Zur Verehrung der Mutter Anna an Rhein und Ahr. 500 Jahre Sankt-Anna-Wallfahrt in Düren
Anlass, über die Annaverehrung im Ahrgau nachzudenken, ist das Jubiläum der Sankt-Anna-Wallfahrt in Düren. Dem im Rheinland seit langem heimischen Kult gaben die geschichtlichen Ereignisse am Nordrand der Eifel um die Jahrhundertwende 1500/1501 neue Impulse.
Ein „frommer“ Diebstahl zu Beginn der Dürener Wallfahrt
Es war am ersten Adventssonntag des Heiligen Jahres 1500, als der Steinmetz Leonhard zur Heimreise von Mainz nach Kornelimünster aufbrach und aus der Stiftskirche St. Stephan, der nach dem Dom größten Mainzer Kirche, das Annahaupt entwendete. Bei diesem Anna-Reliquiar handelt es sich um eine vergoldete Silberbüste des 14. Jahrhunderts, die im Scheitel die eigentliche Reliquie birgt, ein handtellergroßes Schädelfragment. Das Reliquiar wurde in der Mainzer Stiftskirche St. Stephan hinter dem Hochaltar in einer Wandnische aufbewahrt, die Steinmetz Leonhard repariert oder neu gestaltet hat. Diese spätgotische Nische unter dem mittleren Chorfenster dient heute als Sakramentshäuschen. An ihrem Fußgesims prangt immer noch die Inschrft „ANNOJUBILEIMCCCCC“ – „Im Heiligen Jahr 1500″.
Welche Absicht verfolgte Leonhard mit dem Diebstahl des Reliquiars? Nach den in Mainz erhaltenen Akten entwendete Leonhard nur das Reliquiar unter Zurücklassung der beigegebenen Schmuckstücke und Votivgaben, die sich sicher hätten gut verkaufen lassen.1) Die Heimreise Leonhards ist in der „Kleinen Aachener Chronik“2) genauer beschrieben und es hat den Anschein, als hätte er in Andernach und Köln, wo es bei den Franziskanern bzw. bei den Karthäusern Anna-Bruderschaften gab, einen neuen Aufbewahrungsort für die Reliquie gesucht. Leonhard brachte jedoch das Annahaupt mit nach Kornelimünster. Auf Drängen seiner Mutter übergab er es am 9. Februar 1501 den Franziskanern in Düren. Über Leonhard hören wir aus späteren Quellen nur noch, dass er beim Neubau der Dürener Annakirche als Handwerker tätig war.
In Mainz wurde der Diebstahl erst Mitte Dezember offenkundig. Einer vom Mainzer Erzbischof gesandten Delegation hatten die Dürener Franziskaner das Annahaupt schon übergeben, als die Bevölkerung ein Verbleib der Reliquie in Düren erzwang. Der Stadtrat griff ein und ein Gerichtsverfahren wurde eröffnet.
Seit Februar 1501 also ist das Annahaupt kostbares Heiltum der Stadt Düren und Ursprung der Annawallfahrt. Die alte Pfarrkirche St. Martin wurde durch die spätgotische Annakirche ersetzt. Im siebenjährigen Turnus der Aachener Heiltumsfahrt war Düren auch Ziel zahlreicher Fernwallfahrer. Nach der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg wurde die Annakirche von Rudolf Schwarz eindrucksvoll neu errichtet und ist bis heute Zentrum einer lebendigen Wallfahrt, an der alljährlich auch viele Gläubige aus demKreis Ahrweiler teilnehmen.
Zwei langwierige Rechtsprozesse
Über den Kölner Erzbischof wandten sich die Dürener an ihren Landesherrn, Herzog Wilhelm IV. von Jülich. Man gewann auch Kaiser Maximilian I. (1493-1519), selbst ein eifriger Verehrer der hl. Anna. Die Mainzer jedoch erreichten von Papst Alexander VI. (1492-1503) einen Erlass vom 30. Juni, der auf Rückerstattung der Reliquie bestand und Kirchenstrafen androhte. Der Streit zog sich hin. Der zuständige Dürener Pfarrer trug sein Anliegen in Rom persönlich vor. Papst Julius II. (1503-1513) beauftragte eine Kommission niederrheinischer Prälaten mit der Untersuchung der Rechtslage. So entschied die päpstliche Bulle vom 18. März 1506 für den Verbleib des Annahauptes in Düren. „Göttliche Eingebung“ wurde als Motiv des „frommen“ Raubs angenommen, die aufblühende Dürener Wallfahrt als Fingerzeig Gottes angesehen und dem Mainzer Stift St. Stephan ewiges Stillschweigen auferlegt.
