Zurück in der ersten Reihe – Großer Preis von Europa verschafft Nürburgring Weltgeltung
Zurück in der ersten Reihe
Großer Preis von Europa verschafft Nürburgring Weltgeltung
Luki Scheuer
Michael Schumacher, erster deutscher Formel-1-Weltmeister, vollführte einen Freudensprung auf dem Siegerpodest. Der 26jährige Kerpener hatte wenige Minuten zuvor mit seinem Benetton-Renault den Großen Preis von Europa gewonnen. Es war sein 17. Grand-Prix-Sieg und sein schönster zugleich. Denn bei keinem der 16 Triumphe zuvor hatte er so hart kämpfen müssen, war sein Fahrkönnen so gefordert worden. Und außerdem fuhr er Sieg Nummer 17 auf dem Nürburgring heraus, mit dem ihn besondere Erinnerungen an den Beginn seiner Karriere verbinden.
Michael Schumacher machte den 1. Oktoberfür rund 100.000 Besucher zu einem unvergeßli-. chen Erlebnis. Er gewann ein Rennen, das in die Motorsportgeschichte eingehen wird als eines der dramatischsten, die es in der45jährigen Formel-1 -Weltmeisterschaft je gegeben hat. Da blieb alten Nürburgring-Beobachtern nur der Vergleich zum Großen Preis von Deutschland 1957, als der Argentinier Jüan Manuel Fangio mit seinem Maserati eine schier ausweglos scheinende Aufholjagd startete und schließlich das Rennen gewann. Das geschah auf der legendären Nordschleife.
1995 bewiesen Schumacher und Co., daß auch der 1984 eröffnete neue Grand-Prix-Kurs spannende Rennen erlaubt. Wer da noch von „langweilig“ redet, hat am 1. Oktober Tomaten auf den Augen gehabt oder Eis in den Adern. Die Strecke erhielt von allen Fahrern Lob. Sie sei interessant und anspruchsvoll und – dies der gravierende Unterschied zur Nordschleife – sehr sicher.
Am 1. Oktober katapultierte sich der Nürburgring wieder in die erste Reihe des Welt-Motorsports. Über eine Milliarde Menschen auf unserem Globus verfolgten das Rennspektakel und sahen auch etwas von der wunderbaren Eifellandschaft. Der Nürburgring wurde wieder zu einem deutschen Wertbegriff wie Mercedes oder Leica.
Der Sieger: Michael Schumacher, erster deutscher Formel-1-Weltmeister.
Zehn Jahre hatten die Fans und hatte die Region auf die Rückkehr der Formel 1 gewartet. In dieser Zeit war es dem Nürburgring keineswegs schlecht gegangen. Neue Veranstaltungen wie der großartige Truck-Grand-Prix oder das Musik-Festival „Rock am Ring“ haben sich etabliert und sorgen für gute wirtschaftliche Ergebnisse. Aber weltweite Beachtung finden sie nicht. Das schafft nur die Formel 1 mit ihrer perfekten Vermarktung und ihrer weltweiten Fernsehpräsenz. Der Große Preis von Europa machte das klar. Der Nürburgring erhielt durch dieses Rennen einen Zuwachs an Ansehen und Anerkennung, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Allerdings kommen solche Image-Gewinne nicht von alleine. Vor den Preis haben nun einmal die Götter den Fleiß gesetzt.
Nürburgring GmbH und ADAC hatten sich als „Promotor“ zusammengeschlossen. Der Promotor ist der „wirtschaftlich Verantwortliche“ der Veranstaltung. Während sich die Nürburgring GmbH um die Strecke kümmerte, besorgte der ADAC den sportlichen Teil. Aber Nürburgring GmbH und ADAC bildeten nur das Zentrum der Organisation, die weit mehr umfaßte. „Der Große Preis von Europa bietet unserer Region die große Chance, sich als gastfreundlich und für jeden Besucher attraktiv zu präsentieren. Jetzt müssen alle helfen, diese Chance zu nutzen.“ Das hatte Landrat Joachim Weiler sofort gefordert, als der Nürburgring den Zuschlag für den Europa-Grand-Prix erhalten hatte. Und die Region machte mit. Sand, der hier und da zu Beginn manchmal im Getriebe war, wurde entfernt, und als das große Ereignis da war, lief alles wie geschmiert. Dies zum Beispiel im Verkehrsablauf. Die Polizei hatte ein Leitsystem erarbeitet, das funktionierte und den jeweiligen Ansprüchen angepaßt war.
