ZWISCHEN den FRONTEN
Am 2. November 1815 erschien am frühen Morgen ein Schiff am Remagener Ufer, das mit zweihundert Kranken und Verwundeten belegt war. Der Schiffsarzt forderte den „Ortsvorstand“ auf, diesen einige Nahrungsmittel reichen zu lassen. Dazu waren die Bewohner der Stadt um so eher bereit, als sich bald herausstellte, daß es sich um ein „Seuchenschiff“ handelte. Der überwiegende Teil der Schiffsinsassen war an Nervenfieber erkrankt. Mit Recht befürchtete man die Einschleppung der Typhus=Seuche in die Stadt, wenn nicht sofort hinreichende Hilfe geboten wurde. Es war vorauszusehen, daß dann diejenigen unter ihnen, die noch bei Kräften waren, auf eigene Faust den Hunger zu stillen suchten. Nicht nur aus reiner Nächstenliebe, sondern auch im eigenen Interesse wurden daher alsbald Kaffee, warme Suppen, Wein, Brot und Fleisch in Mengen gebracht und von einem Nebenschiff den Hilfsbedürftig gen gereicht. Hierbei bemerkten einige Remagener Mitbürger, daß die Kraftlosesten nichts erhielten und ungeachtet der reichlich herbeigeschafften Nahrungsmittel schmachten mußten. Mit christlicher „Resignation“ bestiegen nun diese Edlen selbst das Schiff und teilten auch diesen Erfrischungen aus. Mit herzlichem Dank verabschiedeten sich die Kranken; Remagens Bürger atmeten auf, als das Schiff die Weiterreise antrat. Unglücklicherweise wurden jedoch zwei der Edlen bald darauf selbst vom Fieber befallen, das sich dann in der ganzen Stadt ausbreitete. Sechs Monate wütete die Seuche in der Stadt; 130 Personen erkrankten und 48 starben. Nachrichten von einer großen Schlacht, die Napoleon Bonapartes Schicksal besiegelt habe, ließen die Herzen vieler Einwohner höher schlagen. Mit Sehnsucht erwartete man die Ankunft der Verbündeten. In der Nacht vom 51. Dezember zum i. Januar 1814 setzten die deutsch=alliierten Truppen an verschiedenen Plätzen über den Rhein. Diese Nachricht verbreitete sich am Neujahrstage in aller Frühe in der Stadt und wurde auch gleich durch die Ankunft der „Douaniers“ bestätigt, die ihren Posten „an der Krippe“ verlassen hatten. Von Andernach waren die „Gendarmes“ abgezogen. Mit dieser eigenmächtigen „Retirade“ war jedoch der Stadtkommandant nicht einverstanden. Unter Androhung der Todesstrafe erzwang er die Wiederbesetzung des Postens in Kripp. Am Nachmittag trafen bereits die ersten Kosaken in Kripp ein, die den Posten aufhoben. In großer Bestürzung zogen nun die „Douaniers“ und „Gendarmes“ ab, um zu den bei Mehlem stehenden französischen Truppen-Korps zu stoßen.
In aller Eile ließ nun der französische Stadtkommandant die Tore „verrammeln“ und machte Anstalten, als wolle er sich hier bis auf den letzten Mann verteidigen, versicherte sogar, hier sterben zu wollen. In der Nacht zum 2. Januar herrschte plötzlich eine tiefe Stille auf dem Markte und in allen Straßen. Schüchtern öffneten einige Bürger ihre Fenster und wurden nun gewahr, daß die Franzosen in aller Eile abgezogen waren. Freundnachbarlich besuchten sich die frohen Einwohner, wünschten sich wechselseitig Glück über dieses langersehnte Ereignis und bereiteten sich auf die Ankunft der verbündeten Truppen vor. Daß aber noch 14 Tage des Hangens und Bangens durchzustehen waren, in denen die Stadt gleichsam zwischen den Fronten lag und einmal die Franzosen, dann wieder die Kosaken beherbergte, konnte in dieser Nacht niemand ahnen. In dieser Nacht gab man sich ganz dem Glück der Stunde hin.