Ein weniger frommer Streit entbrannte nach dem Tod Herzog Wilhelms IV. 1511 zwischen dem Pfarrer und dem Magistrat von Düren über die Verteilung der Opfergelder der Pilger. Wiederum ging die Sache bis nach Rom. Erst 1517 kam es vor dem herzoglichen Gericht in Kleve zu einem für den Pfarrer günstigen Vergleich.
Die Ereignisse am Anfang der Dürener Annawallfahrt verdeutlichen exemplarisch, dass eine Wallfahrt wesentlich der Volksfrömmigkeit entspringt und die kirchliche Obrigkeit nur ordnend eingreift. Die Anwesenheit einer Reliquie ist dabei nicht selten das Auslösemoment. Manches spricht dafür, dass die Dürener Annareliquie im Zusammenhang des 4. Kreuzzugs nach 1204 durch Heinrich von Ulmen3) ins Rheinland gebracht wurde, sich nur wenige Jahre im Annakloster zu Alfter4)befand und seit 1212 besonderes Heiltum des Mainzer Stifts St. Stephan war. Wegen der großen Zahl der im Zusammenhang des 4. Kreuzzugs ins Abendland verbrachten Reliquien bestimmte das 4. Laterankonzil (1215), dass neue Reliquien nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch Rom zur Verehrung zugelassen werden dürfen5). Das erklärt wohl, warum die Annareliquie in Mainz nur wenig Verehrung fand.
Im Rheinland gab es damals auch andernsorts Reliquien der hl. Anna: Im Benediktinerinnenkloster Marienberg bei Boppard, in der Kölner Kartäuserkirche und in St. Lambertus zu Düsseldorf,6) sogar Burgbrohl besaß eine.7) Nur die Annareliquien des Trierer Doms8) fanden kultische Verehrung mit einem besonderen Annaaltar inmitten des Ostchors. Eine große Statue der Anna selbdritt bekrönt die eindrucksvolle altarartige Fassade der Trierer Heiltums-kammer von 1700.9)
Die sehr frühe Annaverehrung an Maas, Rhein und Ahr
Lange vor den Kreuzzügen begann die Verehrung der Mutter Anna in der Region an Rhein und Maas durch die Missionare um Bischof Willibrord (658-739), die kurz nach 700 im holländischen Echt südlich von Roermond eine Kapelle zu Ehren der hl. Anna errichteten, wohl eines der ältesten Anna-Patrozinien des Abendlandes.10)
In der theologischen Diskussion des 13. und 14. Jahrhunderts über die Unbefleckte Empfängnis Mariens, von Duns Scotus (1265-1308) und den Kölner Franziskanern entschieden gefördert, erfuhr die Verehrung der hl. Anna im Rheinland eine erste Blüte, wobei der Annakult eng mit der Marienverehrung verbunden blieb. So erklärt sich auch, dass die romanische Annakapelle in Bachem/Ahr ursprünglich als Marienkapelle errichtet wurde.11) Neben den Franziskanern waren besonders die Karmeliten und die Ritterorden große Förderer der Annaverehrung. Die Niederlassung der Johanniter in Adenau12)erklärt wohl die Tatsache, dass die dortige Pfarrkirche schon sehr früh einen Annaaltar besaß. Die Johanniter waren auch verantwortlich für den Neubau der Pfarrkirche St. Kunibert in Hönningen/Ahr, die seitdem St. Anna als zweite Patronin aufweist.13) Joachim und Anna waren die Patrone der 1804 durch das Ahrhochwasser weggespülten Kapelle von Laach bei Mayschoß, die den Rittern der Saffenburg unterstand.14) Die Statuen von Joachim und Anna in der Klosterkirche Calvarienberg bei Ahrweiler stammen noch aus der Zeit, als das Kloster den Franziskanern gehörte.15)
Als Papst Sixtus IV. (1471-84), ein früherer Generaloberer der Franziskaner, 1481 den Anna-Tag (26. Juli) in den römischen Kalender aufnahm,16) erlebte die Annaverehrung
einen beispiellosen Aufschwung, der sich in zahlreichen Neugründungen von Anna-Bruderschaften mani-festierte, deren prominenteste im Rheinland die der Juristen an St. Gangolf in Trier und jene der Notare und Prokuratoren an der Koblenzer Liebfrauenkirche waren.17)
