Spurensuche: Erich Hertz – Ein Projekt der Geschichts-Arbeitsgemeinschaft am Peter-Joerres-Gymnasium Ahrweiler

Es begann mit einer Zeitungsnotiz. Zum Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht erschien im November 2000 ein kleiner Zeitungsartikel im General-Anzeiger, der an einen judenfeindlichen Vorfall im Jahre 1934 erinnerte. Ein jüdischer Abiturient namens Erich Hertz war damals in Ahrweiler wegen regimekritischer Äußerungen angezeigt und verhaftet worden.

Studiendirektorin Petra Jüde fiel beim Lesen dieses kleinen Zeitungsbeitrags das Stichwort „Abiturient“ auf. Abitur konnte man 1934 schließlich nur am „Realgymnasium Ahrweiler-Neuenahr“, dem heutigen Peter-Joerres-Gymnasium, machen. Es musste sich also bei dem Verhafteten um einen früheren Schüler unserer Schule handeln. Sollte es zu seiner Person noch irgendwelche Hinweise am PJG geben?

Der Schulleiter, Oberstudiendirektor Helmut Rausch, ließ sofort im Archiv der Schule nachforschen. Denn die Schule verwahrt seit den Anfängen sämtliche Abiturarbeiten, also auch die Unterlagen aus dem Jahre 1934. Man wurde sehr schnell fündig. Nicht nur die schriftlichen Abiturarbeiten von Erich Hertz waren vorhanden, sondern auch die Protokolle der mündlichen Prüfung sowie ein umfangreicher Schriftwechsel zwischen Schule, Behörden und Elternhaus, der sich aus der Verhaftung des Gymnasiasten mitten in der Abiturphase ergeben hatte. Darüber hinaus fand sich die handgeschriebene „Meldung des Oberprimaners Erich Hertz zur Reifeprüfung Ostern 1934″, die einen umfangreichen Einblick in den Lebenslauf dieses jungen Mannes bot. Beim Durchblättern der alten Bände entstand schon bald die Idee, mit interessierten Schülern des PJG die Spuren von Erich Hertz suchen zu lassen.

Im Februar 2002 begann die Geschichts-AG mit ihrer Arbeit. Acht Schüler der Jahrgangsstufe 101) zeigten großes Interesse, das Leben des ehemaligen Mitschülers vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Herrschaft zu rekonstruieren. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir bereits, dass Erich Hertz ein Opfer des antisemitischen Terrors geworden war. Denn in dem Buch „Kreis Ahrweiler unter dem Hakenkreuz“ hatte Leonhard Janta nicht nur den „Fall Erich Hertz“ publiziert, sondern auch das Todesdatum von Hertz im niederländischen Konzentrationslager Vught bei Herzogenbusch recherchiert2).

Ausgangspunkt für unsere eigenen Recherchen war die handgeschriebene Meldung von Erich Hertz zur Abiturprüfung3), der wir erste biographische Anhaltspunkte für die Spurensuche entnehmen konnten: Erich Hertz stammte aus Kleve. Dort war er am 22. August 1913 als Sohn des Kaufmanns Ludwig Hertz geboren worden. Da der Vater Niederländer war, besaß auch Erich Hertz die niederländische Staatsangehörigkeit. Von 1918 bis 1922 besuchte er die jüdische Volksschule in Kleve, anschließend kam er auf das Klever Gymnasium. Anlässlich einer Kur seiner Eltern in Bad Neuenahr wechselte Erich Hertz 1931 auf das Realgymnasium Ahrweiler-Bad Neuenahr. Erich Hertz plante nach dem Abitur nach Holland zu gehen, um dort seiner „Dienstpflicht“ zu genügen. Später wollte er sich der Tropenmedizin widmen, um nach „niederländisch Indien“ (Indonesien) zu gehen.

Erich Hertz und seine Mutter

Aufgrund dieser Angaben ging unsere Spurensuche im Internet weiter. Wir suchten die Adressen von Institutionen heraus, von denen wir vermuteten, dass sie vielleicht noch Dokumente zum Leben von Erich Hertz besitzen konnten. So machten wir recht schnell seine frühere Schule in Kleve ausfindig. Bei der Recherche von holländischen Adressen stießen wir dann über Querverweise auf eine Tilburger Liste aller jüdischen Weltkriegsopfer dieser Stadt. Darunter fanden wir völlig überraschend nicht nur den Namen Erich Hertz verzeichnet, es war auch eine Photographie von ihm ins Internet gestellt, die ihn mit seiner Mutter zeigte4). Wir wussten nun, dass nicht nur Erich Hertz die Judenverfolgung nicht überlebt hatte. Auch seine Eltern waren umgekommen. Beide starben am 14. Mai 1943 im Vernichtungslager Sobibor.

In einem nächsten Schritt nahmen wir Kontakt mit den verschiedenen Institutionen auf und baten um Mithilfe bei unserer Spurensuche. Obwohl nicht alle Adressaten antworteten, konnten wir doch kleine Fortschritte erreichen. Schon nach kurzer Zeit erhielten wir vom Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Kleve die Kopie des Abgangszeugnisses von Erich Hertz aus dem Jahre 1931. Etwas später bekamen wir auch Informationen zu den Umständen seines Todes im Konzentrationslager Vught. Erich Hertz sei dort am 5. April 1943 „auf der Flucht erschossen“ worden. Er sei von Beruf Chemietechniker gewesen und habe zuletzt in Tilburg gewohnt, teilte uns Jeroen van den Eijnde von der Stichting Nationaal Monument Kamp Vught mit.

