„Unserer Lieben Frauen Bettstroh“

„Unserer Lieben Frauen Bettstroh“

VON PETER HERBER

„Was mag das wohl sein!“ so wird sich mancher fragen. „Welches von unseres Herrgotts Florakindern kann sich dieser Ehre rühmen: Unserer Lieben Frauen Bettstroh sein zu dürfen?“ Nun denn: das bescheidene Hartheu (Hypericum). Sein Name verrät uns schon, daß es zwar ein hartes Heu für die Haustiere zu sein scheint; wegen seiner holzig harten Stengel und Triebe konnte es im Volksmund keinen anderen Wertgrad als Viehfutter erlangen. Dennoch: diesem Kraut muß manches eigen sein, um als bevorzugter Star in unserer Blumenwelt zu glänzen. Und das mit Recht!

Doch zunächst hier sein Steckbrief:

Mit etwa 200 Arten bewohnt die Familie der Hartheugewächse die verschiedenen warmen und gemäßigten Zonen fast aller Erdteile. Dabei weisen die Mittelmeergebiete einen besonders großen Artenreichtum auf. In Deutschland sind 9 wildwachsende Arten vertreten, von denen das durchlöcherte oder Tüpfelhartheu (Hypericum perforatum) die bekannteste ist. Und gerade dieser Spezies mögen die noch folgenden Zeilen gewidmet sein.

Wie kaum einer anderen Pflanze konnte der Volksmund eine solche Fülle von treffenden Namen geben. Aus mehr als zwei Dutzend seien die schönsten angeführt: Frauen-, Blut-, Hexen-, Stier-, Konrads-, Kreuz-, Donner-, Blitz-, Gottes-Gnaden-, Christi-Wunden-, Tausend-Löcher-, Fieberkraut, Herrgottsblut, Manneskraft, Wohlgemut, Odinsblut, Jageteufel, Elfenblut. Neben all diesen Namen ist Johanniskraut der bekannteste und geläufigste. Zwar werden etliche Pflanzen anderer Gattungen auch als Johanniskraut bezeichnet: Labkraut, Nelkenwurz, Fetthenne, Beifuß u. a. Das eigentliche Johanniskraut ist unser Hartheu. Im Englischen heißt es St. Johns wort; in Frankreich herbe de Saint Jean; in Italien erba S. Giovanni.

Es ist ein in lichten Gebüschen, an Rainen und trockenen Plätzen häufig zu findendes Kraut, etwa 30 bis 60 cm hoch und mehrjährig ausdauernd. An den deutlich zweikantigen Stengeln sitzen gegenständig angeordnet länglich ovale Blättchen. Diese scheinen beim näheren Betrachten – man halte ein Blättchen gegen die Sonnewie ein Sieb durchlöchert, wie von Nadeln durchstochen. (Name!) Es sind winzig feine Öldrüsen, welche die scheinbare Perforierung bewirken. Die gelben Blüten, viele zarte, strahlig angeordnete Staubgefäße umschließend, stehen in Trugdolden an den Enden der Triebe. Kurz nach dem Aufblühen tritt beim Zerdrücken aus den sich bildenden Fruchtkapseln ein rötlicher Saft hervor, der sich in Drüsengängen gebildet hat.

Mittsommers, dem Tag der Sonnenwende (22. Juni), erstrahlt das Johanniskraut in seiner höchsten Blütenpracht. Dann leuchten seine goldgelben Blumen gleich winzigen Abbildern der Sonne. Jetzt hat sie ihren höchsten Stand erreicht, spendet Licht und Wärme am stärksten; es ist der Höhepunkt im Ablauf des Jahres. Mit ihm fällt zusammen das Fest Johannes des Täufers (24. Juni.)

Seit urdenklichen Zeiten sind diese Tage umwoben von einem Zauberkranz des Geheimnisvollen, geladen mit dem Nimbus mystischer Gebräuche. Wen wunderts, wenn da das Hartheu mit Recht den hervorgehobenen Namen Johanniskraut erhielt und wegen seiner hervorragenden Heilkraft beim Volke höchste Wertschätzung und größtes Ansehen genoß!

