Vögel fliegen auf die Hand
Keine Hexerei — jeder kann es!
VON JULIUS EIGNER
Wenn ich vor das Haus trete und rufe, dann kommen die Vögel aus dem Gebüsch herbei und setzen sich mir auf die Hand. Andere fliegen ans Fenster; wenn sie mich am Schreibtisch sehen, pressen sie ihre Brust an die Scheiben und warten, bis ich öffne. Dann^eilen sie mir entgegen und nehmen aus meiner Hand einen Mehlwurm. Und wenn ich morgens länger als
üblich schlafe, flattern sie ans Bett und zerren mich an den Haaren, als wollten sie mich wecken. Es geschieht selten, daß Menschen mit den Tieren der freien Natur in solcher Vertraulichkeit leben, und so wundert es mich nicht mehr, wenn man mich immer wieder fragt: „Wie machst du das?“ oder gar: „Kann ich das auch?“ Wir sind sicher, daß das, was uns gelang, auch ändern gelingt.
Foto: Julius Eigner
Es ist keine Hexerei dabei. Zweierlei allerdings ist dringend erforderlich: Geduld und Naturliebe, und von beiden soviel, wie es nur wenig Menschen noch aufbringen. Wer sich aber mit diesen Tugenden wappnet, dem eröffnet sich eine neue Welt. Von dem Tage an, da wir in das Haus am Walde zogen, wünschten wir, mit den Tieren des Waldes wie mit Nachbarn zu leben. Mit einigen gelang es uns schnell: wir fütterten die Igelmutter mit Milch, Eichhörnchen holten uns Haselnüsse aus der Hand. Bei den Vögeln war es schwerer, sie sind ja mit Recht das Symbol der Freiheit. Wir taten alles, um auch die Vögel zu solcher Nachbarschaft zu ermutigen. Im Garten pflanzten wir Vogelhecken, damit sie dort Schutz fänden; an die Bäume hängten wir Nistkästen, damit sie ungestört brüten könnten; im Winter fütterten wir sie. Ja, wir verschenkten sogar unseren geliebten Kater Murr, weil Katzen leider gerne Vögel fressen. Bald brüteten die Vögel in großer Zahl bei uns. Im Winter waren die Futterplätze mit vielen Vögeln besetzt. Sie betrachteten uns aber noch immer nicht als ihre Nachbarn, und das war ja unser Ziel. So vergingen vier Jahre. Wir wurden immer niedergeschlagener, weil wir befürchteten, daß wir es nie schafften. Wir hielten aber durch, und so konnte es nicht ausbleiben, daß schließlich unser Wunsch in Erfüllung ging. Es war Juni. Die erste Brut der Singvögel hatte die Nester verlassen und lärmte am sonnigen Waldrand. Ich arbeitete im Garten, vergaß aber die Arbeit immer wieder und sah statt dessen den vier kleinen Rotkehlchen zu, die erst vor kurzem das Nest verlassen hatten. Die Alten waren ununterbrochen damit beschäftigt, die hungrigen Kleinen zu füttern. Ich rief meine Frau, damit auch sie sich an dem Familienidyll erfreuen sollte. Sie kam aus der Küche herbei, und der Zufall wollte es, daß sie ein gekochtes halbiertes Ei in der Hand hielt, mit dem sie den Salat dekorieren wollte. Auf einmal saß eine junge Kohlmeise ihr auf der Hand und fraß vom Eidotter. „Wir erstarrten zu Salzsäulen, und unsere Herzen schlugen so laut, daß wir befürchteten, das Vögelchen könnte von unsern Herzschlägen verscheucht werden. Aber davon war keine Rede. Das Junge sah uns ruhig an und fraß weiter, bis es satt war und davonflog.
Jetzt holte ich mir das andere halbe Ei aus der Küche, und wir warteten gemeinsam. Bald saß wieder ein Meisenkind auf der Hand meiner Frau. Wir warteten weiter, mit immer neuer Spannung. Es kam wieder eines zu meiner Frau, und eine halbe Stunde später setzte sich eines auch auf meine Hand. An diesem Tag gab es für uns kein Mittagessen. Auch als unsere Mägen knurrten, gaben wir die Stellung nicht auf; denn die Vogelkinder sollten es schnell lernen, daß wir immer für sie da seien.
Am nächsten Morgen, schon vor fünf Uhr waren wir auf und warteten mit gekochten, halbierten Eiern im Garten, denn wir wußten, daß die Vögel nach der langen Nacht sehr hungrig sind. Sie kamen diesmal so schnell zu uns, als hätten sie auf uns -gewartet. Bald war es, als hätten sie alle Scheu abgelegt und fänden es ganz natürlich, gekochte Eidotter aus Menschenhand zu fressen.
Das Erlebnis hatte uns belehrt, daß gekochtes Ei offenbar zum Lieblingsfutter der jungen Vögel gehört, und wir sorgten dafür, daß immer gekochte Eier griffbereit dalagen. Wer beschreibt aber unser Erstaunen, als wir einige Tage später bei Sonnenschein im Garten frühstückten und nun Meisenkinder zu uns an den Tisch kamen. Sie waren ganz ohne Scheu und fraßen sowohl von der Butter wie auch vom Käse. Eines spezialisierte sich auf die Leberwurst und noch ein anderes, es war immer dasselbe, denn wir erkannten es an dem schwarzen Fleck auf der linken Wange, setzte sich sogar auf mein Milchglas und trank manierlich und offenbar mit Vergnügen von meiner Milch. So lernten wir, daß Meisen im Futter nicht wählerisch sind, und daß es nur darauf ankam, mit wohlschmeckendem Futter da zu sein, wenn sie Hunger hatten. Noch viel mehr gefiel uns ihre Großmut, denn, obwohl sie ^annehmen durften, das alles was auf dem Tische stand, ihnen gehörte, sie dennoch uns erlaubten, auch davon zu essen.
