Wolfgang Müller von Königswinter und Neuenahr
In jedem Stadtplan von Bad Neuenahr-Ahrweiler findet man seit 100 Jahren die Wolfgang-Müller-Straße. Als sie 1902 diesen Namen durch Bürgermeister Faulhaber bekam,1) wird es noch Bürger gegeben haben, die auf Anhieb wussten, dass sie nach einem rheinischen Dichter benannt wurde, der zu Bad Neuenahr in einer besonderen Beziehung gestanden hatte. Denn zur Quellenweihe im Jahr 1858 hatte er das Festgedicht geschrieben und schon 1851 in seinem Rheinsagenbuch „Loreley“ erzählende Gedichte über Neuenahr und Ahrweiler aufgenommen. Nicht nur der Rhein, sondern eben auch das Ahrtal waren für diesen „rheinischen Poeten“, der sich nach seinem Geburtsort Wolfgang Müller von Königswinter nannte,2) Anlässe für seine Dichtung. In einem langen Gedicht über die Ahr lautet die erste Strophe:
Aus dem Bergland springt die wilde Ahr.
Dem Heiland gleich in einem Stall geboren
Ist dieses Kind; frisch, munter, muthig, klar,
Hat bald sein Gang sich in das Thal verloren.
Er predigt gleich, der winzig kleine Bach,
Sein Plaudern schallt dir lieblich in die Ohren;
Ihm folgen die Gespielen rieselnd nach,
Sie ein’gen blinkend sich im Sonnenstrahle,
Mehr wird mit jedem Schritt sein Rauschen wach,
Bald geht er schäumend durch die tiefen Thale.3)
Und in dem Gedicht über den Vicar von Walportsheim4) bittet ein in Brühl amtierender katholischer Priester den Kölner Kurfürsten Max Franz, wieder nach Walportsheim zurück zu dürfen:
…Drum lieber als morgen schickt mich heute
Auf meine alte kleine Stelle!
Dort läutet’s so lieblich in der Kapelle.
Laßt mich dort halten mein Leben lang.
Den Messe- und den Vespergesang.
„Ei“, ruft der Fürst, „ein seltener Fall!
Wo ist denn so lieblich der Glockenschall?“
Doch noch verworren spricht der Vicar:
„Zu Walportsheim ist’s an der Ahr!
Zwar bringt die Stelle wenig ein,
Die Leute sind arm, die Pfründe klein.“ –
„Jedoch“, so nimmt Max Franz das Wort,
„Es wächst ein herrlicher Rother dort.
Den Wein, den könnt ihr nicht entbehren,
Drum steht nach Walportsheim Eu’r Begehren.
Heut’ aber verwechselt Ihr Glocke und Spunt,
Es thut nicht das Ohr, es thut der Mund,
Der Euch gebracht in diese Noth…!“
Wolfgang Müller von Königswinter
Diese Gedichte erfreuten sich bei den Zeitgenossen Wolfgang Müllers allergrößter Beliebtheit. Sie wurden vertont, in Lesebücher aufgenommen, einzeln in Zeitungen abgedruckt und eben als Gedichtbände in Buchhandlungen verkauft. Die Freude an der Dichtung führte bei Wolfgang Müller dazu, dass er 1853 seinen Beruf als in Düsseldorf praktizierender promovierter Arzt aufgab und sich – auch finanziell sehr erfolgreich – in Köln als freier Schriftsteller niederließ. Die Gesamtausgabe seiner in den Jahren 1871 bis 1876 in Leibzig in sechs Bänden erschienenen Gedichte zeugt von seiner Produktivität. Aber er war nicht nur der populäre rheinischer Dichter, sondern daneben auch Erzähler, Dramatiker,5)Zeitungskorrespondent und Kunstkritiker. Auch in der Politik wurde er bekannt: Nach der Revolution von 1848 wurde er für ein Jahr Abgeordneter des „Vereins für demokratische Monarchie“ im Frankfurter Parlament. Als er allerdings 1871 als nationalliberaler Kandidat im katholisch geprägten rheinischen Wahlkreis Bergheim für den Reichstag kandidierte, wurde er dort trotz seiner großen Popularität nicht gewählt. Der Grund dafür mag darin zu sehen sein, dass er die antikatholische Kulturkampfpolitik Bismarcks nach dem ersten Vatikanischen Konzil auf seine Art, d.h. mit Gedichten unterstützte. Ein Beispiel kann das andeuten:
„Unser Glaube ist der rechte
Jedem andern Fluch und Bann
Gottes Ritter, Papstes Knechte,
Stehn gereiht wir Mann an Mann
Sind doch unsers Dogmas Lehren
Einzig seligmachend wahr:
Alles, alles Gott zu Ehren
Und dem Papst, der unfehlbar!
