WILHELM GRIMM
Dr. Dr. Walther Ottendorff-Simrock
Zu seinem 100. TODESTAG
Am 17. Dezember 1859 starb Wilhelm Grimm dreiundsiebzigjährig in Berlin. Seine Tochter Auguste schrieb an einen Freund des Hauses: „Gestern nachmittag ist unser Herzenspapa sanft hinübergegangen und so von seinen vielen Schmerzen, die er mit unbeschreiblicher, erhebender Geduld trug, befreit. Uns armen Kindern ist das Herz doppelt gebrochen, da wir auch die Seelenangst und Traurigkeit unseres lieben Apapa (die Kosebezeichnung der Grimmkinder für den Onkel Jakob) mitsehen mußten, dem ja sein Herz auseinandergerissen wurde . . . Der Arme lag mit seinen weißen Locken dicht am Kissen, um noch jeden Laut zu hören, und konnte gar nicht von ihm.“
Auch wer sonst nichts von dem engen Verhältnis der Märchenbrüder zueinander wüßte, spürt aus den Worten der Tochter Wilhelms etwas von der innigen Verbundenheit der beiden großen Männer. Es ist nicht zufällig, daß die Brüder Grimm uns Deutschen als eine unzertrennliche Einheit ins Gedächtnis gewachsen sind. Sie haben wahrhaft wie Brüder alles miteinander geteilt: Freud und Leid des Menschenlebens, und in wissenschaftlicher Arbeit haben sie gemeinsam die sprachlich=dichterische EntWicklung des deutschen Volksgeistes von seinen Anfängen bis in ihre Zeit erforscht und wieder lebendig gemacht.
Die sehr seltenen Fotographien im Besitz des Verfassers stammen aus der Zeit um 1850
Ihre Studierzimmer in der Berliner Wohnung lagen nebeneinander. Die große Flügeltür dazwischen blieb stets geöffnet, und sogar die Schreibtische standen einander gegenüber, so daß einer den anderen sehen konnte, wenn er einmal von der Arbeit aufblickte.
Handschriftprobe von Wilhelm Grimm
Bei solch enger Verbindung ist es nicht ganz leicht, Leben und Werk Wilhelm Grimms von dem des Bruders so zu lösen, daß sein Anteil an der wissenschaftlichen Gesamtleistung deutlicher sichtbar wird. Jakob war als Gelehrter schöpferischer, zugleich war er aber auch der strengere Wissenschaftler. Seine einmalige Leistung war die Erforschung der deutschen Sprache,‘ deren Entwicklungsgesetze er als erster entdeckte und darstellte. Die von ihm herausgegebene „Deutsche Grammatik“ und die „Geschichte der deutschen Sprache“ wurden zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft: der deutschen Philologie. Sein Werk „Deutsche Rechtsaltertümer“ — eine Frucht rechtsgeschichtlicher Studien aus der Marburger Zeit — war auch für diesen Wissenschaftszweig von bahnbrechender Bedeutung. Jakob Grimm ist aber nicht nur auf dem Felde der Wissenschaft, sondern auch auf dem der Politik hervorgetreten. Als einer der „Göttinger Sieben“ protestierte er öffentlich gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover und verlor als Folge dieses freimütigen Bekenntnisses seine Professur für deutsche Sprache und Literaturgeschichte. Das Jahr 1848 sah ihn als den von der Stadt Berlin gewählten Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung.
Wilhelm Grimm war eine weichere Natur als Jakob. Seine geistigen Interessen umfaßten auch das Musische; er liebte Dichtung und Musik auch um ihrer selbst willen, er schätzte in höherem Maße als der „an den Schreibtisch gebannte“ Bruder eine geistig belebte Geselligkeit. Sein Sohn Hermann, der bedeutende Kunsthistoriker, zeichnet in einem Nachruf, den die Vossische Zeitung wenige Tage nach dem Tode des Vaters brachte, dessen Bild: „Von Buch zu Buch schritt er vorwärts, kein Tag ging ungenutzt vorüber.“ Die Kindermärchen, die dänischen Heldenlieder, die er übersetzte, das Buch über die Runen, die Ausgaben alter Gedichte, die akademischen Reden, endlich sein Anteil am großen deutschen Wörterbuch: alle diese Werke zeugen von seinem hohen Können, aber auch von der „Gewissenhaftigkeit, mit der er alle Arbeiten bis auf das kleinste Wort vollendet zu machen bestrebt war“. Die ihm am nächsten standen, wissen aber auch um andere Werte, um Werte menschlicher Art. Sie denken an „seine Milde, seine Ruhe, sein gerechtes Urteil und die Freundlichkeit, mit der er sich umgeben hat wie mit einer wohltuenden, reineren Atmosphäre, die fast nichts zu verscheuchen vermochte“.
