Zwischen Bergen und Quellen

Weitere Erinnerungen an Neuenohr

VON JOSEF RULAND

Auch in Neuenahr begann die Vorweihnachtszeit bereits mit dem „Merteszoch“ und allem, was damit zusammenhing. Der große Zug, der von „“Woedem“ nach Hemmessen führte, dort drehte und am Bahnhof in Neuenahr oder auf dem Schulplatz seine Endstation fand, war das Zeichen schulischer Wirksamkeit. Die Lehrer leiteten ihn, bildeten auch zur Hauptsache die Kommission, welche die Fackeln prämiierte, und Rektor Weber hielt jedesmal eine kleine Rede. Die Bürgerschaft beteiligte sich hieran durch Spenden verschiedener Preise, worunter zum Beispiel Würste und „Herzemänner“, meist also recht handfeste Dinge, gehörten. Daneben gab es aber noch die „Mertesföier“, die für uns junges Volk wesentlicher und wirklicher waren. Hier mußten wir uns einsetzen, mußten „dötzen“ und Brennmaterial herbeischleppen, das oberhalb von „Dotze-Hüll“ aufgestapelt wurde, und mußten noch dafür sorgen, daß dieser Stapel von irgendwelchen „Woedemern“ nicht vorzeitig abgebrannt wurde. Bei derlei Gelegenheit zeigten sich gewisse uralte lokalpatriotische Elemente, die auch sonst nicht ganz verschüttet lagen, sondern sehr schnell an die Oberfläche kamen. „Dötzen“ mußten wir Kleineren. Je zwei bekamen einen „Bunneroom“ auf die Schulter, in den hinein sie alte Körbe, Pappschachteln und mit Holzwolle gefüllte Säcke stießen, soviel sie nur eben bekamen und zu tragen vermochten.

Dotz, Dotz, Diljen Dotz,
Jett ans en ahle Mertesklotz
onn en Bot Strüh,
onn en Sack voll Flüh —
laßt uns nicht zulange stehn,
denn wir müssen weitergehn.

So lautete das Verslein, das wir hundertmal sangen, wobei uns der Schweiß von der Stirn rann.

Nicht immer ging das gefahrlos vor sich, denn oft genug stießen wir bei unseren Patrouillengangen nach „Woedem“, wo die großen Geschäfte lagen und damit mehr Brennmaterial abfallen konnte, auf gleichlaufende „Woedemer Doetzer“. Im Handumdrehen war dann eine richtige Prügelei im Gange, und oft brachten wir die Beute gar nicht über die Ahr.

Die Größeren freilich hatten sich die Sache leichter gemacht, denn sie beschäftigten sich, wie sie uns immer wieder klarmachten, wenn wir aufmuckten, nur mit den großen Beutefahrten. Das nämlich war wahr. Häufig kamen sie mit Pferdefuhrwerken voll Beute oben an „Dotze-Hiill“ an, gegen die sich unsere „Bunneroom“ wirklich bescheiden ausnahmen.

Überhaupt herrschte, um das an dieser Stelle einzuschieben, unter der Neuenahrer Jugend das Recht des Stärkeren und Älteren. Wenn wir auf unserem „Damenschoner“ den Abfall und die Erde zum Dreckloch jenseits der Ahr brachten, dann hatte ich als Jüngerer die Pflicht und Schuldigkeit, auf dem Heimweg den Bruder zu ziehen. Der hatte sich auf die Leitern an beiden Seiten des Wagens ein Brett quer gelegt, eine Leine an meinen Oberarm festgemacht und dirigierte mich fröhlich pfeifend als sein Rößlein nach Hause, indes ich vorne an innerlich ergrimmte. Einmal stieß ein Kurgast auf das ungleiche Gespann und schimpfte meinen Bruder zusammen: „Es ist doch unerhört, daß der Ältere sich von dem Kleinen ziehen läßt“, aber als der Herr aus Sichtweite war, begann das Feudalverhältnis von neuem. Mein Bruder und seine Altersklasse wiederum liefen, wenn die Gesellen aus Dahrs Backstube pfiffen oder wenn Bichlers Philipp, der in unserem Hause das elektrische Licht anlegte, eine Besorgung erledigt haben wollte.

