Vom himmlischen Gleichgewicht
Ein Brief an Josef Kreutzberg ins Jenseitige
VON THEODOR SEIDENFADEN
Aus dem Ewigen, darin nun Ihr behutsamer Geist sich dem verband, was Sie als Chirurg mitunter still „die Liebe Gottes“ nannten, höre ich plötzlich mit Ihrer Stimme ein Wort Goethes. Sie zitierten es während jener unvergeßlichen Nacht, die unseren Kreis gleichgestimmter Männer und Frauen in Ihrem Heim, der Mitte eines seelisch-geistigen Suchens und Findens, zu dem erlesenen Ahr-Burgunder ringen ließ um unvergängliche Werte. Ich muß mein Erinnern gerade jetzt — eben schlug die vierte Stunde Ihres zweiten „jenseitigen“ Allerseelen-Tages — festhalten, weil ich aus dem Traum aufwachte, der mich, merkwürdig umschleiert, einen der köstlichsten Augenblicke meines Neuenahrer Gedenkens wieder erleben ließ: den, an welchem Sie als Gastherr fröhlichen Blickes stehend die „nächste“ Flasche entkorkten, die „dreizehnte“, wie meine abergläubische Nachbarin flüsterte, derweil Sie die leeren Gläser füllten, wie wenn Sie kein Siebziger, sondern noch einmal Bonner oder Münchener Student gewesen wären: Student — das bewies uns oft genug Ihre Belesenheit —, der durchaus umgegangen war mit den geistigen Stößen der Zeit. „Wir waren“, sagten Sie einmal, „eingetreten in ein neues geschichtliches Sein. In den Kriegsfreiwilligen von 1914 zeigte es sich als die schöne Idee, für die man stirbt.“ Der gegenständliche Traum aber zwingt mich, Ihnen zu schreiben, als ob der Brief, den ich in meiner rechtsrheinischen Kölner Waldklause hinwerfe, Sie morgen erreiche. Das Wort Goethes, das Sie damals, sich gegen den Hochmut der Zeitlichen wendend, sprachen, lautet: „Die Übereinstimmung des Ganzen macht ja ein jedes Geschöpf zu dem, was es ist, und der Mensch ist Mensch so gut durch die Gestalt und Natur seiner oberen Kinnlade als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes einer kleinen Zehe: Mensch. Und so ist jede Kreatur nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie, die man auch im großen und ganzen studieren muß, sonst ist jedes einzelne ein toter Buchstabe.“
Das Wort, setzten Sie hinzu, finde sich in Goethes botanischen Studien „Die Metamorphose der Pflanzen“, einem der vierzehn Bände seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten; sie deute in modernstem Sinne das leben als Symbol: ein undurchdringliches komplexes persönliches Sich-Äußern, das immerfort dichtet an einem Mythos.
Da Sie nicht nur Mediziner, sondern aus parazelsischem Wurzeln Arzt waren, konnte Ihr Schaffen als Chirurg, als Sammler archäologischer Werte, als Dichter das werden, was Sie an Goethe, dem Weisen vom Weimarer Frauenplan, wie der Ihnen befreundete Arzt-Dichter Gottfried Benn ihn nannte, so liebten: eben — Symbol, eine „Interpretation der Welt aus sich selber“. Sie umschloß Ihnen die ruhelose Dialektik zwischen dem Gesetzlichen ewiger Formen und der Freiheit des Lebens und wirkte aus dem Beruhigenden Ihres Wesens bildend und bindend, so daß Sie, selbst wenn Sie lange schwiegen, Mitte unseres Kreises blieben.