Kyrie eleyson.“6)
Während die Literaturwissenschaft und die evangelische Kirchengeschichte7) Wolfgang Müller als Kritiker der verfassten römisch-katholischen Kirche darstellen und ihn als Mitglied der nach dem Vatikanischen Konzil im Rheinland gegründeten Altkatholischen Kirche sehen, bemüht sich Paul Luchtenberg,8) diesen Eindruck zu relativieren: „Es ist behauptet worden, Müller sei zu ihr (der Altkatholischen Kirche) übergetreten; wahrscheinlich glaubte man das daraus schließen zu dürfen, dass der altkatholische Pfarrer Tangermann – wie Else Schrödel berichtet – am Sarge Müllers im Trauerhaus sprach.“ Diese nur im Zusammenhang mit Wolfgang Müllers Tod verständliche Bemerkung führt unmittelbar nach Bad Neuenahr.
Am 16. März 1873 notierte Müller in seinTagebuch:„Fortwährend unwohl, gelbsüchtig.“9) Und zwei Monate später schrieb die Ehefrau von Wolfgang Müller an ihre Tochter Else:„Die Ärzte haben sich für eine Kur in Neuenahr ausgesprochen. Du machst Dir überhaupt keinen Begriff, wie viele Liebeszeichen dem Vater täglich zutheil werden. Sein Zimmer gleicht einem Garten voll blühender Blumen. Onkel Robert war gestern inNeuenahr und hat ein schönes Logis für uns ausgesucht.“10)
Dorthin fuhren voller Hoffnung Wolfgang Müller und seine Frau Emilie. Von dort schrieb der Dichter an seine Tochter: „ Meine liebe, theure Else! Heute auch von mir die herzlichs-ten Grüße aus Neuenahr, wo es mir in den warmen Tagen ein wenig besser geht. Ich habe eine recht trübe Zeit durchgemacht, drei Monate harte Krankheit mit tiefster Melancholie, die mir durch die endlose Liebe Deiner Mutter, die mich Tag und Nacht gepflegt hat, durch die treuen Herzen meiner Kinder und durch die Theilnahme lieber Freunde und Verwandten versüßt wurden. Ich bin noch recht schwach und kann nicht viel schreiben. In der Hälfte des August sehen wir uns wieder. Möge es uns allen wohl sein. Dein treuer Vater.“11)
Doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht mehr. Am 29. Juni 1873 starb er in Beul, einem der drei Dörfer, aus denen dann der Ort Neuenahr entstand. Da die Sterbeurkunde sowohl im Hinblick auf die Formulierung als auch auf die genannten Personen bemerkenswert ist, soll sie hier vollständig wiedergegeben werden:12)
„Zu Ahrweiler den dreißigsten des Monats Juny im Jahre tausend achthundert dreiundsiebzig vormittags eilf Uhr, erschien vor mir Anton Kreuzberg, Beigeordneter der Bürgermeisterei von Ahrweiler, in Vertretung des beurlaubten Bürgermeisters von Ahrweiler, Beamten des Personenstands, der Robert Schnitzler, acht und vierzig Jahre alt, Standes Regierungsrath, wohnhaft in Coeln, welcher Schwager des Verstorbenen und der August Lenné, neun und fünfzig Jahre alt, Standes Direktor des Badeortes Neuenahr, wohnhaft in Beul, welcher Bekannter des Verstorbenen zu sein angab, und haben beide mir erklärt, daß am neun und zwanzigsten des Monats Juny des Jahres tausend achthundert dreiundsiebzig nachmittags sechs Uhr zu Beul verstorben ist Carl Wilhelm Müller sieben und fünfzig Jahre alt, gebürtig zu Königswinter, Regierungsbezirk Coeln, Standes Doctor medicinae, wohnhaft zu Coeln, Regierungsbezirk Coeln, Ehegatte von Emilie Schnitzler, ohne Gewerbe, wohnhaft zu Coeln, Sohn von dem zu Düsseldorf gestorbenen Kreisphysikus Johann Müller und von der zu Remagen wohnenden Johanna Fuchs und haben diese erklärenden Personen, nach ihnen geschehender Vorlesung und Genehmigung, diese Urkunde mit mir unterschrieben“.