Ebenso ausgeprägt war das auch beim „Mertesföier“. „Wir Kleinen durften zwar dötzen, uns die Kehlen heiser schreien und Schläge einstecken, aber den Stoß zu bewachen, ihn gar zu entzünden oder auch nur abbrennen zu sehen, dazu waren wir leider noch nicht berufen. Nur einmal, unser „Zoch“ war noch gar nicht beendet, ließen wir die anderen weiterwandern und liefen, so schnell es ging, quer durch Neuenahr zur „Dotze-Hüll“ hinauf, wo viele größere Burschen und auch Erwachsene um den Stoß standen und sahen zu, wie er langsam in sich zusammenfiel. Ob auch einer von Brandmeister Micks Mannen dabei war, um hier der Aufsichtspflicht zu genügen, wie an den großen Feuerwerken zu Pfingsten und gegen Herbst auch, das weiß ich nicht mehr. Übrigens waren die Feuer nicht immer an der gleichen Stelle. Manchmal waren sie auf der „Hüpe-Wiss“, dann an „Herente-Hüll“ oder unten „in der Held“. Die Neuenahrer Feuerwehr war uns sehr vertraut, stand doch auf dem Schulhof der Übungsturm, an dem bei den Feuerwehrtreffen die halsbrecherischen Kunststücke geübt wurde. Der Sprung ins Sprungtuch, oder aber die Bergung durch den Zeltbahnenschlauch von dem 4. Stock herunter gehörten zu den alljährlich bestaunten großen Nummern der freiwilligen Feuerwehr. Noch gut weiß ich, wie plötzlich in einer Sylvesternacht — es muß im Jahr 1924 gewesen sein — jemand mich aus dem Bett holte, in Decken wickelte und auf den Balkon trug, von wo aus ich gleich hinter dem viereckigen Turm des großen Maschinenhauses der Kurverwaltung aus dem Dach des Kurhauses Röte aufsteigen sah, die in den Rauchwolken sich spiegelte. Ganz tief ist das Erlebnis in der Erinnerung haften geblieben, wie jedermann begreifen wird. Allzu nahe war das Feuer, doch die Angst der Erwachsenen vor dem Übergriff der Flammen übertrug sich nicht auf die Kinder. Diese nämlich bewunderten das nächtliche Schauspiel, wurden freudig ergriffen von der Unruhe, die aus der Straße heraufklang, hörten die Männer laufen, nach Wasserschläuchen suchen und horchten nach dem Klang der Feuer-Sirenen. Am anderen Tage wurde hinter der Hand erzählt, das Feuer in der Sylvesternacht habe wenig zum Ruhme der Feuerwehr beigetragen, sei doch ein Teil der Feuerwehrleute wegen des reichlich genossenen Sylvesterpunsches nicht in der Lage gewesen, richtig einzugreifen. Im allgemeinen wurde darüber gelacht, denn ein Trunk an Sylvester, der gehörte zum Leben. Denn auch in Neuenahr konnte man leben, und es waren nicht ausschließlich glücks-gütergesegnete Kurgäste, die sich das erlauben wollten. Wir Einheimischen, obgleich durchweg mit weniger finanziellen Gütern bedacht, standen in diesem Willen der zahlreichen Konkurrenz von außen nicht nach. Ich hörte das immer aus gewissen Unterhaltungen der Erwachsenen heraus, die nach besonders festlichen Tagen lange darüber sprachen. Mit guten Gründen konnten die Neuenahrer den damals überaus beliebten Schlager ,,Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“ abwandelnd singen: „Ich hab‘ mein Herz im Tal der Ahr verloren . . .“. Jedoch, um in unserer Welt zu bleiben, vorläufig freuten wir uns „op Nikeloos“. Sein Auftreten, besonders das von Hans Muff, -war uns eigentlich noch wichtiger als das des Christkindchens am heiligen Abend. Dessen Schätze durfte man sicher sein, während „Nikeloos“ und „Hans Muff“ neben Belohnungen auch Ruten mitbrachten und mitunter kräftigen Gebrauch davon machten. „Waat, bes der heilige Mann kütt“, wie oft hörten wir das in den letzten Tagen des Novembers und in den ersten Tagen des Dezembers. Es fehlte nicht an gewitzten Schulkameraden, die immer wieder versicherten, nur ein Pappdeckel unter dem Hosenboden könne die drohenden Schläge mildern. „Verbrochen“, wie wir es nannten, hatten wir alle etwas, und oft genug war auch ich in Versuchung, mit diesem Rezepte Linderung zu erzielen. Aber im letzten Augenblick fehlte mir dann der Mut. Einmal war ich beim Herannahen der polternden Schritte wie ein Blitz unter dem Tisch verschwunden, von wo mich aber Hans Muff knurrend hervorholte, indes der Bruder mit indianischer Abhärtung seine Strafen bereits ertrug. Daß irgendeiner unter uns von dieser stummen Drohung und Belastung in dieser winterlichen Jahreszeit seelische Schäden davongetragen habe, dafür waren wir vielleicht alle zu einfach ausgestattet. Lohn und Strafe, Tadel und Lob gehörten so selbstverständlich zu unserem Dasein, wie nur irgendetwas. Dennoch vergesse ich nie diese Tage, da wir abends vom Fenster aus in den Lichtkreis der Lampe auf der Mittelstraßenkreuzung spähten, oh da nicht zwei Gestalten, die eine mit Bischofsmütze, die andere mit Sack und Rute auf unser Haus zu kämen. Vornehmere Paare ließen sich bereits fahren. Da es in Neuenahr damals an Mietdroschken nicht mangelte, war das ein alltägliches Geräusch. Aber am „Nikeloosowend“ das Geräusch eines leichteren Pferdefuhrwerks zu hören, das versetzte das Blut doch in leichte Erregung. Vor allem wurde vom „Nikeloos“ nach Schulleistungen gefragt und oft genug wurde uns im ersten und auch im zweiten oder dritten Schuljahr ein Schulbuch in die Hand gedrückt, etwa „Hei, leicht und lustig“, „Der bunte Garten“ oder „Das goldene Tor“ mit der Bemerkung, man möge doch etwas daraus vorlesen. Gott, wurde dann gestottert und gezappelt. Meist fühlte sich dann Mutter berufen, helfend einzugreifen, während der Vater im Hintergrund die Szene still genoß.

