„Wenn die Kraniche dem Winter entfliehen…“ – Schülerinnen des Ursulinengymnasiums Calvarienberg erforschen den Herbstdurchzug 1993 von Grus grus
Wenn die Kraniche dem Winter entfliehen …“
Schülerinnen des Ursulinengymnasiums Calvarienberg erforschen den Herbstdurchzug 1993 von Grus grus
Hans Peter Klaes
Seit Menschengedenken hat das Bild der am weiten Himmel hinwegziehenden imposanten „Kranichheere“ eine besondere Faszination auf ausgewiesene Vogelkundler und naturverbundene Betrachter ausgeübt. Bereits in biblischer Zeit wußte man um das von vielen Geheimnissen begleitete Phänomen des periodischen Kranichzuges,1) im alten China meldeten gar Wächter auf der Großen Mauer jedes Zuggeschehen dieser majestätischen „Reittiere der Unsterblichen“ in den Kaiserpalast.2) Viele Geheimnisse konnten zwischenzeitlich gelüftet werden, manches bleibt noch im Verborgenen. Unzählige Darstellungen in Mythen und Sagen, Gedichten und Dramen, Bestiarien und Heraldik, Malerei und Bildhauerei haben den größten flugfähigen Vögeln in allen Epochen ein bleibendes Denkmal gesetzt. Die stolzen Tagesvögel gelten als Symbol der Wachsamkeit und Klugheit, der Demokratie und Gerechtigkeit, der Treue, Rechtschaffenheit und grenzenlosen Freiheit.3) Als ausdauernde Ruderflieger, die seit Urzeiten, ungeachtet unterschiedlicher politischer Systeme und Kulturen, Grenzen überwinden und Länder und Kontinente miteinander verbinden, sind sie zudem in unserer Zeit Symbol der europa- und weltweiten Naturvernetzung und internationalen ökologischen Solidarität.4) Zweifelsohne kommt den Kranichen auch Bedeutung zu als „Bio-lndikatoren“, weist doch ihre Populationsentwicklung zunehmend auf die fortschreitende Naturvernichtung durch den Menschen hin.5) Für die Schülerinnen des Ursulinengymnasiums Calvarienberg Anreiz genug, einmal als „Kranologen“ den Herbstdurchzug der symbolträchtigen und bedeutsamen „Flugreisenden“ im Kreisgebiet zu erforschen und zu dokumentieren.
Der Kreis Ahrweiler als Durchzugsgebiet der Grauen Kraniche
Das Kreisgebiet liegt im regelmäßig beflogenen mitteleuropäischen Hauptdurchzugsgebiet der Grauen Kraniche (Grus grus).
Auf ihrer beschwerlichen Reise von den skandinavischen, polnischen und norddeutschen Brutgebieten in die angestammten Winterquartiere der Iberischen Halbinsel mit Kurs auf die spanische Provinz Extremadura und Südportugal6) überfliegen daher alljährlich von September bis Dezember zahlreiche Kranichformationen das Gebiet des Landkreises Ahrweiler. Vielfach unübersehbar und unüberhörbar üben die fluggewaltigen Wanderscharen der „Holejäns“,„Schniijäns“ oder „Irrjäns“, wie die langhalsigen und trompetenden Ruderflieger hierzulande genannt werden, auch eine besondere Anziehungskraft auf die hiesige Bevölkerung aus. Für viele haben die in luftigen Ahrkreishöhen südwestwärts ziehenden Großvögel, die sich häufig als Indikatoren von Kältewellen erweisen,7) den herannahenden Winter „im Gepäck“.
Einrichtung einer Kranichzentrale
Bereits Anfang September 1993 hatte die Arbeitsgruppe „Kranichzug“, vorwiegend Lei-stungs- und Grundkursschülerinnen der Fachrichtung Biologie sowie betreuende Lehrer, die umfangreiche Projektarbeit aufgenommen. Neben der Einrichtung einer „Kranichzentrale“ mit Computer und Landkreiskarte zum Nachvollzug des erwarteten Zuggeschehens wurden auch projektrelevante Informationen zum Zugverhalten von Grus grus beim Naturschutzbund Deutschland und der Staatlichen Vogelschutzwarte in Frankfurt am Main eingeholt, so daß die „Kranichexperten“ des „Bergs“ für alle Fälle gewappnet waren.
Blick in die eigens eigerichtete Kranichzentrale des Gymnasiums: Die Meldungen werden per Computer erfaßt und ausgewertet.