Der Verstorbene wurde nach Köln in sein Haus überführt. Seine Tochter Else hat später in ihrem Tagebuch notiert:13) „In Köln fanden wir den großen Saal im Elternhaus zu einer Trauerkapelle umgewandelt. Die Wände waren vom Fuß bis zur Decke schwarz ausgeschlagen. In der Mitte ragte zwischen Blumen und Palmen der Sarg empor. Die Mutter wohnte mit uns hinter Buschwerk verborgen der Trauerfeier bei. Der altkatholische Pastor Tangermann14) aus Bonn hielt eine warm empfundene Ansprache, die der katholische Pfarrer von St. Aposteln ,dem Ketzer’, wie er sich ausdrückte, verweigert hatte. Am Schluss sang der Kölner Männergesangverein ergreifend schön. Von nah und fern waren Verwandte und Freunde gekommen, um dem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Der weite Platz vor unserem Hause war dicht gedrängt voll Menschen und Wagen, die dem Totenzug nach Melaten15) folgten.“
Auch die Anmerkung, die Luchtenberg zu dieser so persönlichen Eintragung von Müllers Tochter macht,16) „daß der Pfarrer nach den Vorschriften seiner Kirche nicht anders handeln konnte und durfte“, ist nur allzu richtig, trägt aber zur Frage, ob Müller zur altkatholischen Kirche gehörte, nichts bei. Die Umstände bei seiner Beerdigung und seine kritische Haltung im Kulturkampf berechtigen jedoch zu dieser Feststellung.
Wolfgang Müller von Königswinter ist heute weithin ein Unbekannter. Von dem Lyriker und Dramatiker, dem Sänger der rheinischen Landschaft, dem glühenden preußischen Patrioten nach der Reichsgründung 1871, der begeistert Soldatenlieder dichtete, dem Kunstkenner und Freund Simrocks, Kinkels und Freiligraths, dem Dichter, der Heinrich Heine aus seiner Pariser Assistentenzeit persönlich kannte, der Bettina von Armin, Joseph von Eichendorff, Humboldt, Bismarck und Gutzkow traf, der Robert Schumann als Arzt in Düsseldorf behandelt hatte, ja, der unzählige Menschen aus dem Kulturleben kannte, von diesem zu seiner Zeit berühmten Poeten lagern heute die Werke im Depot der Stadtbibliothek in Bad Neuenahr, weil kein Leser nach seinen Büchern verlangt. Und doch ist zu Recht eine Straße dieser Stadt nach ihm benannt, weil er die Ahr besang und in dieser Stadt sein Leben zu Ende ging.
Anmerkungen
- Vgl. „Die Straßen von Bad Neuenahr“. Artikelserie in der Stadtzeitung Bad Neuenahr-Ahrweiler. Nr. 02/2001:Wolfgang-Müller-Straße
- Am 15.3.1816 wurde er dort als Carl Wilhelm Müller geboren. Nur unter dem Namen „Wolfgang Müller von Königswinter“ wird er bis heute in Literaturlexika und Literaturgeschichten geführt.
- Rheinfahrt, Frankfurt a. Main 1846, S. 179
- Loreley, S. 207 – 208
- 1872 erschienen in Berlin 6 Bände seiner dramatischen Werke.
- Erste Strophe des Gedichts „Unverzerrtes Zeitbild“. Abgedruckt in:
Paul Luchtenberg: Wolfgang Müller von Königswinter, Zweiter Band, Köln 1959, S. 316. Zu diesen antikatholischen Werken gehörte auch der von Wolfgang Müller verfasste „Pfaffenspiegel“, bei dem er grob und satirisch sich über die Pfaffen lustig macht und als Vorspruch wählte: „Doch Frau und Kind, den zarten Wesen, verbiete allwärts drin zu lesen.“ (Luchtenberg a.a.O. S. 314). - So Erwin Mülhaupt:Rheinische Kirchengedichte. Von den Anfängen bis 1945. Düsseldorf 1970. S. 263
- A.a.O. S. 313
- Luchtenberg a.a.O. S. 388
- Luchtenberg a.a.O. S. 389
- Luchtenberg a.a.O. S. 389
- Das Standesamt der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler hat mir freundlicherweise eine Fotokopie aus dem Sterberegister der Gemeinde Wadenheim zur Verfügung gestellt.
- Luchtenberg a.a.O. S. 389 und S. 390
- Dr. Wilhelm Tangermann aus Unkel war wegen seines Eintretens für die altkatholische Kirche vom Kölner Erzbischof Melchers exkommuniziert und zugleich ohne Entschädigung seines Amtes enthoben worden. Vgl. dazu Mülhaupt a.a.O. S. 358
- Der große, historische Kölner Friedhof
- A.a.O. S. 418