VOM NÜRBURGRING BIS ADENAU
Herrliche Fahrt, wenn die Kastanien und die Ginslerbüsche blühen
VON WILHELM HAY
Genau zehn Kilometer ist diese Strecke der Postautolinie von Cochem bis Adenau, Stadtmitte, lang. Immer höher schraubte sich, von Müllenbach her, der Wagen zur Nürburg hinauf. Berge ringsum, mochte man rechts oder links oder hinten hinausschauen. Ganz böse guckte von links her der Barsberg noch über die Wipfel, als schon der Mischwald das Blickfeld einengte.
Wenn es zur Sommersonnenwende am Johannistag geht, dann Ist die Natur hier am schönsten: Wenn die Kastanien an der Straße und die Ginsterbüsche an den Hängen verblühen, die Tannen mit der Kraft ihres Maiwuchses protzen; wenn Buchen und Eichen ihren vollen Blattschmuck tragen. Die Verkehrsinsel am „Potsdamer Platz“ ist gelb von Ginster, wie die Farbe unseres Wagens.
Es ist schön, daß jetzt der Fahrplan auch die durch den Nürburgring geläufig gewordenen Bezeichnungen verwendet: Potsdamer Platz, Quiddelbacher Höhe. Daß die mir vorliegende Ausgabe des Eifelführers von 1927 mit dem Nürburgring noch nicht viel anzufangen wußte, kann man in etwa verstehen. Sie sagt auf Seite 183 unter Adenau : „Südlich von A. ist 1925/26, die Nürburg umziehend, eine Automobil-Gebirgsrenn- und Prüfungsstraße, der Nürburg-Ring, angelegt worden. Sie hat eine Länge von 28 km und ist frei von jeder Wegekreuzung.“ Daß das Herz der Welt, der Welt des Sports, in dieser Straße schlägt, heute wieder wie vor dreißig Jahren, das haben Wegebezeichner und Literaten im Jahre nach der Erbauung des Nürburgringes noch nicht gespürt. Dabei kann man es als fast rührend schön empfinden, daß bis auf den heutigen Tag trotz des Gerassels und Geratters einer bei den Rennen schier nicht mehr zu zählenden Wagen- und Fahrzeugmenge der Berg und die Burg, um die der Ring gelegt ist, nach wie vor im Blickfeld, ja im Vordergrund stehen. Daß der Nürburgring, landschaftlich, auch geschichtlich oder volkskundlich gesehen, doch immer nur als der Saum am Gewande einer Königin, von Fremden wie Einheimischen, empfunden wird.
Was der Eifelführer von Nürburg berichtet, als „einem der höchst gelegenen Orte der Eifel, mit einem herrlichen Basaltkegel, auf dem die ausgedehnten, stattlichen Trümmer der Burg stehen“, hat seine Gültigkeit und seine Wertschätzung behalten. Auch der Umstand, daß auf der Nürburg bereits eine römische Niederlassung bestand; daß sie um 1160 vom Grafen Ulrich von Are bewohnt und erweitert wurde und als erbliches Lehen des Erzbischofs von Köln eine der stärksten Festungen der Eifel war; daß an ihren Bergabhängen verwilderte Ziersträucher und fremde, wahrscheinlich in den Kreuzzügen hierher verpflanzte Blumen gedeihen.
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Nahezu 800 Jahre also ist die Nürburg nun alt. Fast 700 Meter hoch erhebt sich die Basaltkuppe aus der Tiefe der Täler heraus. Eindrucksvoll ragt, als einziges zusammenhängendes Mauerwerk, das die Zerstörungen überdauerte, der „Graue Turm“ als die Krone des Berges empor. Nach fachmännischem Urteil bedeutet der Bau, in Vorburg und Hauptburg deutlich unterschieden, eine musterhafte Ausnutzung von Festung und Wohnung auf engstem und daher ungünstigem Baugrund. Der 20 m hohe Bergfried hat Mauern von 2 1/2 m Dicke.
Der Erbauer der Burg, Graf Ulrich von Are, ist derselbe, der in dem am Fuße des Berges gelegenen Adenau dem Johanniterorden in Westdeutschland die erste Heimstätte schuf. 24 Orte gehörten einst zur Herrschaft Nürburg. Kämpfe und Kriege umtobten im Lauf einer überreichen Geschichte ihre Mauern. 1633 eroberten sie die Schweden, 1689 die Franzosen. Ihre Ruinen sind heute im Staatsbesitz. Die Freilegung vom Wald in neuester Zeit kommt der landschaftlichen Wirkung zugute.
Wo hätte in unserer Heimat und zu unserer Zeit ein Stück Erde, auf dem heute die kühnsten Rennen der Welt sich abspielen, eine überwältigendere und raschere Entwicklung genommen als hier, wo wir noch vor 50 Jahren nach unserem Schulausflug im Aufsatz schrieben, daß Nürburg ein armes Dorf von Samenkrämern sei?