Als Meßdiener in der Kirche hatte man es in dieser Zeit nicht leicht. Morgens bei der Frühmesse war es noch ziemlich dunkel und still, aber für Anfänger besser, da dann etwaige Fehler nicht so auffielen. Aber auch hier übten die Älteren, die Obermeßdiener, ein strenges Regiment. Ihre Aufstellungen zum Dienen waren unanfechtbar, ihre Diensteinteilung zu Weihnachten unwiderruflich. Wer nicht konnte oder mochte, hatte sich bereits um das Recht gebracht, denn Meßdiener hatten wir immer genug.

In deren Kreis aufgenommen zu werden, war nicht ganz einfach. Meist sagte der Kaplan vormittags im Unterricht: „Du und du, ihr kommt heute nachmittag einmal zum Meßdienerunterricht.“ Puterrot wurden dann die Köpfe vor Stolz, indes die Nichterwähnten ihre Enttäuschung hinter der verächtlichen Bemerkung „Stömmelchensdrääjer“ verbargen. Was es damit auf sich hatte, davon später. Nach einer Zeit des Unterrichts, den teils der Kaplan, oder aber zu unserer Zeit, da Kaplan Kirschweng nicht besondere Neigung dazu hatte, der Obermeßdiener leitete, erfolgte dann die Meßdienertaufe. Vor dem Eingang zur Sakristei standen auf einem kahlen Beet neben der Rosenkranzkirche mehrere alte Eiben. Dort mußten wir uns versammeln und warten, bis der Küster die Sakristei aufschloß. In dieser Zeit wurde gespielt, meist „Vcrstäächc“, wozu die alten, weit auf den Boden reichenden Bäume und Sträucher treffliche Gelegenheit boten. Wir Kleineren hatten im Eifer des Spiels nicht gemerkt, daß die Größeren tuschelnd beieinander standen. Plötzlich, wir verharrten ganz erschreckt, stürzten sie auf uns zu, packten Schulter und Beine und eins — zwei—drei wurden wir mit kräftigem Schwünge in das Astwerk der Eiben hineingeworfen, von wo wir, uns vergebens festklammernd, dürres Holz nachreißend, regelrecht zu Boden tropften. Dreimal geschah das, dann waren wir „jedöift“. Als diese Knabenweihe zu Ende war, begriffen wir endlich den Vorgang, der uns dann aber mit Stolz erfüllte. Nun waren wir keine absoluten Anfänger mehr, sondern aufgenommen in den Kreis der „Messedeencr“. Allerdings, „Stömmelchensdrääjer“ blieben wir noch lange Zeit. Der Ausdruck rührte von folgendem: Bei großen Messen und Hochämtern an Feiertagen trugen sechs jüngere Meßdiener Kerzen, die zum Evangelium, zur Wandlung und zur Kommunion brennend aus der Sakristei hereingetragen und feierlich an den Altarstufen aufgestellt wurden. Heutzutage würde man ein solches Amt hochtrabender als „ccrifcrarius“ ausgeben, für uns genügte „Stömmelchensdrääjer“, worin Verachtung und Anerkennung zugleich lagen.