Berühmte Ärzte des Altertums (Plinius d. Ä., gest. 79 n. Chr., Dioskurides, 1. Jahrh. n. Chr., Galenus 130 bis 210 n. Chr.) bezeugen dies schon in ihren Arzneimittellehren, Konrad von Megenberg, der Dom- und Ratsherr in Regensberg, gest. 1374; der Kräutervater Hieronimus Bock, gest. 1554; Leonhard Fuchs, einer der „Väter der Botanik“, gest. 1501 als Medizinprofessor in Tübingen; Tabermontanus, der berühmte Pfälzer Arzt und Botaniker, gest. 1590, seien aus der Vielzahl all der großen Heilkundigen ihrer Zeit erwähnt, die das „saht johannskrut“ zu den wirksamsten Heilpflanzen einstuften. Kein geringerer als Paracelsus, einer der bedeutendsten Naturforscher des späten Mittelalters – sein eigentlicher Name: Phipippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, gest. 1541-verhalf dem Johanniskraut zum höchsten Ansehen in der Volksheilkunde, wenn nicht gar zu übertriebenen Wertungen. In seiner okkulten Signaturlehre betont er das rätselhafte Ineinanderwirken der Naturkräfte und die geheimnisvollen Wechselbeziehungen der Dinge und Erscheinungen der Natur zu den Organen des menschlichen Körpers. Auf dieser überspannten Theorie beruhen vereinzelt noch heute die sog, sympathetischen Kuren und die Bezeichnung vieler Pflanzen als sympathetische Heilkräuter. Unser Johanniskraut ist eines davon. Paracelsus sagt in seinem „Buch von den natürlichen Dingen“, geschrieben 1525: „Ich will euch erklären, daß die Löcher, die in den Blättern sind, bedeuten, daß dieses Kraut für alle inneren und äußeren Öffnungen der Haut eine Hilfe ist. Was durch die Poren ausgetrieben werden soll, kann dadurch geschehen. Die Blüten faulen in der Form des Blutes. Das ist ein Zeichen, daß sie für Wunden und, was von Wunden kommt, gut sind, auch soll man sie gebrauchen, wo man Fleisch zügeln muß. Die Adern auf den Blättern sind ein Zeichen, daß Perforata alle Phantasiegebilde im Menschen und auch außerhalb austreibt … Es ist eine Universalmedizin für den ganzen Menschen. Es gibt keine andere Arznei in allen Rezepten, die ohne Schaden und ohne Zufälle so gut und ganz heilt wie diese Perforata. Es ist nicht möglich, daß eine bessere Arznei für Wunden in allen Ländern gefunden wird. Ihre Tugend beschämt alle Rezepte der Arzte.“ So Paracelsus. Das klingt doch wohl übertrieben!

Welche sind nun die so geschätzten Heilwirkungen des „saht johantuskrutes“ ohne den okkulten Beigeschmack des Paracelsus? Mögen zunächst wieder die älteren Heilkundigen zu Wort kommen: Die Ärzte der Antike preisen es als ein treffliches Wundkraut, das aber auch zur Reinigung der Nieren und Leber dient. Konrad von Megenberg erzählt in seinem „Buch der Natur“: „Daz kraut hat die art, daz ez daz herz sterkt und die Leber, und rainigt die nieren und hailt die gesweren und allermaist die grozen unreinen gesweren.“ Dergleichen Wirkungen schreibt ihm Tabermontanus zu. Nach Kneipp wirkt das Johanniskraut bei eiterigen Wunden und hartnäckigen Geschwüren „gerade wie ein Wunder“. In der heutigen Volksmedizin wird es bei den aufgeführten „Presten“ noch verwendet. Hinzu kommen Anwendungen von Johanniskrauttee bei Magen- und Darmkatarrh, Blasenentzündungen, Bettnässen und Krämpfen der Kleinkinder, nervösen Depressionen und Kreislaufstörungen. Besonders wertvoll ist ein Öl, das aus den Blütenknospen und -blättern leicht gewonnen werden kann. Das gesammelte Gut wird einer Flasche mit Speiseöl beigegeben im Verhältnis etwa 1:5. Diese Flasche bleibt nun etwa 3 Wochen lang den grellen Sonnenstrahlen ausgesetzt. Dabei färbt sich das Öl rötlich und ist somit gebrauchsfertig. Dieses Öl enthält nach Hilde Sieg einen wahren Schatz an Heilkräften. Vordringlich bei Brandwunden lindern einige Tropfen rasch die Schmerzen. Die vielseitigen Heilwirkungen des Johanniskrautes beruhen auf seinem Gehalt an Gerbsäure, an wundheilenden, entzündungshemmenden, durchfallwidrigen, ätherischen Stoffen.

