Vergangene Berufe:
Der Landbrief träger
Heinrich Schäfer
“Öde Langeweile im verkehrsfernen Eifeldorf“, zu diesem Thema ließen sich viele traurige Worte zusammenstellen. In soweit stimmt es auch: In den 20er und 30er Jahren lebten wir ohne verkehrstüchtige Landstraße, deshalb auch (fast) ohne Auto und ohne Pferdefuhrwerke. Die Eisenbahn war erst nach eineinhalbstündigem Fußweg zu erreichen. Wenn uns aber ein Außenstehender gesagt hätte: „Ihr lebt langweilig, wie einsam es hier ist!“, wir hätten ihn nicht verstanden. Einsam? Was ist das?
Wenn es keine technischen Nachrichtenmittel gibt, dann gibt es immer noch die mündlichen. Jeder Dorfbewohner, der von einem Weg nach draußen zurückkam, jeder Besucher von außerhalb, der sich in unser Dorf verirrte, er wurde ausgefragt. Es kamen wunderliche Nachrichten zustande.
Neben diesen mehr zufälligen Nachrichtenquellen bestand aber eine verläßliche, und das war der Landbriefträger. Der Postbote stieg jeden Tag, auch sonntags, von Henningen an der Ahr hinauf, um uns mit der großen Welt zu verbinden.
Zeitig am Morgen machte er sich auf den Weg, steil war der Anstieg vom Ahrtal hinauf nach Lind. Er brauchte eine gute Stunde für diese Strecke, egal ob er zu Fuß ging oder sein Fahrrad dabei hatte. Das Fahrrad konnte hilfreich sein, wenn er größere Pakete zu schleppen hatte. Auch brachte es ihn schneller vorwärts, wenn der Weg eben verlief oder wenn es abwärts ging. Fast hätte ich „Straßen“ gesagt, aber bei genauer Betrachtung der ganzen Strekke muß ich sagen, daß der Postbote nur unbefestigte Wege oder gar Fu ßpfade benutzte. Ja, streckenweise hatte er sich selber den Weg gebahnt. Wenn ich zum Beispiel an die Strecke von Hürnig hinab ins Lierstal denke, so war durch Wiese und Wald eine schmale Spur zu sehen, die allein von ihm gebahnt war.
Kehren wir zurück nach Lind. Es war das größte unter den Dörfern mit knapp 300 Einwohnern. Was hatten die Leute an postalischem Bedarf? Wenig. – Vielleicht ein Brief von der Behörde? Selten. – Vielleicht eine Postkarte von Verwandten, die zum Besuch der Kirmes einluden? Einmal im Jahr! – Vielleicht ein Gruß zu Weihnachten oder Neujahr! Diese Feiertage gibt es …
Von Lind aus geht es weiter nach Plittersdorf, ein Fußweg von 40 Minuten. Der Briefträger benützt den kürzesten Weg. Dieser führt an dem „Schwanert“ genannten Wald vorbei ins Jonastal. So heißt der Sattel, an dem sich Sahrtal und Lierstal am nächsten kommen. Dieser gerade Weg ist heute verlassen und vergessen. Die Flurbereinigung hat ihn mißachtet. Er ist für den Wanderer, der das Gelände genau beobachtet, kaum noch auszumachen.
Unser Landbriefträger, Tag für Tag im selben Gelände, kannte sie sehr wohl, die geraden Wege, stracks über Berg und Hügel. Und es scheint hier angebracht, ein Wort zu sagen über die drei Etappen im Straßenbau der Eifel.
Was uns aus imperialistischer Zeit, was uns das Imperium Romanum und der Empereur Napoleon an Straßen hinterlassen haben, die streben geradlinig durch die Landschaft, die Benutzer der Straßen waren gelenkt und Abschweifungen waren verboten. Dann kam eine Zeit, die paßte die Straßen mehr dem Gelände an, nahm Rücksicht auf die natürlichen Gegebenheiten. Da sind die Kurven, mit denen die Höhen erklommen werden. Und unsere heutige Zeit? Sie packt die Natur in direktem Zugriff. die neuen Straßen sind „brutal durch die Berge gebaggert“. Vorbei ist die Gemütlichkeit, die „geschlängelten Wege, schlehdornumrahmt“, wie Ernst Thrasold sagt. Ist das ein neuer Imperialismus? Ja, zwar nicht über den Menschen, sondern über die Natur, die sich nicht wehren kann.
Zurück zu unserem Mann der Post, der Reichspost. So hieß sie zwischen den beiden Kriegen.
Auch den Namen des Mannes sollten wir jetzt verraten. Briefe austragen, das kann jeder. Aber daneben auch Überbringer mündlicher Nachrichten zu sein und zum menschlichen Kontakt beizutragen, das konnte niemand so gut wie Paul Radermacher aus Henningen. Keine falsche Verklärung im Nachhinein! Aber:
Paul war immer gesprächsbereit. In den Häusern und auf der Dorfstraße in Lind sprach er mit vielen, hörte manches. Zwischen den Dörfern grüßten die Leute auf den Feldern, sie freuten sich, ein Wort sprechen zu können. Dann kam er nach Plittersdorf. Hier konnte er das Gehörte weiter geben. In meinem Elternhause machte er Mittagsrast. Er aß sein Butterbrot und trank eine Tasse Kaffee.
Wenn sein Auftrag es nötig machte, besuchte er noch die drei Häuser von Hürnig, obwohl dieses schon außerhalb des Kreises Adenau lag. Hürnig war der höchste Punkt seiner Rundfahrt. von da aus ging es abwärts, hinunter ins Lierstal. Die Menschen in Obliers waren die einsamsten, wenn ich dieses Wort noch einmal verwenden darf. Werkam schon hierhin, außer dem Postboten? – Über Laubachshof strebte er dann dem Ahrtale und seinem Ausgangspunkte zu. Mehr als 20 Kilometer hatte er dann geschafft, genug, um einen Menschen bei guter Gesundheit zu halten.
Wie sehr die Dorfleute auf sein Erscheinen eingestellt waren, dazu dürfen wir folgendes erwähnen. Hatte es im Winter stark geschneit, dann sagte der Plittersdorfer Ortsvorsteher:
„Wir wollen auf dem Höchsten und imJonasta-le den Weg freischaufeln, damit der Briefträger durchkommt.“ Nicht, daß wichtige Postsendungen hätten ausbleiben können, man hätte es ausgehalten, für Wochen abgeschnitten zu sein, – aber man wollte den Postboten sehen. Nun gibt es ihn nicht mehr, den Landbriefträger zu Fuß. Aber er hat seine Spur hinterlassen, wir sprachen davon. Dort, wo er jahrzehntelang mit dem Fahrrad seinen Weg nahm, dort von Hürnig abwärts durch die Wiesen in die Höch-bich nach dem Lierstal, dort müßtet ihr noch eine von ihm gebahnte Spur finden.