Bald holten alle sechs Vogelkinder jener Brut sich das Futter aus der Hand; aber wir merkten schließlich, daß viel mehr als sechs kamen. Noch andere hatten also gelernt, daß man bei uns billig fressen könnt?. Es waren noch drei Brüten, die sich der ersten anschlössen. Sie betrachteten sich bald als zu uns gehörig, sie setzten sich uns auf Kopf und Schultern, flogen zur Schreibmaschine, auch wenn ich davor saß und schrieb, flogen auf die Schüssel, wenn meine Frau Kartoffeln schälte oder Gemüse putzte, retteten sich auf die Fensterbank, wenn es draußen regnete. Als einmal ein Wolkenbruch draußen niederging, kamen sieben Meisengeschwister völlig durchnäßt zu mir ins Zimmer. Zwei setzten sich auf die Schreibmaschine, an der ich gerade schrieb, eines auf meine Schulter, die ändern verteilten sich auf die Bücher, die auf dem Schreibtisch umherlagen. Sie schüttelten sich heftig und verteilten die Regentropfen, die sich in ihrem Gefieder angesammelt hatten, auf Bücher und Notizen, putzten sich mit viel Geschick und waren offenbar mit der Welt zufrieden. Als sie trocken waren, kamen sie zu mir auf die Hand und fraßen Käse. Und als sie trocken und satt waren, stürzten sie sich wieder hinaus in den Regen.
Im Haus halten sich die Vögel gerne auf, denn da droht ihnen keine Gefahr, da gibt es immer etwas Neues zu entdecken, und Futter findet sich immer. Da sind Zeitungen und Bücher, die man zerfetzen kann, da gibt es vor allem Platz für die vielen Häufchen, die sie am liebsten auf die geliehenen Bücher setzen, da gibt es interessante Schlupfwinkel, ganz hinten und ganz oben, gibt es Spinnen, die lecker schmecken. Und schließlich schwingen sie sich auf den Schrank und betrachten die Welt von oben. Sie sind verspielt wie Kinder. Aber ein Sommer ist lang für ein Vogelleben. Wir sahen, wie sich das blasse Kinderkleid verfärbte und kräftigere Farben annahm, wie die Kinder wuchsen und sich ihre Persönlichkeiten entwickelten. Und schließlich hatten wir wieder kleine Vogelkinder um uns, die zweite Brut. Für diese war es leichter, sich uns anzuschließen, denn sie sahen das Beispiel der Älteren, und das wurde ihnen zum Vorbild. Schließlich hatten wir über 30 Vogelkinder an der Hand. Es waren so viele, daß wir sie nicht mehr auseinanderhalten konnten. Aber ihre Zahl verringerte sich auch wieder. Manche machten sich selbständig, andere wurden vom Sperber geholt, Zweimal fanden wir ein totes Vogelkind dicht am Haus, ohne, daß wir es uns vorstellen konnten, was ihm widerfahren war.
Nonnenmeise
Foto: Julius Eigner
Waren wir im Garten, liefen uns die Vogelkinder zwischen den Beinen umher, saßen wir am Tisch, dann setzten sie sich auf den Tisch oder eine Stuhllehne, oder sie nahmen vor unseren Augen ein Sonnenbad. Dann sahen sie recht komisch aus. Sie spreizten Flügel und Schwanz, sträubten die Kopffedem, hielten den Kopf schief, öffneten den Schnabel und verharrten in dieser Haltung unbeweglich. Man konnte es ihnen ansehen, wieviel Freude sie daran hatten. Wir beobachteten auch, wie sie sich untereinander zankten, wie sie sich gegenseitig die Brocken aus den Schnäbeln nahmen, sich von unserer Hand herunterstubsten.
Kurz, sie betrugen sich wie Kinder, und wir sahen mit Freuden, wieviel Ähnlichkeit es zwischen Menschen- und Tierkindern gibt. Dieser freundnachbarliche Verkehr mit den Vögeln, der uns manche Einblicke in die Zusammenhänge der Schöpfung gibt, wie wir sie zuvor nicht ahnten, ist allerdings nicht immer eine reine Freude. Die Vögel bringen recht viel Unordnung und Schmutz ins Haus. Da wir aber gelernt haben, daß sie niemals stubenrein werden, haben wir uns damit abgefunden. In den vogelreichen Sommermonaten bedecken wir Bett, Tisch und Sessel mit Zeitungspapier. Dadurch wird unser Haus zwar ungemütlich, aber die vielen Vogelkleckse werden dadurch etwas wenigstens von unsern Möbeln ferngehalten. Die Ungemütlichkeit nehmen wir gerne in Kauf; denn wir haben die Nachbarschaft mit den Vögeln gewollt, und nun sind wir glücklich, daß wir sie gefunden haben. Ob du, lieber Leser, es vielleicht auch versuchst, ein Freund unserer Vögel zu werden!