Ihnen war, aus dem Weltfrommen eines Lebengläubigen das Reich des Guten, das Reich der Wunder: der Wunder des Innerns. Die Geschichten vom Guten, an denen Ihr erzählfroher Mund, auch in der „sagenhaften“ Nacht, reich war, blieben Ihnen die Märchen des Lebens. Sie wußten um Wünsche, die als Hoffnungen einen Schimmer von Glück in schwerste Stunden der mehr als 42 ooo Operationen brachten, die Sie leiteten oder selber ausführten. Sie wußten, was eine echte Freude dem Menschen bedeute, daß er für sich allein kaum etwas sei, jedoch zwei Menschen, die zueinander gehörten, eine Welt bedeuteten. Sie wußten, ohne Kummer gäbe es nicht das, was sich Liebe nennen dürfe, Finsternis tue not, damit Licht sich offenbaren könne. In einem Zeitalter des Freud- und Friedlosen, des Verdüsterns, wie die deutsche und die abendländische Literatur es seit Menschenaltern spiegele, lebte Ihnen das Geheimnis des Humors: fern verkrampfter Ironien und Sarkasmen das Erlösende befreienden Lachens. Sie waren die „Heiterkeit der Seele“ — trotz einer heimlichen Schwermut, die mitunter aus Ihren Blicken sprach — waren jene Heiterkeit des Erkennens, das den Franzosen Paul Valerie sagen ließ, nichts fördere den Lebensüberdruß so wie der Wille, die Dinge sehen zu wollen, wie sie sind! Sie waren überzeugt von dem Schauen des alten jüdischen Weisen aus Alexandrien, der angesichts des Niederganges der antiken Kultur sagte: „Wer das Wissen vermehrt, der mehrt nur das Leiden.“
Sie wußten um das Wort Nietzsches: „Die Weisheit setzt auch der Erkenntnis Grenzen. Es gibt viele Dinge, die ich nicht wissen will!“
Humor war Ihnen jene Kraft der Seele, die mit dem einen Auge lacht, mit dem anderen weint.
Darum lebte Ihnen in einer Epoche der „kühlen Luft“ zwischen den Menschen das, was uns nicht nur in der genannten Nacht, was uns immer wieder zusammenhielt: der Wille zum geistigen Austausch, zum freien Selbstmitteilen. So standen Sie i n der Zeit gegen sie, d. h. ihren Zug, seelische und geistige Werte in Geldwerte umzuwechseln.
Sie scheuten sich nicht, das Wort des genialen Dramaturgen Julius Bab zu erinnern, der einmal schrieb: es scheine, als ob viele Dichter heute an der Stelle, wo sonst das Herz sei, ein Loch hätten!
Wer beobachtete, wie Sie aus Ihrer Sammlung dem Gaste eine kleine ägyptische, indische, griechische oder malayische Plastik in die Hände legten, wie Sie von ihr und ihrem Erwerben und damit von Ihren Reisen erzählten, den erfüllte unvergeßlich das Geheimnis einer in sich ruhenden Ehrfurcht.
Ihnen war Gott das, was Cusanus meinte, von dem wir wiederholt sprachen: der Zusammenfall aller Gegensätze, und darum fühlten sich auch auseinanderstrebende Elemente in Ihrem Strahlungbereiche geborgen.
Sie waren im tiefsten Wortsinne — Hüter. Sie wußten um Zeitalter, die ähnlich quälten wie das unsere, wußten, in welchem Maße es, etwa im 15. Jahrhundert, geschehen konnte, daß die Madonnen allmählich ihr Lächeln verloren und dieses Lächeln schließlich wie ein weher Abschied um den zuckenden Mund schwebte.
Doch — Sie verehrten in Oswald Spengler, wie das so manche seiner sklavischen Folger taten und tun, nicht den „Untergang-Propheten“: Sie ehrten in ihm den Morpholo-gen des Geschichtlichen, dem das „Welten“ ständig neue Werte schafft. Deshalb waren Sie des unbedingten Glaubens — Sie, der Kriegsfreiwillige, mehrfach ausgezeichnete Frontkämpfer des Ersten, Sie, der Oberstabsarzt des Zweiten Weltkrieges — es wachse, trotz allem Verneinen, wieder eine Zeit, die „etwas“ glauben und verehren wolle und müsse, der sogenannte Relativismus werde sein Unvermögen als geistigen Bankrott darleben.