St. Anna, Patronin des Bergbaus
Während St. Barbara als Bergbaupatronin erst nach 1500 an Bedeutung gewinnt, ist die Verehrung der hl. Anna als Schutzpatronin der Bergleute sehr alt. Die Anrufung von St. Anna prangt mitten auf der berühmten Takenplatte im Eingang des „Bergmannsklos-ters“18) Steinfeld in der Eifel. Zeugen der Annaverehrung findet man in und um Aremberg, einem Zentrum der Eisenverhüttung der nördlichen Eifel. Die Grafen von Aremberg betrieben Bergbau in Antweiler am Fuß des Arembergs auf einem Silber-Fahlerzgang, von dessen Ausbeute sie eigene Münzen prägten.19) Die Knappen des Silber-Bleibergwerks in Bernkastel hatten ihre eigene Anna-Bruderschaft.20) Zahlreich sind die Seitenaltäre zu Ehren der hl. Anna in den Pfarrkirchen des Basalt-Bergbaugebietes im Westen und Süden des Laacher Sees: Die Abteikirche Maria Laach besaß einen Annaaltar,21) ferner die Pfarrkirchen von Ettringen, Kempenich, Kottenheim, Mayen, Monreal und Niedermendig; die Anna-Bruderschaften in Niedermendig und Ettringen waren gut dotiert bzw. mit Ablassprivilegien ausgestattet.22) Auf dem Weg von Ettringen nach St. Johann und Schloss Bürresheim liegt bezeichnenderweise die Grube Silbersand, wo noch bis Ende des 19. Jahrhunderts geschürft wurde. Bei ehemaligen Silberbergwerken befinden sich die berühmten Wallfahrtsorte Annaberg in Oberschlesien, Annaberg-Buchholz in Sachsen und Annaberg bei Lilienfeld in Nieder-österreich.
Für den spätmittelalterlichen Menschen liegt die Symbolik auf der Hand: Anna birgt einen Schatz, Maria, die Mutter des Erlösers. „Weil Maria mit dem Mond und Silber, Christus mit der Sonne und dem Gold verglichen wird“, ist Anna „gleichsam die Mutter des Silbers“23) – und die Schutzpatronin aller Bergwerke.
Theologische Deutung von Darstellungen der Anna
Die Darstellungen der hl. Anna sind vielgestaltig. Nur selten finden wir sie als Einzelperson, häufig mit ihrer Tochter Maria auf ihrem Schoß oder ihr zur Seite stehend. Meistens alledings wird Anna mit Maria und dem Jesuskind dargestellt, denn gerade in ihrer Rolle als Großmutter des Erlösers ist sie für den Gläubigen vor allen Heiligen ausgezeichnet. Diese Gruppe nennt man „Anna selbdritt“. In Mitteldeutschland entstanden vereinzelt Figurengruppen mit Emerentia24), der legendären Mutter der hl. Anna, als zusätzlicher, vierter Person: „Anna selbviert“ genannt. Wird die Darstellung durch andere Personen – Ehegatten oder Verwandte – erweitert, spricht man von der hl. Sippe. Durch die Hinwendung der Personen zueinander oder durch spezifische Attribute eignet der Darstellung eine besondere menschliche oder theologische Aussage.
Die Benediktiner von Maria Laach besitzen eine Statue des 15. Jahrhunderts, die Anna als Einzelperson darstellt. Ein blau gefütterter roter Mantel über goldenem Gewand kleidet die sitzende Gestalt, der weiße Schleier und die breite Halsbinde kennzeichnen sie als ältere Frau. Das für Anna typische Attribut des Buches der hl. Schrift macht deutlich, dass sie das im Alten Testament verheißene Heil erwartet. Eine goldene Rose weist auf ihre Tochter Maria hin, die „Rosa Mystica“ – oder (nach hl. Ecclesoasticus 39,17) auf die erhoffte Erlösungsgnade. Buch und Rose sind bei der Laacher Anna Ergänzungen jüngerer Zeit.25) Hier zeigt sich, dass Statuen leicht Schaden nehmen und durch Restaurierungen ihre Gestalt verändern, so dass eine Interpretation schwierig wird. Malereien, vor allem ortsfeste Fresken, lassen sich da leichter zeitlich einordnen und von ihrem Standort her deuten.