Fragestellung, Material, Methodik
Im Vordergrund des Untersuchungsinteresses stand neben der Frage nach dem zeitlichen Ablauf des Herbstdurchzuges und herausragenden Zugereignissen auch die Frage nach der tageszeitlichen Hauptaktivitätsphase der Kraniche beim Überflug. Der Fragestellung, ob und wo gegebenenfalls Flugunterbrechungen auf Rastplätzen im Kreisgebiet erfolgten, sollte gleichermaßen Bedeutung beigemessen werden. Auch über Material und Methodik herrschte Einvernehmen: Mit Hilfe der Kreisbevölkerung und den Schülerinnen der Calvarienbergschulen sollte möglichst umfangreiches Meldegut zum Zuggeschehen mittels Computer erfaßt und graphisch ausgewertet werden. Bereits Mitte bis Ende September ergingen so über die Tagespresse verstärkte Aufrufe an die Bevölkerung, Beobachtungen über ziehende Kraniche auf den Zugrouten des Landkreises einzusenden. Dabei sollte die vollständige Meldung, Datum, Uhrzeit, Anzahl, Beobachtungsort, Flugrichtung und Hinweise auf beobachtete Rastplätze umfassen. Ein erprobtes Vorgehen, wie es von einer Vielzahl ausgewiesener Experten der Staatlichen Vogelschutzwarte in der Vergangenheit praktiziert wurde.8) Die Feststellung repräsentativer ornithologischer Untersuchungen,9) daß der Verlauf der Meldungsintensität annähernd dem Verlauf der Flugintensität entspricht, sollte beim weiteren Untersuchungsgang Berücksichtigung finden.
Kranichausstellung im Foyer des Gymnasiums
Im Foyer des Gymnasiums fand eine Ausstellung „rund um den Kranich“ statt, die Schülerinnen und Lehrer über das Kranichprojekt, Zugrouten und Überwinterungsgebiete informierte.
Ein naturkundlicher Film bot darüberhinaus Gelegenheit, sich über Lebensweise, Brutbestän-de, Zugverhalten und aerodynamisch günstige Flugformationen sachkundig zu machen. Die regelmäßig in den Pausen abgespielten Hörproben der unverwechselbaren „Krüh-Krüh-Laute“ der ruffreudigen „Trompetenvögel“ bereiteten ebenfalls auf das Zuggeschehen vor. Sichtliche Begeisterung löste der „Datenmeldebogen“ aus, der den Schülerinnen der Calvarienbergschulen die Aufgabe stellte, in den Heimatorten Beobachtungsposten zu beziehen, wachsam einschlägige Kranichsichtungen zu registrieren und über den „Meldekasten“ weiterzuleiten.
Kraniche sind keine „Wildgänse“
In Unterrichtsgesprächen und aufgrund von Rückmeldungen aus der Bevölkerung wurde immer wieder deutlich: Ziehende Kraniche werden im Kreisgebiet vielfach als „Wildgänse“ bezeichnet, was natürlich falsch ist. Dies mag wohl auf die im Volksmund für Kraniche gebräuchlichen, aber irreführenden Namen „Holejäns“, „Schnijäns“ oder „Irrjäns“ zurückzuführen sein.10) „Holejäns“ läßt sich, folgt man der rheinischen Sprachforschung, mit „Hagelgänsen“11) übersetzen, ein volkstümlicher Name, der für Wildgänse Geltung haben mag. Wildgänse sind von der Klassifizierung her den Entenvögeln (Anatidae) zuzuordnen12), Kraniche hingegen den Gruidae, einer Familie langbeiniger Bodenvögel, die oberflächlich Reihern und Störchen ähnlich sind.13)
Kraniche im Kreis Ahrweiler
zeitl. Ablauf des Herbstdurchzuges 1993
Die Kranichzentrale erstellte die Statistik:
Ablauf des Herbstdurchzuges 1993.
Relativ hohe Meldebeteiligung
Die verstärkten Aufrufe in der Presse und bei den Schülerinnen führten zu einer relativ hohen Meldebeteiligung mit umfangreichem Meldegut. Insgesamt 349 schriftliche oder telephonische Zugbeobachtungen aus nahezu dem gesamten Kreisgebiet,14) darunter interessantes Datenmaterial aus der Kreisjägerschaft, gingen bei der Kranichzentrale ein. Zeitweilig stand das Telephon auf dem „Berg“ nicht mehr still. Nach Ausscheidung von erkennbaren Mehrfachmeldungen standen insgesamt 292 Durchzugsmeldungen als Auswertungsgrundlage zur Verfügung.