Die Kreisfremdenverkehrsorganisation „Tour“ sorgte dafür, daß die riesige Zimmernachfrage befriedigt werden konnte. Hotels, Pensionen und Gaststätten bereiteten sich, oft mit zusätzlichen Angeboten, auf das Rennen vor. Allen schien klar zu sein, daß mehr auf dem Spiel stand als eine einmalige Umsatzsteigerung. Es gab viele kleine Gesten, die große Wirkung erzeugen. So spendierten die Ahrwinzer 800 Flaschen Wein für die GP-Journalisten. Nach den ersten Proben bestätigten Franzosen, Japaner, Brasilianer, Australier und viele andere Nationalitäten: „Super, dieser Wein.“ Und schon wurden die Adressen der Erzeugerbetriebe vom Etikett abgeschrieben.
Der Große Preis von Europa war eine einmalige Veranstaltung, ohne Option auf die Zukunft. Aber gerade die Zukunft muß jeder im Blick haben, der das Rennen am 1. Oktober miterlebt hat und seine Bedeutung über den Motorsport hinaus richtig einschätzt. Deshalb war den Organisatoren von Anfang an klar, daß nur eine fehlerlose Leistung in Vorbereitung und Ablauf eine Basis für weitere Gespräche mit dem Internationalen Automobilverband FIA und dem noch mächtigeren Chef der Konstrukteursvereinigung FOCA, Bernie Ecciestone, sein würde. Entsprechend wurde gearbeitet.
1. Oktober 1995. Mehr als 100.000 Besucher verfolgten Welt-Motorsport live auf dem Nürburgring
Der Nürburgring zeigte sich herausgeputzt wie eine Braut vor der Hochzeit. Der ADAC stellte eine sportliche Organisation, die immer wieder als „perfekt“ gelobt wurde. Die internationale Journalistenschar bezeichnete Pressearbeit und Pressebetreuung übereinstimmend als „das Beste, was wir seit Jahren an irgendeiner Rennstrecke der Welt erlebt haben.“ Die technische Einrichtung des Pressezentrums wurde ebenfalls mit den besten Noten bedacht. Die Deutsche Telekom und die am Nürburgring ansässige Abteilung des Telekommunikationsspezialisten WIGE-Group setzten neue Maßstäbe im technischen Bereich.
Bernie Ecciestone, der dafür bekannt ist, daß er auch das feinste Haar in einer Suppe findet, kam aus der Reserve und bescheinigte den Machern des Großen Preises von Europa „perfekte Arbeit“. Ein Freifahrtschein für weitere Große Preise auf dem Nürburgring ist das nicht. Aber es ist eine gute Basis. Denn wäre dieses Rennen organisatorisch mißlungen, würden sich weitere Gespräche von vorne herein erledigt haben. Ecciestone wird aber auch die Signale der Weltpresse nicht überhören. Da heißt es immer wieder: „Das Rennen auf dem Nürburgring war so gut in allen Belangen, daß man dort weitere Formel-1-Läufe fahren sollte.“
Das Wetter! Ja, es war wieder einmal nicht ideal. Als am Morgen des Rennsonntags Nebelschwaden über dem Kurs waberten, so daß manchmal vom Dorint-Hotel aus der Hatzen-bach-Wald nicht zu sehen war, da stieg wohl manches Stoßgebet zum Himmel, um den heiligen Petrus an seine Pflichten gegenüber den Rennfans und der Eifel zu erinnern. Und er richtete es dann doch noch so, daß die 100.000 gute Sicht hatten und ohne Regenschirme auskamen. Dafür, daß es den Besuchern nicht kalt wurde, sorgte das Renngeschehen, sorgte vor allem Michael Schumacher mit dem „heißesten“ Rennen seiner bisherigen Formel-1-Karriere. Schumacher hielt zunächst seinen härtesten Rivalen im Kämpf um die Weltmeisterschaft, Dämon Hill, in Schach. Dieser Zweikampf war bereits das Eintrittsgeld wert.
