erkrankt und die weite Reise ging ohnehin ihrem Ende zu.

Die rauhen Flößer befanden sich in einer ungewohnt milden Verfassung, auch der Floßführer aus dem fernen Kinzigtal ließ sich nichts anmerken. „Jo, des hämmer neames nitt g’sähne“, brummte er immerwieder, „esu e Lüesbüeble, e elendigs, e Chaib, dunderwetter noh emol!“ Er dachte an seine beiden Buben, die in Martins Alter waren – kurz und gut; dem Ausreißer geschah nichts. Man gab ihm Speise und Trank, fragte ihn aus, woher, wohin und warum, schüttelte den Kopf und ließ es dabei bewenden.

Auf der letzten Etappe der Reise mußte Martin zupacken; er avancierte zum „Moses“, zum Schiffsjungen der Flößer.

Als sie endlich ihr Ziel erreichten, ja, da gingen dem Abenteuerlustigen die Augen über. Im Hafen von Rotterdam ragte buchstäblich ein Wald von Masten in den grauen, verhangenen niederländischen Himmel und zum ersten Male roch er das Meer.

Nach Verhandlungen mit dem Superkargo einer Dreimasterbark nahm man Martin als Schiffsjungen an Bord; die Fahrt ging nach Montevideo, weiter um Kap Hörn nach Valparaiso und Antofagasta. In der Nacht vor der Abreise schrieb Martin den Großeltern einen langen Abschiedsbrief, bat sie um Vergebung und legte ihnen die Gründe seines Handelns dar.-

Großmutter, – sie konnte nicht lesen – bat den alten Flußlotsen immer wieder, ihr den Brief des Enkels vorzulesen und erst als sie den Inhalt eines Tages auswendig wußte, war der Großvater von seiner Vorlesepflicht entbunden.

Epilog

Eine lange Geschichte gäbe es, eine Geschichte mit manchem Abenteuer, mit Kummer, Heimweh und tröstlichen Stunden da draußen in der weiten Welt, wollte man die Fahrten und Erlebnisse des Matrosen und späteren Steuermanns aus dem Rheintal zwischen Vinxtbach und Ahr-mündung aufzählen.

Doch, nicht alle Ausreißergeschichten enden traurig, nicht alle Abenteuerlustigen sind verschollen! Nach vielen Jahren sorgte ein bärtiger Mann in Seemannskleidern im kleinen Rheindorf für Gesprächsstoff. Martin war zurückgekehrt, seine Wanderjahre waren vorüber. Mit unwiderstehlicher Gewalt hatte es ihn heimgetrieben, von einer Krankheit der Seele wurde er befallen, gegen die es kein Mittel gibt: Heimweh.-

Es waren die Bilder seiner Jugend, die ihn erfüllten: die Burgruine auf der anderen Rheinseite, die Burg an der Vinxtbachmündung, das enge Tal, das westwärts in die einsame Eifel führte, die Fachwerkhäuschen in den Dörfern am Strom und schließlich der Fluß selbst, der so viele Schiffe trug.

„Nachts rauscht der Strom“, sagte Martin und gedachte der Großmutter. „Es ist die Sprache des Wassers, horchen muß man und man versteht, was es erzählt!“

Fort aus der Enge des Tales wollte er nun nicht mehr. Tief in seiner ubischen Seele regte sich das Erbe der Vorfahren aus Römer- und Frankenzeit. Nach so vielen Wanderjahren, Unrast und Erlebnissen hatte er zurückgefunden in sein Nest. Selten nur erzählte er von seinen Abenteuern, von eisigen Stürmen um Kap Hörn, Koralleninseln, Taifunen und Flauten im Sargassomeer. Zuweilen holte er eine alte Ukulele, spielte sie meisterhaft, sang dazu Shanties.

Zurückgefunden hatte er über die Weite der Meere, durch Quälerei und Aufatmen, Fern-sehnsucht und Heimweh, zu Rheintal und Vinxtbach.

In seiner Predigt führte der alte Pfarrer wohlüberlegt aus, daß es für jeden eine Heimkehr gebe, ein Zurückkehren zu den Quellen, daß alle – nicht nur Abenteurer und Ausreißer – auf dem Wege dorthin seien, zum eigentlichen Zielort zwischen so vielen Hoffnungen, Zweifeln und letztlich dem großen Trost eines Wiederfindens…….Content-Disposition: form-data; name=“hjb1994.47.htm“; filename=“C:\gabriele\Heimatjahrbücher\Heimatjahrbuch1994\HJB1994.47.htm“ Content-Type: text/html

Als Pegasus die Ahr-Musen entdeckte

Siegbert Dittmann

Da hört man doch – und kann’s kaum glauben – 
daß Pegasus, jetzt ungeniert, 
beschwipst vom Wein der roten Trauben, 
die Musen an der Ahr hofiert.

Wen wunderts, wenn dem Flügel-Pferde
der Hafer sticht, – bei der Kopie?
Denn hier, wie über Hellas Erde,
schwebt längst ein Hauch von Poesie.

Und wo die Künstler nach ihm rufen, 
zumal wenn Dichter auch dabei, –
da schlägt er gern mit seinen Hufen 
die Quellen für die Musen frei!

Die Ahr im Tal der Rebenhänge, 
die Heil- und Wasserquellen hier, 
der Wein, der Wanderer Gesänge, –
für Mensch und Musen – welch Revier!

Drum auf Gefährten, auf zur Quelle! 
Hier inspiriert uns die Natur! 
Und Musen-Küsse – auch reelle –
verzaubern jede Kreatur!