Sie ließen uns während der Nacht den Pfirsichbaum schauen, „das Mädchen aus der Fremde“, wie Sie ihn in einer Ihrer köstlichen Schilderungen nennen, „das Mädchen aus der Fremde“, eine jener Arbeiten Ihrer Feder, wie sie uns, vorbildlich, in Johann Peter Hebels „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“ (1811) begegneten. Das „Mädchen“, führten sie aus, stamme aus China; es sei von dort über Indien, Persien in die Mit-telmeerländer gewandert, habe bereits in den Mysterien der alten Ägypter eine beachtliche Rolle gespielt und wachse lange schon an Rhein und Ahr, deren Erde und Sonne solchen „Märchen der Fremde“ wohl bekomme; der Pfirsich-Kern — Sie hoben weisend den Zeigefinger ihrer Rechten, als Sie es sagten — berge in eisenhartem Schalensarg das gefährlichste aller Gifte: die furchtbare Blausäure. Sie sprachen von dem Papyrus, den Sie zu Paris, im Louvre, gesehen hätten, der mehrere Jahrtausende vor Christus ein Warnen an den Verräter von Priestergeheimnissen festhalte und sage: „Sprich nicht aus den Namen von IAO (Jahwe?) — bei der Strafe der Pfirsiche!“
Gemeint sei, deuteten Sie, eben die Blausäure.
„Und seltsam und voller Geheimnisse ist noch das Wirken des Kern-Giftes auf den Organismus. Indern das Blut weise gehemmt wird, einen Sauerstoff an das Gewebe abzugeben, wird es mit einem Schlage hellrot, und die Körperwärme steigt bei dem also Vergifteten noch nach dem Tode. Schauriger Abgrund: Pfirsichblüte und entbundene Sonnenwärme.“
Wir schwiegen, als Sie so gesprochen hatten, Nach einer Weile setzten Sie hinzu: es lohne sich schon, heiter und ernst zugleich, dem Gesetze nachzusinnen, das der Pfirsiche Labsal für den Kranken und Gift für den Gesunden aus einer Wurzel strömen lasse; dann gerate der denkende Geist an ein Urphäno-men vom Gegensätzlichen und vom Wechsel aller Erscheinungen, die im großen und kleinen Kosmos auf einer höheren Ebene als Einheit zu spüren seien — und damit stünden wir wieder bei Cusanus, von dem die Rede gewesen sei!
Sie blieben stiller Ringer um das Gestalten. Es war Ihnen kein artistischer Begriff, sondern der Wille, im Geheimnis Mensch verpflichtende Form zu gewinnen. Sie gingen den „Weg nach Innen“ zu den Ur-Bildern, zu den Mythen. Mit Ihrem Sammeln des Alten rangen Sie zutiefst um ein neues Bild des Menschen. Ihnen war Kunst nicht ein Leisten, sondern fundamentale Tatsache des metaphysischen Seins.
Ich bedauere heute nur dies: daß Sie nicht meiner, Jahre vor der „großen“ Nacht ausgesprochenen Bitte — wahrscheinlich aus einer falschen Bescheidenheit —, folgen mochten: die Gedichte, die sich aus Ihrem Schauen durch fünfzig bewegte und erfüllte Lebensjahre lösten, als eine Einheit erscheinen zu lassen.
Sie waren einer der Wenigen, die wissen; Dichtung sei wie alle Kunst, stets Geburt. Doch — vielleicht bleibt es unsere, der Überlebenden Aufgabe, diese Sammlung zu ermöglichen: es entstünde eine „Gabe“, die das spiegelt, was mein Brief ins Ewige wecken will: das währende Erinnern an einen Mediziner, der Arzt, Sammler und Dichter war, der das darlebte, was uns ins Künftige hilft: der „Mensch“ als Symbol des Gegenständlichen, geweiht aus der Heiterkeit, dem „himmlischen Gleichgewicht“, wie Sie es uns in Ihrem Gedichte „MARIA LAACH“ vermachen. Sie konnten es dem Jahrbuche 1968 des Kreises Ahrweiler, dessen ständiger Mitarbeiter Sie waren, schenken, nicht ahnend, es werde die letzte Gabe an das geliebte Buch.
Ich verehre in diesem Gedichte eines der besten unserer rheinischen Lyrik und glaube, daß Sie aus seinem Gehalt ins Künftige des „Wirkenden“ von Rhein und Ahr eingehen werden.
Es zeugt von der ewigen Wiedergeburt des Geistes, der nicht unter mechanischen Gesetzen der Zeit steht und darum im Untergehenden die Kraft des Auferstehens strahlt, wie es der von Ihnen so geschätzte „Isenheimer Altar“ überdimensional spiegelt.