Schon vor Anbruch des 2. Januar hatten viele Einwohner von Erpel über den Rhein gesetzt, um hier der Dinge zu harren, die da kommen mußten. Zwei Männer aus Erpel, die sich als Landwehrmänner ausgaben, wollten vor dem inneren Stadttor an zwei sich mühsam dahinschleppenden Franzosen ihren kriegerischen Mut zuerst zeigen. Glücklicherweise wurden sie von zwei Remagener Bürgern daran gehindert, da dies für die Stadt die nachteiligsten Folgen hätte haben können. Während gegen g Uhr morgens die Erwartung der verbündeten Truppen allgemein war, verbreitete sich auf einmal die Nachricht, die Franzosen kämen wieder zurück. Sie war nur zu begründet. Gleich darauf stellten sich die nämlichen Truppen, die die Stadt in der Nacht verlassen hatten, auf dem hiesigen Markte auf. Infanterie und Chasseurs zogen nach Kripp. Von den beiden Kirchtürmen und von den Dächern der Häuser konnte man bald das Scharmützel zwischen den Franzosen und Kosaken gut beobachten. Gegen 1 Uhr mittags zogen sich die Franzosen wieder zurück, verfolgt von den Kosaken. Nachdem diese sich versichert hatten, daß sie keinen Feind mehr im Rücken hatten, zogen ungefähr 30 Kosaken und 300 Jäger zu Fuß in die Stadt ein. Sehr freundlich und freudig wurden sie empfangen und mit Bier, Wein, Branntwein und Speisen bewirtet. Nachdem sie treuherzig die Versicherung abgegeben hatten, unaufhaltsam nach Paris zu reisen, setzten sie ihren Weg fort, um die Franzosen zu verfolgen. Da aber ihre Zahl sich nicht vermehrte, sah mancher sie nur mit einem beklemmenden Gefühl abmarschieren.
Mittlerweile hatten sich über 2000 Menschen aus den benachbarten Ortschaften und von der ändern Rheinseite in Remagen eingefunden, um an dem freudigen Ereignis teilzunehmen. Die „Rechtsrheinischen“ hatten eine Menge hier verbotener Waren und Zeitungen mitgebracht. In der Hoffnung einer glücklichen Expedition der Russen überließen sie sich ganz der Freude. In allen Schenken floß „Elfer“ Wein, vergessen war der Kriegsdruck, und an den künftigen dachte man nicht, weil man sich goldene Berge versprach. Man überließ sich ganz der frohen Gegenwart. Leider wurde diese hoffnungsvolle Stimmung durch einen dahersprengenden Gaul ohne Reiter getrübt. Während man sich noch nach der Ursache erkundigte, kam ein russischer Offizier dahergesprengt. Bald verbreitete sich das Gerücht, die Russen seien in Oberwinter geschlagen und auf der „Retirade“. Ein Donnerschlag für die Bewohner von Remagen, mehr noch aber für die „jenseitigen“ Freunde und besonders für die beiden Landwehrmänner, die noch am Morgen Beweise ihrer Tapferkeit geben wollten, wenn nicht zwei verständige Remagener Bürger, darunter der Beigeordnete Raucamp, eingeschritten wären! Auf schnellen Rückzug bedacht, eilten nun die eben noch so Frohgestimmten in Scharen zum Rhein. Bald waren alle Nachen derart überfüllt, daß sie nicht ohne Lebensgefahr den Rhein passierten. Die Russen „retinerten“ wirklich in großer Unordnung und suchten sich in der Nacht der Verfolgung durch die Franzosen zu entziehen. Siegreich zogen diese in Remagen ein und verkündeten ihren großen Sieg. Ein Teil setzte den Russen bis Sinzig, ein anderer sogar „bis auf die Brohl“ nach. Von dort kehrten sie am 3. Januar zurück und brachten einen gewissen Schneider aus Rheinbreitbach mit, der den Russen als Dolmetscher gedient hatte. Nun erlebte Remagen sehr harte Tage, Die Stadt war der letzte Stützpunkt der Franzosen, und mit Sinzig bestand keinerlei Verbindung mehr. Wachtfeuer auf dem Markte setzten die Stadt großer Gefahr aus. Am 6. Januar kam ein weiteres „Detachement“ von 100 Franzosen, die Feuer an die am Ufer liegenden Schiffe legten. Als das Feuer das benachbarte Haus des“ Empfängers ergriff, bat man den Kommandanten aufs dringendste, das Löschen des Feuers zu erlauben. Er gestattete dies unter der Bedingung, daß die Einwohner auf andere Art und Weise die Schiffe unbrauchbar machen würden. Eine Menge Männer erschien eilends mit „Brechzen“ und sie schlugen kräftig auf die Schiffe ein, jedoch mit der verkehrten Seite. Die Franzosen zogen sich auf ihre Posten zurück, so daß die Schiffe bis auf zwei gerettet werden konnten.
