Wohnform der achtziger Jahre
Die Wohnanlagen in Remagen und Bad Breisig
Matthias Röcke
»Vor zehn Jahren hätten sie uns da drei Betonklötze hingestellt.« In dieser Aussage eines Altremageners angesichts der neuen Wohnanlage St.-Anna-Kloster mischen sich Anerkennung und Skepsis, Bewunderung und leichtes Lächeln über eine Bauform, die eben einfach neu ist für die Region. Und da es alles Neue schwer hat, verpaßten die Remagener der Anlage erst einmal den Namen »Chinatown« wegen ein paar pagodenförmiger Dächer im mittleren Teil. Auch in Bad Breisig entsteht derzeit eine Wohnanlage, beides Bauten mit einem völlig neuen, ungewohnten Gesicht. Wohnanlage heißt also das Zauberwort für die Wohnform der achtziger Jahre. Die Architekten haben gelernt aus den Fehlern der sechziger und siebziger Jahre. Erschrocken über die Folgewirkungen der riesigen und unpersönlichen Trabantenstädte in den Ballungsräumen, geheilt von dem Irrglauben, daß nur der Beton Zukunft habe, machten sie und ihre Auftraggeber sich auf die Suche nach Neuem, nach Besserem.
Natürlich kann in einem relativ kleinen Land wie der Bundesrepublik nicht jeder ein Einfamilienhaus bauen, es kann auch nicht jeder in einer renovierten Villa aus der Gründerzeit seine Wohnung haben. Dazu ist einfach zu wenig Platz da, auf massiertes Bauen kann man nicht verzichten hierzulande. Mit der Einführung der Wohnanlagen wurden die Maßstäbe wieder zurechtgerückt. Daß eine Mutter nach dem Kind im Sandkasten unten im Hof nur mit dem Fernglas sehen kann und das Kind erst mühsam die Fensterreihen zählen muß, um zu sehen, wo die Mutter ist, sollte es nach den Vorstellungen der Architekten nicht mehr geben. Und das auch angesichts der Tatsache, daß man auf massiertes Bauen angewiesen ist. Die Wohnanlagen lassen dem Architekten viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten als riesige Klötze und ihre »Gestaltung«. In der Wohnanlage St.-Anna-Kloster in Remagen sind 164 Mietwohnungen und einige Geschäfte untergebracht, und wie. . . Hier ein Türmchen, dort ein Bogen, da ein Erker und ein Giebel, Mauervorsprünge, wo man hinschaut, überall ein Balkon und ein Balkönchen, Terrasseneinfassungen als vielfältiger Schmuck, mal mit Kugeln versehen, mal wie eine Pergola gestaltet, wahrhaftig, es gibt viel zu gucken für den, der zum ersten Mal durch diese Anlage spaziert.
Er hat auch viel zu gehen, 16 000 Quadratmeter umfassen alle Bauten. Und doch wird der Bewohner nicht erschlagen von hohen, kahlen Wänden, er ist nicht eingepfercht in mächtige Mauern, sucht nicht verzweifelt nach dem Durchgang, durch den er hineingekommen ist, wie es so oft bei Wohnungsbauten in den Städten aus den sechziger und siebziger Jahren der Fall ist. Irgendetwas ist anders hier.
Liebe zum Detail: ob Dachgauben, Fenster, Balkongitter . . .
Nicht nur die Liebe zum Detail von Architekt Erwin Lynen aus Aachen ist das Geheimnis. Die vielen Erker, Balkone und spitzen Dächer, die abwechslungsreich gestalteten Fensterflächen lenken eigentlich nur ab vom Geist dieser Wohnanlage. Obwohl an die 500 Leute hier untergebracht werden können, sind alle Häuser in der dem Menschen angeborenen Maßstäblichkeit angelegt. Jedes Haus für sich betrachtet ist nicht höher und wuchtiger als eine romantische Rheinvilla aus dem vergangenen Jahrhundert, alles ist überschaubar, jeder Baukörper der in sieben Gruppen unterteilten Anlage wirkt wie ein einzelnes Haus.
Und dabei ist es kein aufgewärmter Stil aus der Jahrhundertwende, sondern es sind neue Formen in vertrauten Dimensionen. Wer die früher zum Kloster St. Anna gehörigen, alten Gebäude noch kannte, wird feststellen, daß die neuen Häuser in Farbe und Form darauf Rücksicht nehmen. Eine der überbauten Durchfahrten ist sogar exakt dort errichtet worden, wo in der alten Anlage auch eine war. Sehr geschickt wurden die Garagen untergebracht, sie fallen kaum auf. Alles zusammen bietet ein Bild, wie es das Auge liebt. Den speziellen Reiz der Wohnanlage machen aber andere Eigenschaften aus, denn in diesem Stil könnte man ja auch einzelne Häuser bauen (was in Remagen auch in zwei Fällen geschah). In der Wohnanlage St.-Anna-Kloster herrscht der Gemeinschaftsgedanke vor. Die große Wiese zwischen dem mittleren und südlichen Baukörper ist ausdrücklich für alle da, ist also nicht in Parzellen unterteilt und darf (oder soll) auch von denen benutzt werden, deren Wohnungen oder Häuser nicht an die Wiese grenzen. Auch andere Freiräume laden als Treffpunkt ein, nicht nur die Spielplätze. Es sind umschlossene, aber nicht abgekapselte Räume. Dabei spielen die überbauten Durchgänge eine große Rolle. Da die Frongasse keineswegs nur für Anlieger, sondern für jedermann offen ist, wird eine Ghettobildung verhindert.