Der Küster Zimmermann überwachte von der Sakristei den feierlichen An- und Abmarsch der sechs Kerzenträger, die mit den langen Kitteln und den großen, in Eisenständern ruhenden Kerzen genug Mühe hatten. Unser Obermeßdiener, ich glaube, es war damals Heinz Schmickler, der Sohn des Schulhausmeisters, kam gemessenen Schrittes hinter uns her. Wer alle zu diesen Auserlesenen gehörte, habe ich leider vergessen, meine nur, „Schumacherscb-Ejon“ und „ Ullrichs-Jottfried“ seien dabei gewesen.

So mußten wir also auch für Weihnachten und das „Drei-Häre-Amt“ üben, eine Aufgabe, die den ganzen Advent füllte. Damals kannte mannoch nicht den Adventskranz in den Neuenahrer Familien. Die Vorbereitungen der Kinder bestanden darin, brav zu sein, für das Krippchen zu basteln, einer Arbeit, der wir uns mit Wonne hingaben, und außerdem anzuhören, daß das Christkind dieses Jahr arm sei. Es sei nicht vergessen, daß diese Jahre nach dem ersten Weltkrieg wahrhaftig nicht gerade reich gesegnet waren. Unsere Wünsche waren bescheiden: Handschuhe, Schlitten, vielleicht ein Buch oder aber, und das war schon viel, ein Stabilbaukasten oder einer von Märklin. Wenn man mich ehrlich befragt hätte nach meinem sehnlichsten Wunsch, dann hätte ich wahrscheinlich gesagt: „E’ne Domm“. Nur der Neuenahrer weiß, was dann gemeint ist: Ein richtiger „Nickelbomm“, entnommen den großen Kugellagern der Lastwagen, in seiner blankpolierten Kugelgestalt das Ideal eines makellosen Gegenstandes, das Sinnbild der Vollkommenheit. Man konnte mit solchem „Bomm“ herrlich „Müh“ spielen, denn er lag zielsicher in der Hand und brachte bei richtiger Anwendung ein Vermögen an Klickern ein. Bei Lück oder in anderen Werkstätten gab es diese Kugeln, aber nie habe ich eine neue bekommen. Nicht der Einzige war ich, dem an der kleinen, aber schweren Metallkugel so viel gelegen war. Wo immer wir Jungen in der Klickersaison zusammenstanden und darüber sprachen, dort hieß es: „Ja, hält cch su ne Bomm jehatt‘, oder „Jäww mer de richtige Bomm unn ech jcwiime bahl jeed Spill“. Vielleicht verbarg sich hinter dieser Verherrlichung eines leblosen, doch immerhin vollendeten Gegenstandes ein letzter Rest von Fetischismus, dem wir bedenkenlos huldigten. Einst, in der Biblischen Geschichte, polterten dem kleinen Grau aus Hemmessen einige Steine aus der Tasche, jene Quarzite, die, mit goldartigen Kupferschichten schwach bedeckt, überall in den Bergen zu finden sind. Wie erschrak der Kaplan, als er das dumpfe Bummern der Steine über den Holzsitz und Holzboden hörte. „Wo hast du diese her?“ fragte er, und der Grau antwortete: „Gefunden“. „Soso, und weshalb bringst du sie mit in die Schule ?“ Dem kleinen Grau mochte keine bessere Antwort einfallen, denn er stotterte: „Wir, wir brauchen die zu Hause!“ Nun war Herrn Kirschwengs Aufmerksamkeit vollends geweckt. „So“, das mochte ihn, nach Neuigkeiten und Besonderheiten ohnehin als Dichter ewig auf der Suche, näher angehen, „was tut ihr denn damit?“ Des kleinen Graus Antwortvorrat war erschöpft. Wir alle hätten keine Antwort mehr geben können. Herr Kirschweng mußte doch wissen, daß es in unser aller Hosentaschen Dinge gab, deren Verhältnis zum Besitzer ganz tief in jene seelische Schichten hineinreicht, über die der Mensch noch nichts Genaues sagen kann. „Na, wird’s bald“, klang die unwirsche Stimme von Herrn Kirschweng über unsere Köpfe hinweg. Niemand konnte dem Grau helfen, selbst wenn er es gewollt hätte. „Ich — wir . . . „, die kleine Stimme wurde unhörbar und setzte dann aus. „Was, wir?“, kam die Gegenfrage, „du mußt dir doch etwas gedacht haben.“ Gewiß, das hatten wir immer, aber die Logik des jungen Menschen ist nicht die des Erwachsenen, und sie war, wie die Erfahrung gelehrt hatte, für den Erwachsenen auch nicht nachzugehen. Herr Kirschweng stellte sich vor den kleinen Grau hin, der mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand. Sein Adamsapfel ruckte, als er mehrmals Ziim Sprechen ansetzte, man spürte förmlich, wie der kleine Kopf versuchte, dem Willen des Kaplans nach einer rationalen Begründung nachzukommen. „Nun?“ Auf der Stirn von Herrn Kirschweng standen zwei steile Falten, bestes Zeichen dessen, daß auch er versuchte, hinter das Geheimnis der Steine zu kommen. „Ich — wir — „wir wollten davon Schmirgelpapier machen“, kam es endlich aus dem kleinen Menschen vor ihm. „So, kann man das denn?“ wandte sich Herr Kirschweng an uns. Ich selbst hatte noch nie davon gehört, aber andere wollten davon gewußt haben. „Ja, ja“, riefen sie durcheinander, froh der unerquicklichen Szene damit ein Ende machen zu können. Dennoch endete diese Stunde mit einer unbeantwortet gebliebenen Frage. Sie mußte es bleiben, denn niemand hätte die Frage beantworten können, weil ein Abschnitt der Menschheitsgeschichte durchschaubar geworden wäre, vor den eine gütige oder grausame Vorsehung aber immer noch den Vorhang der Undurchdringlichkeit gehangen hat.