Dann machte sich „Schumi“ auf, an die Spitze zu fahren. Er fuhr einen Rundenrekord nach dem anderen und kämpfte sich auf den zweiten Platz vor. Als Hill neun Runden vor Rennende ausschied, war dieser zweite Rang Schuma-chers und die mit ihm verbundenen sechs WM-Punkte das, was eigentlich ausgereicht hätte. Dann aber zeigte der Weltmeister, daß er nicht nur ein kühler Rechner ist, sondern auch ein Fahrer, der seinen Fans zuliebe auch einmal ein Risiko eingeht.
Schumacher startete eine unglaubliche Aufholjagd auf den führenden Ferrari-Fahrer Jean Alesi. Er fraß den Vorsprung des Franzosen geradezu auf. In der vorletzten Runde dann ein historisches Überholmanöver, an einer Stelle und in einer Art, die eigentlich unmöglich sind. Unmöglich wohl aber nicht für einen begnadeten Fahrer und kompromißlosen Kämpfer wie Michael Schumacher. Der Benetton-Pilot setzte sich eingangs des gefürchteten Veedol-S neben Alesi und quetschte sich an ihm vorbei. Das Publikum, dem zunächst der Atem stockte, geriet aus dem Häuschen, als die Aktion erfolgreich beendet war. Schumacher auf die Frage, warum er einen Unfall riskiert habe, anstatt mit den sicheren sechs Weltmeisterpunkten zufrieden zu sein: „Ich habe die Begeisterung auf den Tribünen mitbekommen. Da habe ich mir gesagt, jetzt versuche ich diesen Fans auch einen Sieg zu schenken.“
Der Schumi-Sieg ist auch ein Geschenk für den Nürburgring und die Organisatoren des Großen Preises von Europa. Ein verdientes Geschenk. Denn der Erfolg des Weltmeisters paßt in das Gesamtbild dieser Veranstaltung, die in allen Belangen weltmeisterliches Niveau bot. Der Nürburgring und die Region haben der Welt ihre Qualitäten gezeigt. Die Welt hat sie positiv zur Kenntnis genommen. Gerade deshalb wird die Frage nach der Zukunft derzeit besonders intensiv gestellt.
Wird es wieder einen Formel-1-Lauf auf dem Nürburgring geben? Wenn ja, wann? Bernie Ecciestone, Schlüsselfigur bei allem, was mit der Formel 1 zu tun hat, hat klargestellt: „1996 auf keinen Fall.“ Danach aber sollte alles möglich sein. Nürburgring GmbH und ADAC werden mit Ecciestone reden. Sie werden es jetzt tun, da der Eindruck vom „Rennen des Jahres 1995″ noch nicht verwischt ist. Ecciestone ist genug Geschäftsmann, um zu sehen, daß man am Nürburgring mit einem Formel-1 -Lauf auch gutes Geld verdienen kann. Es kommt darauf an, ihm ein Angebot zu machen, das er „nicht ablehnen kann“. Ecciestone schien von dem Besucherstrom zum Nürburgring nicht unbeeindruckt. Und auch der hervorragende Ablauf des Rennens dürfte ihn nicht kalt gelassen haben. Er braucht gute Veranstaltungen, in wirtschaftlicher und auch in organisatorischer Hinsicht. Also wird auch er ein Interesse haben, in die Eifel zurückzukommen.
Der Große Preis von Europa hat gezeigt, daß der Nürburgring der besten Rennserie der Welt die besten Möglichkeiten bietet, sich zu präsentieren. Das tut beiden gut. Deshalb sollte es nicht erneut zehn Jahre dauern, bis die Formel 1 wieder in der Eifel gastiert.