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Man muß sich am Potsdamer Platz, von dem aus modernste Straßen ins deutsche Land und in die Welt hinausgehen, im Postwagen auf die rechte Bankreihe setzen, um den Blick auf die Nürburg zu bekommen. Unsere Straße führt noch ein Stück durch den Mischwald und steigt zum Seiberg hin weiter an. Nur für ein paar Augenblicke zeigt sich, vor der Quiddelbacher Höhe, die Nürburg. Sogleich verschwindet sie wieder. Zu Tal geht unser Blick ins Quellgebiet des Adenauer Baches und hinüber zu den Ahrbergen. Nach zwei kurzen Schleifen steigt zu beiden Seiten der Straße Quiddelbach auf, das im Kessel von zwei Quellbächen liegt. Schau rechts hinauf! Wirklich königlich ragt nun die Nürburg empor, früher fast bis zur Spitze des Turmes eingehüllt vom Laub der Wälder.
Ich denke an die Wendeltreppe, die diesen Turm zugänglich macht. Denke daran, welch prächtige Rundsicht man von droben genießt: über das Rheintal und das Siebengebirge bis Köln und bis hinein in den Westerwaid, hinein in die Berge des Laacher Sees, auf Gänsehals und Hochsimmer, Hochkelberg, die Hillesheimer Berge, auf Aremberg und auf den Michelsberg bei Münstereifel. Ich habe die Zahl der Dörfer vergessen, die wir als Schüler von droben nach den vier Himmelsrichtungen hin sahen, weiß aber noch, daß sie bei der Nürburg größer war als bei der 9 km entfernten Hohen Acht.
Ich denke, da wir in Schleifen jäh abwärts fahren, auch an meinen alten, erst im Mai 1956 zu Ediger an der Mosel verstorbenen Lehrer, der uns am Tag nach dem Ausflug als Ersatz für den Schild des guten Grafen Ulrich von Hochstaden ein Blechstück aus dem Spritzenhaus an den Birnbaum im Schulgarten hing und es, wenn er langsam bis drei gezählt, hart auf die Erde fallen ließ. Eins, zwei und drei bedeuteten die drei Tage, die Ritterschaft, Gesinde und Volk in der Eifeler Heimatsage warten mußten, bis der vor der Burgkapelle aufgehängte Schild herunterfiel und dadurch verabredungsgemäß mit „frohem Ton“ die erlangte ewige Seligkeit des Verstorbenen kund tat. Der Klang des Blechstücks auf dem eigens untergelegten Mayener Basaltstein liegt mir heute noch, wenn ich daran denke, im Ohr.
Nun hüllt der dichte Wald des Adenauer Baches, dessen Tal wir hinabfahren, Wandersehnsucht, Sinnen und Erinnerung ein. Wie im Märchen: gelb, rot, blau und weiß, blüht es in den Wiesen, die rechts von hohen Tannen eingezäunt sind; links steigen Kornfelder an. Auf der Talsohle mündet, aus der ßaar her kommend, die Mayener Straße. Man könnte meinen, die bunten Blumen samt dem Ginster seien in den Wiesen um Breidscheid, das eng ins Tal gequetscht liegt, ausgesät worden. Dem Schuljungen vorne im Postwagen, der die Namen der Orte, die wir durchfahren, laut vor sich aufsagt, scheint „Breidscheid“ besonders zu gefallen. Er wiederholt es immer in zwei Silben. Fürwahr — der Leser spreche es sich vor —, wäre das nicht für den Bahnschaffner eine schöne Station zum Ausrufen geworden? „Breid – scheid!“ Darum sollte es ja auch die erste Station auf der Strecke Adenau—Kelberg—Ulmen—Cochem werden, die wir vor einem Vierteljahrhundert mit Inbrunst erstrebten und die damals als die „Blaue Linie“ von den beantragten Verbindungen zwischen Hocheifel und Mosel die meiste Aussicht hatte. Es ist nicht schlimm, daß nichts daraus geworden ist; das Postauto ersetzt uns den Zug.
Der Junge fragt seine Mutter, ob das da rechts, wo zwischen zwei Bergbächen der Hohen Acht über den „Langen Strich“ die breite Zubringerstraße kommt, ob das auch noch der Nürburgring sei. Unser Blick geht hinauf in das Berggeklüft, indes an den Hängen zur Linken der Ginster die ödlandstellen betupft. Weißdorn und Ginster überziehen die Hänge und wachsen bis nach Adenau hinein. So, als wollten sie sagen, daß Adenau auch heute, trotz der neu erlangten Stadtrechte, eine richtige und tüchtige Eifeler Land-, Bauern-, Markt- und Waldstadt sei. Da halten wir nach einer Fahrzeit von 22 Minuten in der Stadtmitte am „Wilden Schwein“.