St. Willibrordi-Kirche in Beul-Bad Neuenahr
Foto: Walter Vollrath

Der erste Auftritt unserer „Stömmelchensdrääjer“-Gruppe vollzog sich unruhig. Woran es lag, weiß ich nicht. Wir hatten geübt und geübt, waren aus- und eingezogen, aber dann gefiel es Heinz Schmickler nicht, dann dem Küster Zimmermann, der klein und mit zusammengekniffenen Augen an den Stufen stand, die zur Sakristei hinabführten, dann auch Pastor Lehnen nicht, der zwar gütig war, aber in diesen Dingen nicht mit sich spaßen ließ. Diese Unruhe blieb in uns bis zur Weihnachtsmette, die morgens um 5 Uhr begann. Früh genug waren wir alle zu Hause losgezogen, die Gedanken noch an die Geschenke hängend, die daheim unter dem Baum blieben, während draußen der Sturm über die Ahrbrücke brauste und in den hohen Bäumen des Kurparks knarrte und stöhnte. Alle waren sie bereits in der Sakristei versammelt, als ich eintraf. Flüsternd zogen wir uns um, nicht ohne Sorge die langen Röckel musternd, die beim Aufstehen oft genug hinderten und rasche Bewegungen unmöglich machten. Aber zunächst lief alles glatt. Der Küster stand ganz zufrieden zwischen den Säulen, die den Chor von der Sakristei abschirmten, der Kirchenchor sang, und wir gaben unser Bestes. Dann jedoch, als wir nach der Wandlung aufstehen mußten, um paarweise gruppiert mit den brennenden Kerzen in die Sakristei zu ziehen, geschah das Gefürchtete. Mein Vordermann, wenn ich nicht irre, war es eitler von Jochemichs Jungen, trat zurück, um mit seinem Partner die Kommunionbank zu schließen. Leicht nur streifte er meine Kerze, sie schwankte, und ehe ich zugreifen konnte, fiel sie. Bumms — tat es, denn oben um die Flamme saß ein birnenförmiger Glasbchälter, der nun natürlich mit lautem, dumpfem Ton auf den Fliesen zerschellte. Kaplan Kirschweng schaute sich tadelnd um, Schmicklersch Heinz drohte mir mit den Augen und Küster Zimmermann gab mir durch Gebärden zu verstehen, in der Sakristei würde mich das Entsprechende erwarten. Mir wurde schlagartig heiß unter dem Röckel, als ob der Kragen zu eng wäre. Geschäftig huschte Herr Zimmermann heran und kehrte, verdeckt durch die Kommunionbank, die Scherben zusammen, während ich immer noch nach meiner Kerze starrte, deren Flamme erloschen war. Als wir kurze Zeit später in die Sakristei zogen, erhielt ich schon vor der Tür von Herrn Zimmermann ein paar Katzenköpfe. Alle grinsten über meine Ungeschicklichkeit. Nach der Mette stürzte ich sofort nach Hause, wo ich mich ins Bett legte und über Fieber klagte.

