Wir treten keinen Balg mehr
VON W. KNIPPLER
Es war in der Zeit, als die Errungenschaften moderner Technik nur in geringem Umfang bis auf die Höhen der Eifel vorgedrungen waren. Elektrisches Licht kannte man wohl schon bis ins letzte Haus. Allein die Kirchengemeinde war vorsichtig in der Anwendung bahnbrechender und arbeitserleichternder Künder der Zivilisation, zumal solche Dinge, die der Bequemlichkeit dienen, immer viel Geld kosten.. Weshalb solch neumodischen Kram? Den hatte der Großvater auch nicht gekannt. Basta!
So war es eigentlich nicht verwunderlich, daß der Blasebalg der Kirchenorgel, die ich in Aremberg spielte, nicht durch einen elektrischen Motor bedient wurde, sondern durch die Muskelkraft der Dorfbuben. Es war dies ein Privileg der Meßdiener, die gerade keinen Altardienst hatten, dazu ein Vorrecht, das etwas einbrachte, nämlich je Gottesdienst zehn Pfennige.
Du denkt vielleicht, lieber Leser, im Zeichen des Wirtschaftswunders gering von solch einem Groschen, einem einzigen Groschen. Aber ein Groschen war damals für einen Meßbuben der Beginn des Kapitalismus, und jeder Junge rechnete sich stets im voraus die ungeheure Summe aus, die ihm der Pastor am Tage der Abrechnung in die Hand zahlen würde, vielleicht acht oder neun Groschen oder gar eine ganze Mark.
„Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten“, sagt ein bekannter Schwabe. Der alte Pastor bekam eine andere Pfarrei mit anderen Meßbuben, und der Geistliche, der an seiner Statt die Hirtenstelle übernahm, zahlte keine Groschen mehr für Windmachen. Alle die an und für sich rauhen, aber verständlicherweise tief enttäuschten
Meßbubengemüter waren maßlos entrüstet. Man stand oft beisammen, machte sich in Worten Luft, beriet lange hin und her. Das Ergebnis war eine richtige Meßbubengewerkschaft, wohl nicht de jure, aber de facto. Es folgte der Beschluß, den Lehrer einzuweihen. Falls der nicht der Gewerk= Schaftsresolution stattgäbe und beim Geistlichen nachdrücklich interveniere, wolle man zum äußersten Druckmittel greifen, zum Streik.
„Das mache ich“, sagte Michel, und alle waren zufrieden. Michel hatte die größte Klappe. Alle waren froh, daß er sich freiwillig zum Gewerkschaftssprecher vorgeschoben hatte.
Von alledem wußte ich nichts, als ich ändern Morgens in die Schulstube trat. Gleich meldete sich ein Schüler zu Wort: Michel. „Nun, was hast du auf dem Herzen?“ Selbstbewußt, ohne Einleitung“ und ohne Umschweif, ging Michel aufs Ziel los und schmetterte mir entgegen: „Wir treten keinen Balg mehr!“
Damals war noch eine andere Zeit. Das „Warum“ interessierte mich nicht. „Wir treten keinen Balg mehr“, das war Auflehnung offen vor der Klasse Sollte ich mir einen Streikbeschluß vor versammelter Mannschaft entgegenschleudern lassen? Sollte ich Rebellen züchten?
Wir“ das waren doch mehrere! Aber wo waren die anderen, solidarisch verbundenen Gewerkschaftsmitglieder? Ihre Köpfe waren tief hinter den Rücken der Vordermänner verschwunden, und Michel stand allein, der Rädelsführer. An ihn hielt ich mich. Wie es weiterging? Kurz, Michel erhielt, was ihm zustand. Damit war der Fall erledigt, die Gewerkschaft aufgelöst, der Balg wurde weitergetreten von allen Meßbuben, auch vom Michel.
Foto: Steinborn
Unter angefangenen Arbeiten fand sich diese Skizze. Steinborn hatte die Geschichte gehört. Noch während ich las, flog schon sein Zeichenstift. Als Papier diente die Rückseite eines Briefumschlags. Bei der Studie ist es geblieben.
Erst heute, nach dreißig Jahren, erfahre ich den wahren Hintergrund, das Motiv, die Wut um den verlorenen Groschen, die schon Beethoven so beredt musikalisch dargestellt hat, der aber Michel leider nicht den überzeugenden Ausdruck verlieh, sonst hätte die Meßbubengewerkschaft sicher ihr Ziel erreicht, nämlich den verdienten Groschen.