Die beiden Grundtypen der Darstellung der Anna selbdritt
Als zwei Grundtypen der Anna selbdritt unterscheiden wir die ältere Darstellung, wo die Mutter Anna sowohl Maria als auch das Jesuskind in ihren Armen oder auf ihrem Schoß hält, von der späteren Darstellung, wo die beiden Frauen nebeneinander sitzend das Jesuskind halten. Beide Grundtypen finden wir unter den Fresken im romanischen Teil der Pfarrkirche von Niedermendig. Bei der älteren Darstellung in Niedermendig aus der Zeit um 1300 auf der Gewölbekappe vor dem rechten Seitenchor thront die große Gestalt der Mutter Anna auf einer gepolsterten Bank und umfängt mit ihrer Linken die kindliche Maria, die auf Annas linkem Knie sitzt. Maria hält auf ihrem Schoß das Jesuskind, das sich dem Beschauer zuwendet, in Purpur gekleidet und mit erhobener Rechten, das Buch des Lebens in seiner Linken. Das ist die Haltung des Allherrschers und Weltenrichters. Anna neigt sich ihrer Tochter zu, die als Himmelskönigin eine Krone trägt. In ihrer Rechten hält Anna eine stilisierte Lilie – oder eine Art Kreuzblume26), je nachdem, ob man die Blume auf die unbefleckte Jungfrau oder auf Christus bezieht.
Darstellung der Anna selbdritt (um 1300) in der Pfarrkirche von Niedermendig
Darstellung der Anna selbdritt von 1468 in der Pfarrkirche
In großem Kontrast dazu die spätere Darstellung der Anna selbdritt in Niedermendig, nach Aussage der Wappen von 1468, vielleicht aus der Schule des Kölner Meisters des Marienlebens.27) Das Fresko befindet sich auf einem Mittelschiffpfeiler, in Augenhöhe des Betrachters und im vollen Licht der südlichen Obergadenfenster. Maria und Anna sitzen einander gegenüber auf einer Rasenbank vor einem gemusterten Vorhang. Annas linke Hand ruht auf einem kostbaren, völlig geöffneten Buch. Sie reicht dem Jesuskind eine Birne. Von Maria gehalten, läuft das Kind über ihren Schoß Anna entgegen, nach der reifen Frucht greifend. Birne und geöffnetes Buch sind Symbole der angebrochenen Heilszeit. Ebenso die Maiglöckchen, die inmitten der Szene sprießen, beliebte Attribute Christi bei der Schilderung seiner Kindheit.28) Das Jesuskind ist unbekleidet, Hinweis auf die wahre Menschheit des Gottessohnes. Trotz der Spuren der Jahrhunderte, zeigt die Malerei große Feinheit und offenbart den Adel der Personen. Hier wird das Gemüt des Beters angesprochen. Die Distanz zum Bild ist aufgehoben. Das ältere Bild im Seitenschiffgewölbe verlangt mühsames Emporschauen. Das Andachtsbild besteht auf Nähe. Die Inschrift auf dem Spruchband erinnert den Beter an sein Tun: „O sent Anna hyliff selffe drittem“ – und (eine kunsthistorische Kostbarkeit!) unterweist ihn zugleich über die richtige Bezeichnung des Bildinhaltes: „Anna selbdritt“.
Ein nur teilweise erhaltenes Holzbildwerk der Anna selbdritt des älteren Typs befindet sich im Pfarrhaus von Löhndorf, ein weiteres im Museum der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler aus der Annakapelle von Bachem.29)
Anna selbdritt mit Buch und Traube (um 1450) in der Pfarrkirche von Wehr
Zahlreich sind Figurengruppen des Typs der jüngeren Niedermendiger Anna selbdritt, wo das Spiel der Personen miteinander unterschiedliche Aussagen hervorhebt. Die Pfarrkirche in Wehr besitzt eine Anna selbdritt von etwa 1450. Hier hält Anna über dem geöffneten Buch eine große Weintraube, in die der unbekleidete Jesusknabe hineingreift.30) Da Anna oft mit einer Weintraube dargestellt wird, verehrt man sie im Rheintal vielerorts als Winzerpatronin,31) wofür sich allerdings im Rotweingebiet der Ahr keine Zeugnisse finden ließen. Den mit spätmittelalterlicher Bildsymbolik vertrauten Beter erinnert das nackte Kind mit ausgebreiteten Armen wie auch die Weintraube an das Leiden Christi, der selbst die zu unserem Heil gekelterte „mystische Traube“ ist.32) Diese Deutung findet ihre Bestätigung in der in der Kunstgeschichte einmaligen Plastik der Anna selbdritt in der Pfarrkirche zu Schwalmtal-Waldniel, wo die ein geöffnetes Buch haltende Anna neben Maria sitzt, die den toten Christus auf ihrem Schoß hält. Hier ist das im Rheinland so beliebte Andachtsbild der Pietà mit dem der Anna selbdritt vereint.