Die Wohnungen reichen vom kleinen Appartement bis zum Reihenhaus und zum Maisonette. Es gibt welche ohne Türsystem, also nur große durch Stützen unterteilte Räume, aber auch sieben Zimmer in einer Wohnung. Keine Wohnung ist wie die andere, nicht einmal unter derselben Hausnummer. An einem Hausflur liegen verschiedene Wohnungsgrößen, was dazu führt, daß kinderreiche Familien neben Einzelpersonen oder jungen Pärchen leben und so Verständnis füreinander gewinnen. Die Wohnungen haben einen hohen technischen Standard, handwerkliche und technische Details wurden mit viel Überlegungen gestaltet. So können trotz des Zwangs zum massierten Bauen Wohnungen entstehen, die weder Einfamilienhaus sind noch Hochhaus. Ein attraktives Wohnen in einer zeitgenössischen Raumgestaltung.
Überbauter Durchgang: ein neues Tor zum Rhein
Wohnanlage St. -Anna-Kloster: Vielfältig gegliedert und phantasievoll ausgestaltet
Wohnanlage in Bad Breisig: Klassizistische Formen drängen den Jugendstil der Villa Lucia in den Hintergrund
Weniger um das Erlebnis einer Gemeinschaft im Wohnbereich als vielmehr um das rein individuelle, eher von der Umwelt distanzierte Wohnen geht es bei der Wohnanlage, die derzeit in Bad Breisig an der Bundesstraße 9 in Höhe des Bahnhofs entsteht.
Bei diesem Projekt der Interbau-Gruppe, die eine Bauherrengemeinschaft vertritt, werden in drei Blocks in unmittelbarer Nähe zur Villa Lucia 83 Wohnungen erstellt. Zwar ist auch hier vieles zentral organisiert, wie die große Tiefgarage unter dem gesamten Komplex—es gibt hier keine Stellfächen für Autos im Freien — und die zentrale Heizungsanlage, es gibt auch hier Geschäfte und andere gewerblich genutzte Flächen, zum Beispiel für Praxen. Eigens angelegte Platzzonen als Treffmöglichkeiten sind aber ausdrücklich nicht vorgesehen in der von den Bonner Architekten von Dorp und K. Schmidt entworfenen Anlage.
Ebenfalls am Rhein gelegen, möchte man mit diesen Wohnungen Käufer und Mieter ansprechen, die mehr für eine individuelle Abgeschlossenheit ihrer Wohnung sind.
Aufwendig gestaltet und gebaut sind auch diese Häuser. Balkone, Terrassen, Loggien gehören dazu, konventionell aufgemauerte Wände, teures Material und gute Verarbeitung sind der Standard der Wohnungen in der Größe zwischen 37 Quadratmetern und 125 Quadratmetern. Kaum eine Wohnung ist wie die andere. Auffallend an dieser Anlage ist der Baustil. Voraussetzung für die Initiatoren war die Einbindung des Projektes in den Stadtpark, den früheren Park der Villa Lucia, und Beachtung der Nachbarschaft zur Villa Lucia. Daher wurde auf den alten Baumbestand viel Rücksicht genommen, ebenso werden die fast schon verkommenen Steinterrassen des Parks mit eigenem Zugang zum Rhein wiederhergestellt. Auch zwischen den Blocks wird Grün angepflanzt. In all diesen Fragen hat das Landesamt für Denkmalpflege in Mainz Einfluß genommen. Der Stil der Häuser soll an den Klassizismus erinnern. Riesige Bögen in den Dachgeschossen, breite Giebel in der klassischen Form, klar vertikale und waagerechte Linien prägen die drei Blocks. Der erste, zur Straße hin, ist in Masse und Höhe mit dem zweiten fast identisch, der dritte, zum Rhein hin, ist niedriger. Ob einem das letztlich gefällt, ist eine Geschmacksfrage. Keine Geschmacksfrage, sondern eine mit dem bloßen Auge ablesbare Tatsache ist die unglückliche Maßstäblichkeit zwischen den drei Neubauten und der Villa Lucia daneben. Die Villa Lucia ist eine über die Grenzen des Kreises hinaus sehr geschätzte Jugendstilvilla. Vertragen sich daneben drei solche klotzartige Baukörper, die eher an eine Kreuzung von Oberlandesgericht und Staatsoper als an eine Wohnanlage erinnern? Die Villa Lucia ist niedriger, feingliedriger gestaltet und hat viel weniger umbauten Raum als jeder der drei Blocks. Zudem ist sie eben eine Jugendstilvilla und kein klassizistischer Bau.
Rundbögen- und Giebel: Klassizistische Elemente in zu großem Maßstab Fotos: Kreisbildstelle
In der Tat dienen die Stilelemente des Klassizismus in dieser Größenordnung mehr der Repräsentation als dem Wohnen. Die Beziehung der Form zum Inhalt ist hier auf den Kopf gestellt. Das sanfte Pastell der Fassaden, abgesetzt in Weiß, mildert diesen Eindruck nur wenig, obwohl die Farben sehr gut zur Stilrichtung passen.
Ganz glücklich ist das Landesamt für Denkmalpflege nach eigener Auskunft mit dem Bau nicht. Zwar gab man den Segen, nachdem der Bauherr die Höhe etwas reduziert hatte, in der Stilfrage richtete man sich eher nach dem Motto, daß dieses besser ist als ein Bau im modernen Stil. Lieber hätte man es aber gesehen, , wenn an dieser Stelle keine oder wenigstens keine so massierte Bebauung genehmigt worden wäre, mit Rücksicht auf die Villa Lucia. Auf die Detailgestaltung und den Stil hatte das Amt keinen Einfluß mehr, im vorgerückten Stadium des Projektes wären auch nur noch Retuschen möglich gewesen. Und da das Amt, aus welchen Gründen auch immer, im Frühstadium des Projektes nicht eingeschaltet war, legt man, so scheint es, die ganze Sache mit Stirnrunzeln zu den Akten.