In der Erinnerung kommt es mir so vor, als habe in Neuenahr zu unserer Jugendzeit immer um Weihnachten herum Schnee gelegen, während es in Wirklichkeit nicht so gewesen ist. Ich weiß es darum, weil ich einmal vom Christkind einen kleinen Rodelschlitten bekam, den ich mehrere Winter hindurch nicht richtig benutzen konnte. Im Vertrauen gesagt: so ein guter handgezimmerter Kastenschlitten wäre mir damals viel lieber gewesen, nicht allein deswegen, weil er um seiner schmaleren Kufen willen schnellere Fahrt versprach, sondern weil der altmodische, aber damals noch gängige Schlitten nach außen das Privilegienzeichen für derbsten Sprachgebrauch und jene saloppe Haltung darstellte, die auch unter Fremden den echten Eingeborenen verriet. Auf nichts aber waren wir kleinen Burschen mehr aus als auf diese betonte Nachlässigkeit. Sie gab erst dasjenige Lebensgefühl, das man zum rechten Bewußtwerden seiner selbst braucht. Wenn wir sagen konnten: „Dat es menge Fröngkd“, dann verliehen wir diesem Gefühl Sprache. Wenn wir in kleinen Horden von der Schule nach Hause zockelten oder gemeinsam ,,op de Schliddebahn“ zogen, waren wir selig. Der junge Mensch, so will mir scheinen, braucht die Gemeinschaft, denn in ihr darf er sein Wesen entfalten. Wenn wir zu zweien oder gar zu dritt mit über die Schulter verschränkten Armen heimwärts gingen, vielleicht von Hochgürtels Schwimmbad oder etwa das Hüpe-Pädche hinab die Kirchstraße an Pastor Flock entlang zum alten Klarissen-Kloster, in dem nur Auserwählte die Messe dienten, dann, ja dann war ein Schimmer jenes Zustande» erreicht, den Ovid und andere das goldene Zeitalter nannten. Das Paradies in Neuenahr? Wohl gab es eine Parzelle „em Paradies-Jaade“ genannt, aber ob das allein für das ehrwürdige Prädikat langen konnte? Doch, wie es so zu gehen pflegt — im Paradies selbst folgte ja auf die menschlichen Höhenflüge ein beschämender Absturz — so auch unter uns. Leider hielten alle diese Freundschaften nicht allzu lange. Steinborns-Menn konnte noch so schön im Garten spielen und mit seiner blühenden Phantasie — Joseph der Träumer wurde er drum vom Kaplan genannt — Vogelbegräbnisse begehen, die einem ausgemachten Staatsbegräbnis im Zeremoniell in nichts nachstanden, wenn wir genug hatten, schlössen wir uns anderen Gruppen an. Heute spielte man bei den Krells Jungen, davon der ältere Max, wegen seiner langen Haare im ganzen Ahrtal bekannt war, morgen mit den Söhnen von Major Braun, übermorgen stand man. stundenlang vor Heils Papagei, und den Tag darauf wieder führte der Erlebnisdrang zum Posthaus auf der Schweizer Straße, wo die Mauruschat wohnten, Kranze und noch viele andere Familien.