Im Besitz des Verfassers dieses Aufsatzes befindet sich eine Reihe noch unveröffentlichter Briefe der Brüder Grimm. Sie schrieben diese an die Familie seines Vorfahren, des den Grimms in Freundschaft verbundenen Bonner Germanisten Karl Simrock. Blättert man in diesen alten Briefen, so hebt sich auf dem verblaßten Papier die kräftige, krause Gelehrtenhandschrift Jakob Grimms ab, und daneben, zierlich und sorgfältig hingesetzt, stehen die Schriftzüge Wilhelms.
Handschriftprobe von Jakob Grimm
Dieser hatte Simrocks älteste Tochter Agnes, die mit „Gustchen“ Grimm, Wilhelms Tochter, befreundet war, besonders in sein Herz geschlossen. Er bedankt sich einmal bei ihr für die Übersendung von Trauben aus dem Simrockschen Weinberg, ein andermal für eingelegte Familienfotos. Diese Bilder veranlassen ihn, sich über die damals noch neu= artige technische Erfindung zu äußern: „Die Lichtbilder machen die Menschen finster, als sollten sie sogleich erstarren, aber sie leiten einen doch auf die rechte Spur.“ Wilhelm Grimm berichtet weiter von dem Verlauf seines Geburtstages am 24. Februar 1856, und er erzählt von einem Spaziergang im Berliner Tiergarten: „Viele Kastanienbäume haben zum zweiten Mal getrieben, grüne Blätter und Blüten: das können wir Menschen nicht nachmachen, so gerne Wir möchten.“ Diese Zeilen, die ein großer Gelehrter an ein junges Mädchen richtet, sind wie kleine, aber helle Spie= gel, in denen wir die Herzenswärme einer sonst so strengen Gelehrtennatur erkennen. Im Herbst 1853 verlebten Wilhelm Grimm und seine Frau Dorothea auf Einladung Karl Simrocks einige Wochen in dem unweit des Simrockschen Familiengutes Menzenberg gelegenen freundlichen Rheinbreitbach. Jakob Grimm, den die Arbeit in Berlin festhielt, schreibt am 13. September 1853 an seine Schwägerin: „Liebes Dörfchen, ich freue mich, daß Du Dich immer mehr erholst, und das prächtige Herbstwetter heute und gestern, da kannst Du heilsame Spaziergänge machen. Die Rheinansichten sind doch ein anderes Ding als Euer Freienwalde, Harzburg und Friedrichsrode.“ In den Worten Jakob Grimms klingt noch etwas von der Begeisterung nach, die das Rheinerlebnis vor vielen Jahren in seinem Herzen entzündet hatte. Der sonst keineswegs zu Überschwänglichkeiten Neigende trug damals in sein Tagebuch ein: „Der Rhein ist was gar Wunderbares, das sich nicht beschreiben läßt, aber so ganz zum deutschen Wesen gehört, daß wohl jedem das Herz schlägt, wenn er ihn zum ersten Male sieht und dann auf seinem smaragdgrünen Wasser hinabfährt.“ Frau Dorothea Grimm berichtete am 19. September 1853 ihrerseits dem Schwager Jakob getreulich über die Ferientage am Ufer des Rheins. Ihr Brief dürfte für die Leser des Kreisjahrbuches auch deshalb von Interesse sein, weil in ihm Remagen und die Apollinariskirche erwähnt werden. „Diesen Morgen um 9 Uhr“, schreibt Dorothea Grimm, „gingen wir zwei hier mit Simrocks, dem Professor Worner und seiner Frau und einem katholischen Geistlichen, einem sehr angenehmen Mann, nach Unkel, nahmen uns da einen Nachen und fuhren nach Remagen, sahen die sehr schöne Kirche, gingen noch etwas herum, aßen etwas Mitgebrachtes und fuhren mit dem Nachen nach Rheinbreitbach, wo wir keine Viertelstunde mehr zu gehen hätten. Um halb drei waren wir wieder hier. Es war ganz herrlich, der Rhein so ruhig und glänzend, die Sonne war beinahe zu heiß, die Ansicht auf den Berg, wo die Kirche steht, ist unbeschreiblich schön.“
