Vom Segen des Heimes

VOM SEGEN DES HEIMES*

VON THEODOR SEIDENFADEN

An einem mondklaren Spätherbstabend flog der „Waldkauz, unter den Eulen der Narr, in den blattlosen Fliederstrauch vor dem einsamen Hause seines Waldrandes. Er ließ sich auf dem obersten Aste nieder, umklammerte ihn mit den drei Krallenzehen seiner dicht befiederten Beine und spähte. Sobald die Gartenschnecke, die bei ihrem Wandern stammaufwärts eben die Gabel des Astes erreicht hatte, die nach vorne gerichteten spöttischen Augen des Kauzes und den kurzhakigen Schnabel zwischen dem Kranz der steifen Kopffedern gewahrte, zog sie ihre Fühler ein und blieb unbeweglich auf dem Fuße, der sie und die spiralisch gewundene harte Schale, das Häuschen, durch ihr Dasein trug. Nach einer Weile lachte der Kauz und fragte sie: „Was tust denn du noch? Deine Gesippen suchten längst die Winterquartiere auf, liegen starr und warten. Fürchte dich nicht. Ich lasse dich ungeschoren, wenn du nur sprichst. Schon lange kümmert es mich, daß deine Art das eigene Haus nachschleppt. Ich bin frei und wohne, wo ich will.“

Da ruckte die Schnecke ihre Kriechsohle — den Fuß —, streckte die Fühler, Taster und Lippen heraus, lugte aus den Grubenaugen nach oben und erwiderte: „Weißt du denn, was wohnen, heißt? Soviel mir bekannt ist, nistest du in Höhlen, in den Bauen von Igeln und dergleichen Gelichter, in verlassenen Raubvögel- und Krähennestern, heute hier und morgen dort. Das könnte und möchte ich nicht.“ Der Waldkauz erwiderte: „Ich sehe, wenn ich auch nur nachts fliege, weitaus mehr als du von dem, was sich Welt nennt.“ „Dein Hin und Her“, versetzte die Schnecke, „ist ein unablässiges Bemühen. Du kommst nicht zum wahren Besinnen, dem Sinn des Daseins. Weißt du nicht, daß ein Leben deiner Art ein Irrtum ist?“

„Du spinnst“, murrte der Kauz. „Wie kann denn meine Liebe zum Leben irren?“ „Was wissen wir schon?“ raunte die Schnecke. „Ich fasse die Jahrtausende zusammen und spüre in meinem Gewände die heilige Einheit, in ihr dich, die Bäume deines Waldes, den Fliederstrauch, der schon die Knospen des kommenden Frühlings trägt. Ich umfasse, geboren in meinem Häuschen, alle Wesen, selbst den, Mond, die Sterne und die Sonne. Ich kann es, weil ich zwischen Morgen und Abend, Tag und Nacht immer daheim bin,“

„Solche Weisheit“, bemerkte der Kauz nachdenklich, „vermutete ich bei dir nicht. Nenne mir dein tiefstes Wort!“

„Heimlich!“ gab die Schnecke zurück und fuhr fort: „So lautet es und hängt mit dem Worte ,Heim‘ zusammen. Wie aber heißt dein liebstes Wort?“

Der Waldkauz versetzte fast traurig: „Ich habe keines — höchstens das eine ,Draußen!‘ Und das klingt nicht.“

„Mir ist es der Name für das, was ich fürchte“, flüsterte die Schnecke. „Wäre, was die Menschen Kunst und Wissenschaft heißen, möglich ohne Zaun und Haus?“

„Du hast recht“, gab der Waldkauz zu, „und darum bist du reicher als ich. Doch — beantworte noch die andere meiner Fragen!“

„Ich bin unterwegs, mich an den Knospen des Fliederstrauches zu ergötzen. Mit dem Erinnern an sie krieche ich heute nacht in den Winterschlaf.“

Da zog die Schnecke Fühler, Taster und Lippen zurück und verharrte. Der Kauz hingegen flog geräuschlos in den Wald, und erst als er lange fort war, kroch die Schnecke stammab und begann ihr Wandern in den Winterschlaf.

*) Aus: „Ein Bündel Fabeln“ von Theodor Seidenfaden.

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