Sobald der Schnee lag, führte uns Kleineren der Weg zur Hüpe-Wiss, wo unbesorgt gerodelt werden konnte, weil kein Fuhrwerkverkehr hinderte. Hier hatte ich ein Erlebnis, das die Paradiesvorstellungen aufs grausamste zerstörte, wenn auch nicht für immer. Das war, sofern ich nicht irre, im harten Winter 1928/29, da unsereins immerhin schon ins dritte Schuljahr ging, aber trotz des Stolzes auf die eigene Leistung zu den Jungen vom siebenten und achten Schuljahr wie zu kleinen Herrgöttern emporschaute. Wenn die „Bahn frei“ riefen, dann sprangen wir beiseite, denn gewöhnlich hatten sie zwei oder gar drei Schlitten aneinander gebunden, auf den kleinen Kastenschlitten als Lenkschlitten einen Knaben unserer Altersklasse gesetzt und rasten mit dem Gefährt den Hügel hinab. Wehe dem, der nicht schnell genug Platz machte!

Wieder einmal fuhr ich auf meinem kleinen Rodler abwärts; es ging auch ganz schnell, aber nicht schnell genug, wie mir der Knips bewies, der bäuchlings hinter mir hergeschossen kam. Ehe ich mich’s versah, hatte er mich eingeholt und mit einem kühnen Griff in eine Grube auf der linken Fahrbahnseite gestoßen, die sicherlich von einer Rübenmiete herrührte. Paff— fiel ich in die mit Schnee gefüllte Grube, Mund, Nase und Ohren voll Schnee, aber nicht so voll, daß ich nicht ob dieser Ungerechtigkeit ein lautes Gebrüll hätte anstimmen können. Wie Joseph im Brunnen kam ich mir vor, denn solche biblischen Vergleiche lagen uns damals. Dieses Geschrei hörte auch der Bruder, der gerade oben am Beginn der Bahn einen langen Schlitten zurechtzog, um bäuchlings die Fahrt anzutreten. Er lief noch ein paar Schritte hinterher, warf sich dann auf den Schlitten und raste, so kam es uns allen vor, die Hüpe-Wiss hinab. Noch im Fahren zog er sein „Täschemetz“ aus der Tasche, klappte es auf und steckte es zwischen die Zähne. Es war, wie man mir zugeben wird, furchterregend. Nicht furchtbarer können die kimbrischen und teutonischen Krieger in ihrem malerischen Kriegsschmuck auf die Römer gewirkt haben. Knips nun, der irgendwie ahnte, was hinter ihm geschah, blickte sich um, tat einen geradezu erschütternden Schrei, warf den Schlitten beiseite und lief und lief. Bei Gott, er lief schnell, aber mein Bruder, der damals für 12,0 Sek. oder gar 11,9 Sek. auf 100 Meter immer gut war, lief schneller. Wie verprügelte er den armen Knips, boxte ihn in den Schnee und ließ ihn dann verächtlich liegen, während das Op£er weinend nach Beul hinunterhumpelte, wo er furchtbare Dinge behauptete. Ich war sehr stolz auf den Bruder, denn die Ehre des Hauses war gerettet.

Wenn wir abends nach Hause kamen, müde, naß und hungrig, dann wurden die nassen Kleider an den Herd gehängt, die Schuhe mit Papier ausgestopft, damit sie nicht ganz einliefen, und wir saßen schweigend am Tisch, indes die Mutter sich beklagte, die Handschuhe seien immer voller Löcher und die Kleider würden nie mehr richtig trocken. Meist waren außerdem die Strümpfe an den Knien auf gestoßen, kurzum, die gemütlichen Winterabende, von denen ab und zu gesprochen wurde, ließen sich zunächst gar nicht so an. Gewöhnlich hieß das letzte Wort „in“t Bett“, wo wir, aneinandergeschmiegt, wegen der ausstrahlenden Körperwärme schnell einschliefen.