Auch Wilhelm Grimm erwähnt diesen Ausflug in einem wohl gleichzeitigen Brief an den Bruder: „Gestern waren wir bei dem herrlichsten Wetter zu Remagen und auf dem Apollinarisberg. Um 9 Uhr fuhren wir mit einem Nachen aus und waren um 3 Uhr wieder zurück. Die gute Frau Simrock war in tausend Ängsten, wenn der Nachen ein wenig schwankte.“ In Gesellschaft „erzählte Wilhelm Grimm gern“, weiß Hermann Grimm noch von seinem Vater zu berichten. Wie klar und farbig er zu erzählen verstand, das spiegeln die von ihm in Gemeinschaft mit Jakob herausgegebenen „Kinder= und Hausmärchen“, die in drei Bänden 1812—1822 erschienen sind. Schon als Knabe und Jüngling hatte Wilhelm im heimatlichen Hessenland bei Schäfern und bei den Frauen in der dörflichen Spinnstube eifrig Sagen und Märchen gesammelt. Den Ruhm, diesen Märchen ihre erzählerische Form gegeben und damit einen künstlerischen Volksmärchenstil überhaupt erst geschah fen zu haben, hat Jakob Grimm seinem Bruder neidlos zuerkannt. Aus der Gedächtnisrede, die er am 5. Juli 1860 in der , Akademie der Wissenschaften in Berlin auf ihn gehalten hat, seien die folgenden Sätze zitiert: „Von allen unseren Büchern lag ihm (Wilhelm) die Märchensammlung zunächst am Herzen und er verlor sie nicht aus den Augen … So oft aber ich nunmehr das Märchenbuch zur Hand nehme, rührt und bewegt es mich, denn auf allen Blättern Steht vor mir sein Bild und ich erkenne seine waltende Spur.“
Bis ins hohe Alter hat Wilhelm Grimm das deutsche Land durchwandert auf der Suche nach Märchen und Sagen, nach Handschriften und vergessenen Sprachdenkmälern. Gewiß folgte er mit dieser seiner Arbeit dem geistigen Strom der Zeit, der in der allgemeinen Kulturbewegung der Romantik in bewußtem Gegensatz zur Klassik und zur Aufklärung ein neues Geschichtsbewußtsein heraufführen sollte. Das in Auflehnung gegen die napoleonische Zwangsherrschaft erwachende Nationalgefühl förderte gleichzeitig die Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit für das versunkene und vergessene Kulturgut aus der Vergangenheit des deutschen Volkes. Die Grimmschen Märchen= und Sagensammlungen besitzen daher das gleiche zeitgeschichtliche Kolorit wie die von Achim von Arnim und Clemens Brentano veranstaltete Sammlung alter deutscher Volkslieder „Des Knaben Wunderhorn“, wie Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ und Ernst Moritz Arndts Freiheitslieder. Dennoch sind die Bücher der großen Gelehrten, der Brüder Grimm, und ihr Briefwechsel nicht als Zeugnisse einer entlegenen romantischen Zeit zu werten. Ihr weitgespanntes Geisteswerk wirkt vielmehr bis in die Gegenwart hinein und wird auch für die Zukunft eine große Bedeutung behalten. So ist der von den Brüdern 1850 gemeinsam begonnene Riesenbau des Deutschen Wörterbuches erst in unserer Zeit zu einem gewissen Abschluß gelangt. Bleibenden Wert besitzen auch viele andere Arbeiten aus ihrer Feder. Die Grimmschen Märchen werden leben, solange es noch Kinder gibt, die nach ihnen verlangen, auch wenn an die Stelle der Mütter und Großmütter, die sie dereinst erzählten oder vorlasen, heute vielfach Rundfunk=„Märchentanten“ getreten sind. Wenn nicht zuletzt die Briefe der Brüder, hier insbesondere die von der Hand Wilhelms, ihren Zauber auch für den Leser von heute noch nicht verloren haben, so mag dies seinen Grund darin haben, daß die besten Kräfte des 19. Jahrhunderts, Geist und Gemüt, in ihnen lebendig sind.