Von besonderer Symbolik sind auch die Farben der Gewänder in der Kunst. Anna trägt oft ein grünes Kleid unter einem braunen oder roten Mantel. Grün ist die Farbe der fruchtbaren Landschaft, des Paradieses und der Hoffnung auf Unsterblichkeit. So wird Anna auch die Patronin der Feldfrucht.33) In Maria Laach und in Wehr dominieren die Farben Rot und Blau, Symbole der Liebe sowie der Reinheit und Treue. Annas roter Mantel ist blau gefüttert, Maria trägt einen blauen Mantel über einem roten Kleid. Beide Farben sind Entfaltungen des eigentlich nur Christus zustehenden kaiserlichen Purpurs, – schon das Konzil von Ephesus (431) erlaubte ausdrücklich die Darstellung Mariens und ihrer Mutter Anna in purpurner Kleidung.34)
Die Darstellung der heiligen Sippe in der Kapelle von Niederdürenbach
Ein vielfiguriges kostbares Holzrelief einer hl. Sippe bildet das Altarbild der eher unscheinbaren Kapelle von Niederdürenbach. Das spätgotische Relief wie die den Altar bekrönende kleine Anna selbdritt stammen nach mündlicher Überlieferung aus der Kapelle von Burg Olbrück.35) Siebzehn Personen insgesamt gruppieren sich auf diesem Sippenbild um die in der Mitte thronende Anna, die mit großem Schleier, Hals- und Kinnbinde als ehrwürdige Witwe gekennzeichnet ist. Zu ihrer Rechten sitzt Maria, von beiden Frauen wird das bekleidete Jesuskind gehalten, das mit einem Apfel oder einer Kugel spielt. Hinter Anna stehen drei Männer, der mittlere mit langem Bart wohl Joachim, der Vater Mariens. Hinter Maria erkennt man Josef, barhäuptig wie die allerseligs-te Jungfrau. Rechts vor dem Thron mit der Selbdritt-Gruppe die Familie des Zebedäus, die beiden Knaben durch Pilgerkleidung und Kelch als Apostel Jakobus d. Ä. und Johannes d. Evangelist ausgewiesen (Mk 10,35f), links vor dem Thron die Familie des Alphäus mit den Söhnen Jakobus d. J., der mit geöffnetem Buch seinen Bruder, Josef den Gerechten, unterweist, Judas Thaddäus mit Keule, und Simon Zelotes – die im Matthäusevangelium erwähnten „Brüder Jesu“ (Mt 10,3f und 13,55). Bis auf Josef den Gerechten handelt es sich um Apostel, deren Verwandtschaftsbeziehung zu Jesus im Sippenbild erklärt werden soll. Nach der Legenda aurea36)konstruierte man eine zweimalige Witwenschaft der Mutter Anna: Aus Annas Ehe mit Joachim stammt Maria, die Mutter Jesu, aus den beiden anderen Ehen die Frau des Zebedäus und die des Alphäus. Die kirchliche Autorität hat die Auffassung einer dreimaligen Ehe („Trinubium“) der hl. Anna immer abgelehnt. Nach Verabschiedung des Dekrets über die Heiligenverehrung in der letzten Sitzung des Konzils von Trient (1563) verschwindet das Thema aus der Kunstgeschichte.
Kupferstich „Heilige Sippe“ von L. Cranach a. Ä.
Die heilige Sippe als Modell für Großfamilie und Kindererziehung
Die Darstellung der hl. Sippe hatte ihren Ursprung im Bemühen, die Verwandtschaftsbeziehung jener Heiligen aufzuzeigen, die Christus besonders nahe standen. Sie wird um 1500 für pädagogische Ziele instrumentalisiert, um als Modell für Großfamilie und Kindererziehung zu dienen, wie ein Holzschnitt von Lucas Cranach d. Ä. (1472-1553)37) in verblüffender Deutlichkeit vorführt. Die 17 Personen und ihre Zuordnung zueinander entsprechen dem Niederdürenbacher Sippenbild. Die Anna-selbdritt-Gruppe ist klar herausgehoben, ebenso St. Josef, doch alle weiteren Gestalten definieren sich allein durch ihre Tätigkeit. Kein einziges Attribut ermöglicht eine Identifizierung. Die drei Ehemänner der Anna stehen beiseite, wie Ratsherren miteinander diskutierend. Wie ein reicher Kaufmann schickt Zebedäus seinen älteren Sohn zur Schule. Verängstigt scheint dieser sich an sein dickes Buch zu klammern. Die jungen Mütter spielen mit ihren nackten Kleinkindern. Links vorne werden zwei Knaben schulmäßig ins Lesen eingeführt, die Rute in der Rechten