Kurzfassung der Ergebnisse
Nach der Computerauswertung der Schülerinnen, denen Klaus Posmann beratend zur Stelle stand, umfaßte der Herbstdurchzug im Kreisgebiet einen Beobachtungszeitraum von 81 Kalendertagen, wobei nur an 44 Tagen Kranichsichtungen erfolgten. Die ersten Vorboten wurden für den 15. September gemeldet, die letzten Nachzügler für den 4. Dezember. Augenfällig ist, daß sich das Durchzugsgeschehen im wesentlichen in drei voneinander deutlich abgegrenzten Zugwellen vollzog. Schließt man Vor-und Nachhut aus, so begann der Hauptdurchzug durch das Kreisgebiet am 18. Oktober und endete am 21. November. Bei der ersten Welle (18. – 22. Oktober) handelte es sich um die Hauptdurchzugswelle, der 110 Beobachtungen (=37,67 Prozent) zugrundelagen. Im Vergleich dazu fielen sowohl zweite Welle (6.-9. November) mit 53 Beobachtungen (=18,15 Prozent) als auch dritte Welle (15.-21. November) mit 75 Beobachtungen (=25,68 Prozent) erkennbar schwächer aus. Herausragendes Zugereignis stellte unstrittig der massierte Durchzug am 19. Oktober dar. 63 Beobachtungen (=21,57 Prozent) registrierten dieses markante Zuggeschehen. Eine von der vorliegenden Schüleruntersuchung unabhängig durchgeführte Kranichzugbeobachtung des Naturschutzbundes Deutschland, die unter anderem den Herbstdurchzug 1993 des Kranichs in Rheinland-Pfalz analysierte, kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis15). Mit Blickauf dietageszeitliche Flugaktivität bleibt festzuhalten: Das Maximum war bei der ersten Welle zwischen 19 und 20 Uhr, bei der zweiten zwischen 16 und 17 Uhr, bei der dritten zwischen 17 und 18 Uhr zu verzeichnen.
Das Zuggeschehen in Abhängigkeit vom Wettergeschehen
Bei zugdisponierten Kranichen nehmen offensichtlich großräumige und lokale Witterungsfaktoren16) Einfluß auf die Auslösung des Zuges. Ingeborg Klaus, Mitarbeiterin im „Kranichteam“ des Calvarienbergs, hat einmal das Wettergeschehen innerhalb des Beobachtungszeitraumes genauer untersucht und wichtige Klimadaten der Stationen Barth und Greifswald in der Nähe des größten mitteleuropäischen Rastplatzes Rügen berücksichtigt. Ihre Analyse der den verhaltensphysiologischen Zustand der Kraniche beeinflußenden Witterungsfaktoren kommt zu dem Ergebnis: „Allen drei Flugwellen ist, klimatisch betrachtet, gemeinsam:
a. | Es herrschte zur Abflugzeit jeweils eine schwache N/NE-Strömung vor, die den Kranichflug in Richtung S/SW unterstützte. |
b. | Dem eigentlichen Abflug der Kraniche ging 1-2 Tage zuvor ein Temperatursturz um bis zu 8°C voraus, der offenbar den Aufbruch der Kraniche auslöste.“ |
Kurzzeitrast im Kreisgebiet
Insgesamt 11 Meldungen aus der Kreisbevölkerung gaben Auskunft über aufgesuchte Rastplätze, wobei Angaben über sechs sichere und fünf vermutliche gemacht wurden. Eine derartige Flugunterbrechung der Kraniche erfolgt nur insoweit, als Hunger, Ermüdung, Wetterbedingungen oder Tageszeit dies erfordern. So stieß ein Waldorfer Bürger nachts zwischen dem 19. und 20. Oktober, der Phase des massierten Durchzuges der ersten Welle, unverhofft auf Dutzende von ruffreudigen Kranichen, die auf einerwiese im Vinxtbachtal, Flurbereich „Kurze Huf“, etwa 50 Meter hinter dem letzten Anwesen Rast eingelegt hatten. ^’Sicher bezeugt ist auch die Übernachtung eines größeren Schwarms am 20. Oktober in einem Flurbereich von Holzweiler. In Kaienborn übernachteten am gleichen Tag ein größeres Fluggeschwader von Kranichen auf einem Acker. Den vorliegenden Meldungen zufolge waren am 7. November frühmorgentliche Zwischenlandungen am Ortsrand von Niederzissen und „An der Bandweide“ von Hain zu verzeichnen. Auch am „Steinthaiskopf“ in der Nähe von Walporzheim wurden im November Kranichrasten registriert. Vermutungen über weitere im November aufgesuchte Rastplätze liegen für die Ortsnähe von Brohl-Lützing, Galenberg, Heimersheim, Ramersbach und Weibern vor.