Natürlich interessierte uns auch der „Fall Hertz“. Bei einem Besuch im Kreisarchiv Ahrweiler ermöglichte uns Kreisarchivar Leonhard Janta einen Einblick in die Akten. Dabei machten wir endlich die Adresse von Erich Hertz in Ahrweiler ausfindig, die wir in den Schulakten nicht gefunden hatten. Als auswärtiger Schüler wohnte Hertz in einer Pension in der Wilhelmstr. 75.

Besonderes Interesse rief aber ein Brief seiner Familie hervor, der den Akten beilag, weil der Adressat ihn nicht mehr bekommen hatte. Der Inhalt des Briefes verdeutlichte die große Besorgnis der Eltern um ihren Sohn, die ihm nicht etwa Vorwürfe machten, sondern ihn unterstützten und ermutigten. Dem Brief war ein Gruß von „Tante Grete“ und „Onkel Carl“ angefügt, Krefelder Verwandten, bei denen die Eltern von Erich Hertz während seiner Haft untergekommen waren, um für ihn bei den Behörden und beim niederländischen Konsulat in Köln einzutreten. Seit Ende 1933 hatten die Eltern nämlich ihren Wohnsitz nicht mehr in Deutschland, sondern waren nach Arnheim (Niederlande) umgezogen.

Wir hatten damit eine neue Spur entdeckt, die wir mit Hilfe der umfangreichen Sammlung der Bibliotheca Judaica der Kölner Stadtbibliothek weiterverfolgen konnten. Dort nutzten wir die zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte der Juden in Deutschland. Sehr schnell konnten wir die Krefelder Verwandten von Erich Hertz ausfindig machen5). Bei „Onkel Carl“ dürfte es sich um Dr. Karl Dahl handeln, geboren am 3. Mai 1890 in Bielefeld, ein jüngerer Bruder der Mutter von Erich Hertz. Dieser konnte im Dezember 1938 mit seiner Frau, Margarethe Dahl geborene Weil („Tante Grete“), und zwei Töchtern nach New York emigrieren. Sie sind damit wahrscheinlich die einzigen Familienangehörigen von Erich Hertz, die den Holocaust überlebt haben.

In einer anderen Publikation fanden wir weitere Angaben zur Familie Hertz in Kleve6). Der Vater von Erich Hertz, Ludwig Hertz, hatte in Kleve seit 1906 ein Herrenmodegeschäft unter der Firmenbezeichnung „Prince of Wales“ geführt. Ab 1914 firmierte dieses Geschäft unter dem Familiennamen. Nach den ersten Boykottaufrufen der Nationalsozialisten gegen jüdische Kaufleute im April 1933 hatte Ludwig Hertz noch im selben Jahr das Klever Geschäft geschlossen und war mit seiner Frau nach Arnheim gezogen.

Wir hatten damit bis zum Ende des Schuljahres 2001/2002 schon eine Vielzahl von Spuren zu unserem ehemaligen Mitschüler Erich Hertz gefunden. Leider blieben unsere Bemühungen, Zeitzeugen zu finden, bislang erfolglos. Darüber hinaus fehlte die Zeit, in auswärtigen Archiven nach weiteren Dokumenten zu suchen. Über Erich Hertz’ Jahre in den Niederlanden sind uns nur wenige Details bekannt geworden, so dass die Spurensuche noch nicht als abgeschlossen gelten kann.

Aber wir haben auf eine einzigartige Weise Einblick in eine Zeit gewonnen, die für uns kaum noch vorstellbar ist. Viele Fragen sind offen geblieben. Oft gab es große Schwierigkeiten zu überwinden, z.B. wenn handgeschriebene Zeugnisse mühsam entziffert oder niederländische Texte übersetzt werden mussten. Wir haben aber mit unserer Spurensuche am Schicksal von Erich Hertz und seiner Familie Anteil genommen. Erich Hertz ist für uns heute mehr als nur ein Name oder „Fall“, auch wenn seine Biographie noch nicht vollständig geklärt ist.

Im Rahmen einer kleinen Ausstellung konnten wir anlässlich des diesjährigen Schulfestes am PJG die Ergebnisse unserer Recherchen der Öffentlichkeit präsentieren. Nach wie vor freuen wir uns, wenn wir weitere Informationen über unseren ehemaligen Mitschüler erhalten. Das Projekt wird sicher in den nächsten Jahren weitergeführt.

Anmerkungen:

  1. Simon Dengg, Stefan Fuchs, Sothany Kim, Dominik Knieps, Christian May, Katrin Michels, Daniel Schlich und Tobias Schulz.
  2. Kreis Ahrweiler unter dem Hakenkreuz (Studien zu Vergangenheit und Gegenwart, Band 2), Bad Neuenahr-Ahrweiler 1989, S. 222-223.
  3. Archiv des Peter-Joerres-Gymnasiums Ahrweiler, Reifeprüfung Ostern 1934, Band I: Verhandlungen, Bll. 37-40.
  4. http://rhc.tilburg.nl/receptie/wo2/tilburg/joodseslachtoffers/pklhertz43.
    htm
  5. Dieter Hangbruch, Emigriert – Deportiert. Das Schicksal der Juden in Krefeld zwischen 1933 und 1945, in: Krefelder Juden (Krefelder Studien 2), Bonn 1980.
  6. Wolfgang Krebs, Die Klever Juden im Dritten Reich, Kleve 1999.