des Vaters veranschaulicht die alte Pädagogik: Das Rutenbündel, so mächtig wie ein Gartenbesen, prangt in der Tat stolz als Szepter jeden Schulmeisters auf den Titelblättern jedes pädagogischen Traktates der Zeit.38) Das Wappen Sachsens und die gekreuzten Schwerter von Meißen an der Renaissancekartusche im Hintergrund erweisen den Holzschnitt als Auftragsarbeit für Kurfürst Friedrich den Weisen (1463-1524). Das anhängende „Lied, mit welchem zu Wittenberg die Kinder zur Schulen werden gefüret“ macht den Holzschnitt zum Propagandablatt für den Schulbesuch. Das Blatt entstand um 1509, wenige Jahre nach Gründung der Universität Wittenberg (1502) durch Friedrich den Weisen, gerade ein Jahrzehnt vor der Reformation. Eine neue Zeit hat begonnen, geprägt von geschäftiger Gelehrsamkeit und beginnender allgemeiner Volksbildung. Da wirken die frommen Verse des Liedes eher wie ein verlegenes Feigenblatt: „Derhalben kompt studiert zu gleich / Helfft uns vermehren Gottes Reich. Denn unser Schul / glaub mit fürwar / Den weg zu Christo weiset klar.“
Ganz im Kontrast dazu das Sippenbild von Niederdürenbach. Die Großfamilie ist hier auf eine Mitte hin konzentriert. Die Knaben nehmen spielend ihre spätere Berufung vorweg. Die von ihren Söhnen umgebene junge Mutter links hält nachdenklich auf ihrem Schoß ein geschlossenes Buch wie ein Geheimnis, ihr Mann Alphäus kreuzt seine Hände vor der Brust wie in nachdenklicher Meditation.
Die heilige Sippe in der Kapelle von Niederdürenbach (Skulptur im barocken Altar), wohl nach 1500. Vermutlich aus der Burgkapelle der Burg Olbrück (?)
Im Zusammenhang mit dem Aufblühen der Dürener Annawallfahrt wurden in nur wenigen Jahrzehnten in vielen Stiftskirchen der niederrheinischen Städte eindrucksvolle Anna- und Sippenaltäre errichtet. Im Gebiet der ländlichen und weithin sehr armen Eifel kam es zu einer neuen Blüte einer uralten Annaverehrung. Im folgenden 17. und 18. Jahrhundert verflachte das Annabild in der Kunst zum Motiv der „Erziehung der Jungfrau“, von Peter Paul Rubens (1577-1640) allerdings in klassischer Schönheit gestaltet. Ländliche Kopien von Rubens’ „Erziehung der Jungfrau“ haben sich in der Pfarrkirche zu Waldorf und im Altar aus Weidenbach in der Pfarrkirche zu Kesseling erhalten. Qualitätvolle barocke Statuen der Mutter Anna, die ihre Tochter in die hl. Schrift einführt, befinden sich im Eifeler Raum in den Pfarrkirchen von Monreal39) und Metternich, die Statue von Niederheckenbach ist verschollen,40) aus einer ähnlichen Figurengruppe erhielt sich in Kessling die Statue einer lesenden Maria.41)
Anmerkungen, Quellen, Literatur:
- Gatz, Erwin (Hrsg.): St. Anna in Düren, Mönchengladbach 1972. – Eine umfassende Bearbeitung der Quellen und Dokumenten zur Dürener Kirchengeschichte und zur Dürener Annawallfahrt mit 72 Abb.; zum Diebstahl der Annareliquie und zu den folgenden Rechtsprozessen: S. 162ff.
- Käutzeler, Archivar: Kleine Aachener Chronik, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, XXL Heft, Köln 1870, S. 91-106, lateinischer Nachtrag S. 97
- Kuhn, Hans Wolfgang: Heinrich von Ulmen, der vierte Kreuzzug und die Limburger Staurothek, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, hrsg. i. Auftrag der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, 10. Jg. 1984, S. 67-106
- Käutzeler, wie Anm. 2, S. 93: Position 26 zum Jahr 1500. Ferner: Patt, Wilhelm: Als Alfter noch Wallfahrtsort war. In: Bornheimer Beiträge zur Heimatkunde, Heft 5, hrsg. 1999 v. Heimat- und Eiferver. in Bornheim e. V., S. 42-45, mit 2 Abb. der Wandnische im Chor der Stiftskirche St. Stephan zu Mainz nach Polius, 1640, S. 44. Bei Jahreszahlen und Deutungen nicht ohne Irrtümer. Vgl. auch: Maaßen, German Hubertus Christian: Geschichte der Pfarreien des Dekanates Hersel, Köln 1885. Alfter S. 21-51.