Ästhetischer Genuß und Kranichschutzlobby
Mit modernster Computertechnik haben die „Kra-noiogen“ vom „Berg“ den Herbstdurchzug der Grauen Kraniche im Kreis Ahrweiler analysiert und graphisch dokumentiert. Was naturwissenschaftliche Betrachtungsweise jedoch nicht darzustellen vermochte, war der hohe ästhetische Genuß, den der die Phantasie beflügelnde und Femweh weckende Kranichzug vielen Kreisbewohnern bereitet haben mag. Bei aller Sentimentalität, dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kraniche als Brutvögel in Deutschland vom Aussterben hochgradig bedroht und europaweit gefährdet sind. Es bedarf daher dringend einer starken Kranich- und Naturschutzlobby, soll der „Europawanderer“ in eine sichere Zukunft fliegen.
Anmerkungen;
- Vgl. Der Prophet Jeremia. erklärt von Dieter Schneider (Wuppertaler Studienbibel. Reihe: Altes Testament). Wuppertal 1977. S. 86.
- Vgl. Deutsche Lufthansa AG (Hrsg.): Wenn der Kranich zieht – Eine kleine Kulturgeschichte. Köln, Frankfurt a.M. 1987. S. 3
- Vgl. Mayer. Alf: Kleine Kulturgeschichte des Kranichs, in; Deutsche Lufthansa AG (Hrsg.): Wenn der Kranich zieht – Eine kleine Kulturgeschichte. Köln, Frankfurt a.M, 1987, S. 41-55.
- Vgl. Hurter, Claus-Peter; Thieicke, Gerhard; Natur ohne Grenzen. Stuttgart, Wien 1990, S. 10 u. 15.
- Vgl. Treuenfels, Carl-Albrecht v,: Kraniche -Vögel des Glücks. Hrsg.v.d.Deutschen Lufthansa AG, Hamburg 1989, S 18 u. 83.
- Vgl. Glutz von Blotzheim, Urs (Hrsg.): Baur, Kurt M.; Bezzel. Einhard: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 5. Frankfurt a.M. 1973. S. 580-589.
- Vgl, Prange, Hartwig (Hrsg.): Der Graue Kranich Wittenberg-Lutherstadt 1989, S. 120 u. 131.
- Vgl. Schmitt, Ursula: Der Kranichzug im Herbst 1966. (Archiv des Wissenschaftlichen Prüfungsamtes der A.f.E. der Goethe-Universität in Frankfurt/Main 1967). S 2.
- Vgl. Meyer-Galow, Dorothea; Der Zug des Kranichs (Grus grus) im Frühjahr und Herüst 1968 • ein Vergleich -. (Archiv des Wissenschaftlichen Prüfungsamtes der A.f.E. der Goethe-Universität in Frankfurt/Main 1971). S. 155 u. 158.
- Vgl. Artikel ..Hagelgans“, in: Rheinisches Wörterbuch. Bd.3. Hrsg. V.Müller, Josef. Berlin 1935, Sp. 86-89.
- Vgl. ebd. Sp. 86 u. 89.
- Vgl. Peterson, Roger; Mountfort. Guy; Hollom, P.A.D.; Die Vögel Europas Hamburg. Berlin 1973, S. 60.
- Vgl. ebd. S. 122.
- Vgl. Kreisarchiv Ahrweiler, Onginalmanusknpt des Verfassers, S. 12-13.
- Vgl. Bosselmann, Jürgen; Schulze-Neuhoff, Hubertus: Frühjahrs-und Herbstzug 1993 des Kranichs -Grus grus- in Rheinland-Pfalz, in; Naturschutzbund Deutschland, Landesverband Rheinland-Pfalz (Hrsg.); Pflanzen und Tiere in Rheinland-Pfalz -Jahresbericht 1993, Heft 4, Mayeno.J., S. 93.
- Vgl. Prange. S. 129-135.
- Vgl. Bad Breisiger Echo Nr. 43/93, S. 11.