Am 10. Januar erschien der ehemalige Kommandant Aumönd, begleitet von einem Detachement Chasseur, und stellte auf dem „Maire=Bureau“ (Bürgermeisteramt) eine förmliche Untersuchung an über einige ihm zu Ohren gekommene Klagen:
a) Zuerst ließ er den hiesigen Posthalter Caspar Faßbender rufen und warf ihm vor, er habe sich schon an dem Tage, an dem die Russen zum erstenmal in Remagen waren, eine von dem österreichischen Feldmarschall Fürst von Schwarzenberg erlassene Postverordnung zu verschaffen gewußt. Dieser leugnete nicht, ein solches Exemplar zu besitzen. Da die Verordnung auf der ändern Rheinseite allenthalben verkündet sei, habe seine Verwandte aus Linz ihm dieselbe hierher gebracht. Er ließ sich das Exemplar zeigen und entließ ihn mit dem Bemerken, dergleichen in Zukunft sofort der Militärbehörde zuzustellen, wenn er nicht als Spion behandelt werden wolle.
b) Er warf den auf dem „Bureau“ Gegenwärtigen vor, daß die Einwohner von Remagen an dem gleichen Tage Salz, Tabak und andere verbotene Waren geschmuggelt hätten. Man erwiderte, daß diese Waren von den „Jenseitigen“ hierher gebracht worden seien.
c) Dann warf er der Gemeinde Remagen vor, Branntwein für die Russen beschafft zu haben. Herr Notar Queckenberg antwortete, dieser Branntweinvorrat sei für alle passierenden Truppen angeschafft worden.
d) Zuletzt sagte er, die für Frankreich nachteiligen Gesinnungen bewiesen sich am deutlichsten dadurch, daß das „Billettenbuch“ bereits in deutscher Sprache abgefaßt wäre. Herr Notar Queckenberg, der mit der Abfassung des Buches beschäftigt war, erklärte, dies sei ein Buch, das einzusehen jeder Bürger ein Recht habe. Da nun nicht jeder der französischen Sprache mächtig sei, so verstehe es sich von selbst, daß dasselbe in deutscher Sprache abgefaßt sei. Damit endete der bald höfliche, bald stürmische Wortwechsel. Herr Aumönd entfernte sich, dessen Erscheinen anfangs Furcht erregt hatte.
Am 11. Januar brachte ein von hier nach Ahrweiler geschickter junger Mann um 11 Uhr vormittags die Nachricht, er habe dort Kosaken gesehen, die einige Chasseurs gefangen genommen hätten. Diese Mitteilung wurde dem hier kommandierenden „Chasseur Lieutnant“ übermittelt, der dem jungen Mann befahl, die Wahrheit zu sagen und ihn aufzuhängen drohte, wenn seine Auskunft falsch sei. Da dieser jedoch auf seiner Aussage bestand, verließen die Franzosen noch am nämlichen Abend den hiesigen Posten, weil sie befürchteten, die Kosaken könnten über die Grafschaft und durch „die Unkelbach“ am Rhein erscheinen und sie von ihren rückwärtigen Verbindungen abschneiden. Sie zogen sich bis Oberwinter zurück. In den nächsten Tagen waren morgens die Russen, nachmittags die Franzosen Herr der Stadt. Am 15. 1. 1814 rückten die Russen in größerer Zahl hier ein und setzten nun ihren Vormarsch fort bis Bonn. Remagen war endlich frei.