- Jedin, Hubert (Hrsg.): Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. III/2, Freiburg 1986, S. 213
- Gatz, wie Anm. 1, Kultkarte mit Übersicht der Orte mit Annaverehrung bzw. Reliquien und/oder Anna-Bruderschaften S. 156-160, S. 158
- Schug, Peter: Geschichte der Dekanate Mayen und Burgbrohl: S. 85-95, S. 88
- Clemen, Paul (Hrsg.): Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 13. Bd. I. Abtlg., Die Kunstdenkmäler der Stadt Trier, 1. Bd. 1. Abtlg.: Der Dom zu Trier, von Nikolaus Irsch, Düsseldorf 1931, S. 354, Fig. 232: Hochgotisches Träger-Reliquiar der hl. Anna, und S. 356, Fig. 233: Hochgotisches Armreliquiar der hl. Anna.
- Ronig, Franz J. (Hrsg.): Der Trierer Dom (Jahrbuch des Rhein. Vereins f. Denkmalpflege und Landschaftsschutz), Neuss 1980, S. 291, Abb. 64
- Gatz, wie Anm. 6; ferner: Archiv der Kirchengemeinde von Echt: Parochie H. Landricus, Vrijthof 21, 6101 AMEcht. (Der Ort wurde in unseren Tagen bekannt durch seinen Karmel, in dem Edith Stein Zuflucht fand vor ihrer Deportation nach Auschwitz.)
- Clemen, Paul (Hrsg.): Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 17. Bd., I. Abtlg., Die Kunstdenkmäler des Kreises Ahrweiler, Düsseldorf 1938, S. 176ff.
- Hicking, Christiane: Zu den Besitzungen der Johanniter-Komturei Adenau, in: Jahrbuch des Kreises Ahrweiler 1999, 56. Jahrgang, S. 143-146, S. 143. – „Sant’ Anna“ hieß die berühmte Karacke des Großmeisters, als die Johanniter am 26. Oktober 1530 in Malta einliefen, das ihnen Karl V. zu Lehen gegeben hatte: Ellul, Joseph: Die Große Belagerung von Malta 1565, Malta 1992, S. 22 und S. 65
- Clemen, wie Anm. 11, S. 305ff
- Clemen, wie Anm. 11, S. 378f
- Clemen, wie Anm. 11, S. 103
- Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI), 5. Bd., Freiburg 1973; – Anna: Spalte 168-184, hier: Spalte 169
- Gatz, wie Anm. 6, S. 159 und 160
- Flosdorf, Jakob: Das „Bergmannskloster“ Steinfeld, in: Rick, P. Paulinus S.D.S.: Klos-ter Steinfeld, Salvator Verlag o.J., S. 41-43, Abb. der Takenplatte nach S. 44
- Rosenthal, Dechant Gerold (Hrsg.): Aremberg in Geschichte und Gegenwart, Aremberg 1987, Eisenindustrie in der Eifel und im Herzogtum Aremberg: S. 83-85; – Silbermünzen Arembergischer Prägung: Abb. 18 u. 19, S. 62 u. 63; – in der Pfarrkirche St. Nikolaus außergewöhnliche Statue des hl. Joachim mit kindl. Maria auf dem Arm, die in einem Buch liest: Abb. 71, S. 126; – Torso einer alten Anna-Gruppe: Abb. 72, S. 126; neuere Anna selbdritt im nördl. Seitenaltar: Abb. 76, S. 130
- Gatz, wie Anm. 6
- Clemen, Paul (Hrsg.): Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 17. Bd., II. Abtlg., die Kunstdenkmäler des Kreises Mayen, Düsseldorf 1941, Maria Laach, Abteikirche, S. 316: Position 14 der Liste der ehem. Kapellen und Altäre.
- Schug, wie Anm. 7, vgl. die jew. Pfarreien; Charakterisierung der Annabruderschaft von Ettringen: S. 121; von Niedermendig: S. 331
- Stadler, Joh. Evang. und Heim, Franz Joseph (Hrsg.): Vollständiges Heiligen-Lexikon oder Lebensgeschichten aller Heiligen, Seligen etc. in alphabetischer Ordnung, I. Bd. A – D, Augsburg 1858, S. 223
- Zu Emerentia: Das LCI, wie Anm. 16, unterscheidet klar bei der Ikonographie der Heiligen im 6. Bd. zwischen Emerentia, der Mutter der hl. Anna, und Emerentiana, einer römischen Märtyrin und legendären Gefährtin der hl. Agnes; im 5. Bd. S. 190f steht bei Stichwort „Anna selbviert“ irrtümlich Emerentiana im Text und in der Bildunterschrift; das Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 3. Bd., Freiburg 1931, nennt alle drei Personen, bei späteren Auflagen des LThK fehlt Emerentia, die Mutter der hl. Anna.