Es ist darum auch gar nicht verwunderlich, daß ein Kraut wie unser Hartheu mit seinen vielfältig sichtbaren heilenden und lindernden Erfolgen in der heidnischen und christlichen Mythologie, im Volksglauben sowie in -gebräuchen höchstes Ansehen und Wertschätzung genoß. Dafür zeugen auch hier seine an früherer Stelle angeführten Namen. Als Bann-, Hexen-, Zauber- und Orakelmittel wurde es bevorzugt gebraucht. Nach der germanischen Mythologie entstand der rötliche Saft des Johanniskrautes aus dem Blute Allvaters Odin, als er bei einer Sommersonnwendfeier von einem Stier verwundet wurde. Deshalb wurden bei diesem Hochfest die Opfersteine, Götterbilder und Opfertiere mit dem blühenden Kraut geziert. Mit Kränzen von Hartheu geschmückt umtanzten Jung und Alt die Sonnenwendfeuer, damit die Holden und Himmlischen wohlwollend und segnend durch die Gaue schritten. Bei der zwar stetigen aber zögernd fortschreitenden Christianisierung der germanischen Stämme wurden viele Symbole und Gebräuche aus der Naturreligion bewußt beibehalten, jedoch mit christlichen Namen und Emblemen bezeichnet: „Weißer Baldur, weißer Christus“! Das innere Bedürfnis der Volksseele, sich zur Abwendung unbegreiflicher schädlicher Einflüsse auf Gesundheit, Leben, Hab und Gut der Dinge der Natur zu bedienen, hat sich bis heute erhalten und wird auch selbst in „aufgeklärtesten Zeiten“ nicht ausgerottet werden. Zu sehr sind wir Menschen doch selbst ein Stück der Natur.

So lodern in Mitteldeutschland zur Sommersonnenwende heute noch auf den Höhen die Johannisfeuer. Dann rollen brennende Räder von den Gipfeln zu Tal, während mit Johanniskraut und anderen Blumen geschmückte Jungen und Mädchen die Feuer umtanzen. Kränze von Johanniskraut, Margaretenblumen u. a. werden auf die Dächer der Häuser, in Ställe und Scheunen geworfen. Aber die Blumen müssen am Vorabend oder in der Johannisnacht gepflückt sein, dann hat es seine Wirkung: als Blitz- und Donnerkraut möge es die Schrecken der Gewitter bannen. Dem Teufel selbst ist Perforatum verhaßt wie kein anderes Kraut, denn es verscheucht die Unholden, wirkt gegen die bösen Machenschaften der finsteren Mächte. Es ist der Jageteufel, die Teufelsflucht, die fuga daemonum schlechthin. „Dost, Harthaw und weiße Heidt, thiiet dem teuffel viel leidt“ (Bock). Oder wie der Volksmund auf dem Hunsrück sagte: „Hardenau an Dusch (Dost) verdreibt dem Deiwel all Luscht (Lust)“„… dahero er auch aus Boßheit dieses Krauts Blätter mit Nadeln durchstach.“ Paracelsus meinte: „Diess Kraut wie es an ihm selbs is, sol für und für getragen werden under dem paretli (Barett), im busen, in kranzweis (als Kranz) oder sonst in henden, oft daran schmecken, zu nacht unter das küssi (Kissen) tun, das haus damit umbstecken oder ume die wend henken alein von wegen der geisten.“ Kranken Kindern legte man Johanniskraut in die Wiege unter das „Hauküssen“, österreichische Bauern geben es zwischen zwei Brotscheiben dem Vieh.

Eine besondere Bedeutung erlangte das Johanniskraut in der Zeit der Hexenprozesse. Als Beschrei oder Berufskraut gegen den heimtückischen Zauber der Hexen stand es im höchsten Ansehen. Dem Angeklagten und Gefolterten pflegte man einen Trank aus ihm zu geben, der die Gewalt des Teufels brechen sollte.

Nicht minder geschätzt galt Hartheu besonders in der Eifel als Liebesorakel. So pflückten die Dorfschönen am Vorabend des Johannnistages, ohne nach rechts und links zu schauen und ohne dabei auch nur ein Wort zu sprechen, Blüten und Knospen des Krautes. Diese wurden dann in einem weißen Tüchlein zerdrückt. Der dabei herausquellende mehr oder weniger rote Saft sollte Liebe oder Abneigung orakeln. Dabei sprach das Mädchen: „Ist die Liebe gut, kommt das rote Blut; ist die Liebe alle, kommt die grüne Galle.“

Gar vieles könnte noch über das bescheidene Kraut Hartheu erzählt werden. Doch möge der Leser aus diesen Zeilen erkennen die Tiefe und Innerlichkeit des Volksglaubens und -brauchtums: wie oft selbst die unscheinbarsten Dinge der Natur tatsächliche oder aus okkulter Schau gesehene Wirkungen in unser Menschendasein ausstrahlen. Diese Fähigkeiten unserer Volksseele zu erhalten, zu vertiefen oder gar zu fördern möge beitragen „Unserer Lieben Frauen Bettstroh“!