Zum Schluß möge aber noch ein Erlebnis folgen, als Zeichen dessen, daß wir uns nicht immer nur auf der Schattenseite des Lebens herumtrieben,so leicht auch der Eindruck entstehen möchte. In den oberen Kolonnaden, so genannt, obgleich es keine echten Kolonnaden mehr •waren, sondern eine Reihe kleiner Geschäfte an der dem Badehaus zugewandten Straßenseite, welche von der „Kant“ hinab den richtigen Kolonnaden zuliefen, besaßen mehrere Damen ein kleines ‚ Geschäft, ganz auf die Zwecke des Kurbetriebes abgestellt. Oben an der Ecke hatte zum Beispiel Frau Emma Müller, eine gebürtige Tirolerin, ein kleines Handschuh- und Strumpfgeschäft, während mehr der Mitte zu Frau Köhler ihren Laden hatte, der hauptsächlich feine Klöppelarbeiten darbot. Frau Köhler war in Neuenahr Schrittmacher des Fortschritts, vor allem der Emanzipation der Frau, trug sie doch als erste einen „Bubikopf“, welche Frisur eigentlich mehr den Einbruch der neuen Zeit für uns darstellte als Radio oder Elektrizität es vermochten. Außerdem fuhr sie ein Motorrad mit Beiwagen, wozu ein Paar Breccheshosen einen geradezu verwegen machenden Eindruck verliehen. Aber — und das war noch wichtiger — Frau Köhler hatte als Talisman und Haustier einen kleinen Affen, der oft genug, warm eingepackt, im Beiwagen mit über Land gefahren wurde. Eines Tages nun muß sie den unentbehrlichen Domestiken doch zu Hause gelassen haben, wähnend, er sei ein guter Wächter des abgeschlossenen Ladenlokals. Für die wenigen Besucher, die in der winterlichen Jahreszeit zu erwarten waren, prangte ein kleines Schild am Eingang: „Bin um 15 Uhr wieder zurück“. Aber als mein Bruder von der Schule in Ahrweiler daheim anlangte, das war so gegen Viertel vor zwei Uhr, sagte er zu mir: „Jank ens an die ahl‘ Kolonnade, do es jett loß.“ Schon war ich auf und davon. Noch ehe ich den Laden von Frau Köhler erreicht hatte, sah ich, wie sich vor dem Schaufenster die Menschen stauten. Beim Näherkommen bemerkte ich, daß es nur Neuenahrer waren. Wer wäre auch jetzt noch hier zur Kur gewesen? Die schon recht tiefstellende Wintersonne warf ihre Strahlen gerade ins Schaufenster, hinter dem der Affe eine unerwartete, daher jedoch doppelt gern genossene große Nummer bot. Irgendwie mußte er vom Halsband losgekommen sein, denn er schwang sich dort an den wunderbaren Spitzendecken hoch bis zum Vorhangsbrett, turnte von dort zurück, hockte sich dann tiefsinnig mitten unter die wunderbarsten Brüsseler Spitzen und zog die Nadeln aus den kunstvoll befestigten Schaustücken, biß die Nadelköpfe ab und warf den Rest irgendwohin. Wie sah die sonst so gepflegte Auslage aus? Alles wirr durcheinander und dazwischen, fast gespenstisch, der lautlose kleine Affe, der durch die Menge Gaffer vor dem Fenster in seinen Boshaftigkeiten mehr und mehr ermuntert wurde. Das war etwas für uns Eingeborene. Da standen wir und lachten, versuchten das Tier zu beeinflussen und zu reizen, weshalb es uns dann mehrfach höhnisch und listig mit seinen schillernden Augen ansah und sich dann aufs Neue ans Werk begab. Der Schaden mochte bereits in die Hunderte gehen, aber kein Weg bestand, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Die Tür aufbrechen war zu riskant, wußte doch niemand, wie dieser Artgenosse von Fips dem A (Teil sich verhalten würde. So mußten wir’s denn treiben lassen, allerdings ohne Gewissensbisse, wie ich glaube sagen zu dürfen, denn ein guter Spaß, das galt auch in Neuenahr, durfte schon etwas kosten. Im Gegenteil, Frau Köhler durfte sicher sein, auf der nahen Fastnacht, deren erste Bälle nach dem Bohnenball zu Dreikönigen begannen, öfter von diesen Missetaten zu hören, entweder in Reimform oder aus der „Butt“.