- Clemen, wie Anm. 21, S. 319
- Niedermendig, älterer Kirchenführer, S. 30, Text: Josef Kröll, Abb. S. 29, Fotos: Norbert Piechatzek, Mendig, o.J.
- Rieser, Jürgen (Hrsg.): Katholische Pfarrkirche St. Cyriakus Mendig-Niedermendig, Mendig 1996, Texte: Pfarrer Michael Hoellen u. Jürgen Rieser, Fotos: Pfarrarchiv; Deutung der Anna selbdritt von 1468: S. 10, Abb. S. 18
- Heinz-Mohr, Gerd: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, München 1998, S. 213
- Clemen, wie Anm. 11; – stehende Anna selbdritt aus dem Pfarrhaus zu Löhndorf: S. 388, Abb. 348; sitzende Anna selbdritt aus Bachem: S. 126, Abb. 129; bei beiden Figuren ist das Jesuskind verlorengegangen.
- Clemen, wie Anm. 11, S. 452, Abb. 363, im Text: „Die alte Fassung in Rot, Grün und Blau ist erneuert.“ – Dagegen: Andre, Bruno: Die Pfarrkirche St. Potentinus in Wehr, Wehr 1997, S. 206: „Mutter Anna…mit blauem Unter- und rotem Obergewand,“ Abb. 130, S. 207. – Die qualitätvolle Selbdritt-Gruppe unerwähnt bei: Dehio, Georg / Gall, Ernst (Hrsg.): Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Rheinland-Pfalz, Saarland, Berlin 1984.
- Bursch, Horst: „Trinke die Liebe des heiligen Johannes“. Weinbau im Rheinland seit der Römerzeit. Noch heute werden hier zahlreiche Winzerpatrone verehrt. In: General-Anzeiger vom 16. Juni 2000, S. 18, Rheinische Chronik
- Zur Symbolik der Weintraube: Heinz-Mohr, wie Anm. 28, S. 331f; ferner: Hawel, Peter: Die Pietà. Eine Blüte der Kunst, Würzburg 1985, S. 64; – dazu: Jesaja 63,3 und: Johannesevangelium 15,1
- Zu Anna als Patronin für grünes Gras und für eine reiche Heuernte: Doyé, Franz v. Sales: Heilige und Selige der römisch katholischen Kirche, 1. Bd., Leipzig 1929, S. 66
- Zur Farbensymbolik: LCI, wie Anm. 16,
2. Bd., Allgemeine Ikonographie, Spalte 7-14; zur Purpurgewandung bei Maria und Anna: Spalte 9- Zum Sippenbild in Niederdürenbach:Clemen, wie Anm. 11, S. 435, Abb. 336; zur Kapelle auf Burg Olbrück vor allem: Schug, wie Anm. 7, S. 384: 1318 zuerst genannt und ab 1340 zur Unterhaltung eines Schlosskaplans dotiert, bestand die Kapelle bis zum Einmarsch der Franzosen 1794.
- Die „Legenda aurea“, Goldene Legende, wurde 1263 bis 1273 von Jacobus a Voragine (1230-1298), Dominikaner und Erzbischof von Genua, verfasst, erschien schon 1282 in deutsch, das am meisten gelesene Buch des Mittelalters. In ihr ist das apokryphe Evangelium von der Geburt Mariens (um 800 entstanden) verarbeitet, das als Werk des Hieronymus galt: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 3. Bd., Freiburg 1959, Spalte 1223; – zur frühesten Nennung des Namens der Mutter Anna im apokryphen Jakobusevangelium (um 150) siehe ebenda Spalte 1221.
- Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. 574-2 (Hollstein 71, Bartsch 5)
- Friedenthal, Richard: Luther, sein Leben und seine Zeit, München 1967, S. 19; – siehe auch: Pleticha, Heinrich: Ihnen ging es nicht besser: Schule und Schüler in vier Jahrtausenden; Würzburg 1965; und: Alt, Robert: Bildatlas zur Schul- und Erziehungsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1960, S. 309: Holzschnitt „Heilige Sippe“ v. L. Cranach, wie Anm. 37. – Als Urbild der Erzieher u. Lehrmeister ebenso wie der Mütter u. Hausfrauen wird Anna sogar Patronin der Besenbinder: vgl. Doyé, wie Anm. 33
- Schuler, Wolfgang: Monreal in der Eifel, Rhein. Kunststätten Heft 259, Neuss 1982, S. 16, Abb. 17
- Clemen, wie Anm. 11, S. 278, Abb. 246
- Clemen, wie Anm. 11, S. 332: „Holzfigur einer Heiligen mit aufgeschlagenem Buch in der Linken, völlig vergoldet, 18. Jh.“