Unsere Freunde die Nonnenmeisen
ERLEBNISSE IN FREIER NATUR
Von Julius Eigner
Foto: Julius Eigner
Wenn die Stürme über die Eifel jagen und Schnee bringen, und wenn dann die Kälte hereinbricht, dann ist für die Vögel, die sich draußen am Futterhaus drängen, eine schlimme Zeit. Uns allerdings, die wir sie nun besser beobachten können als sonst, bringt sie viel Interessantes. Die Vögel, die draußen fressen, kennen uns schon seit Jahren; nicht nur die Kohlmeisen und Rotkehlchen, sondern auch Heckenbraunelle und Kleiber, Specht und Kirschkernbeißer. Viele sind in dieser Notzeit unsere engsten Freunde geworden, und durch diese Freund* Schäften haben wir Einblicke in ihre klei= nen, oft sehr bewegten Leben gewonnen, die uns immer wieder verblüffen. Eine solche innige Freundschaft verbindet uns mit dem Ehepärchen Nonnenmeise, das uns deswegen so bewegt, weil die Nönnchen zu den Däumlingen unter den Meisen gehören.
NONNENMEISE
Foto: Julius Eigner
Auch Sumpfmeise und Schwarzköpfchen wird sie genannt. Wenn wir im Schneegestöber ihre Stimmchen hören, ihre zarten, silbrigen Stimmchen, öffnen wir das Fenster, und sie eilen dann herbei und nehmen uns das Futter aus der Hand. Ehepaar Nönnchen steht uns unter unseren Vogelfreunden sogar besonders nahe, weil es die Angst bis zur letzten Faser unterdrückt hat: selbst wenn genug Futter auf dem Vogeltisch liegt, nehmen sie es doch lieber aus unserer Hand. Diese erstaunliche Freundschaft hat es uns schließ, lieh ermöglicht, Flugaufnahmen von ihnen zu machen, die uns nun eine ganz neue Schönheit der Vögel offenbaren, nämlich ihre Anmut im Flug.
Die Freundschaft mit ihnen begann genau so zögernd wie die mit anderen Vögeln. Die Kohlmeisen hatten es sich schon lange angewöhnt, uns auf die Hand zu fliegen und sich dort ihr Futter zu holen. Da sahen wir eines Tages — es war zehn Grad unter Null, und draußen lag dick der Schnee — auf dem Hollunder vor dem Fenster unter den vielen Kohlmeisen auch eine Nonnenmeise. Sie fiel uns deswegen auf, weil sie, die sonst immer wegflog, jetzt blieb. Sie blieb und schaute mit ihren schwarzen Augen abwägend zu uns her, und dann . . . flog sie doch weg. Aber sie kam wieder, und es schien, als schaue sie uns schon entschlossener an. Einmal flog sie heran, und kehrte auf halbem Wege wieder um. Ein andermal, als mir ein Mehlwurm aus der Pinzette auf die Fensterbank fiel, kam sie blitzschnell herbei, viel schneller als die Kohlmeisen, nahm den Wurm und war sogleich mit ihm verschwunden. Von nun an legte ich, wenn immer ich sie sah, einen Mehlwurm auf die Fensterbank, und sie kam jedesmal und nahm ihn. Als ich aber sah, daß allmählich ihre Angst wich, behielt ich den Mehlwurm in der Hand, und dann, ja, dann kam der Tag, da flog sie zum erstenmal auf die Hand und holte sich ihn dort.
Von nun an wurde Nönnchen schnell zahm, und wir waren beglückt von der bezaubernden Art, in der es sich uns anschloß. Wenn es etwas von uns haben wollte, flog es in den Hollunder und schaute mit schräg gehaltenem Köpfchen zu mir herein. Reichte ich ihm einen Mehlwurm, kam es in schönem Vertrauen an die Hand und nahm ihn, ohne Hast und ganz zart. Es unterschied sich damit sehr von den Kohlmeisen. Nach unserem Rotkehlchen war Nönnchen, dem sich bald seine Frau zugesellte, das Tierchen, an dem wir am meisten hingen, denn es ist von einer ungewöhnlichen Anmut, überlegen und entwaffnend zutraulich. Flogen beide Tierchen einmal zur gleichen Zeit an, dann hörten wir ihre aufgeregten silbrigen Stimmchen, und das, das meiner Hand am nächsten war, sagte: „Ich bin da, geh du weg!“ Darauf flog das andere weg, wartete, bis der Partner gefressen hatte, und kam dann; denn bei den Vögeln ist das Essen kein geselliges Vergnügen.
Waren zur selben Zeit aber auch die Kohlmeisen da, kannte Nönnchen seinen Platz und wartete. Zuerst kam Lena, die energische Kohlmeisin, dann der Dicke, ihr Verlobter, dann Schecki, dessen Bruder, und dann erst kam Nönnchen. Diese Rang=Ordnung, die sich nach der Größe richtete und offenbar in der ganzen Vogelwelt respektiert wird, beobachteten wir immer wieder. Mit anderen Worten heißt das: der Größere hat immer recht. Im Laufe der Zeit entdeckten wir allerdings auch manche Ausnahmen. Einmal beobachteten wir Nönnchen, das schon wartete und hungrig war, wie es von dem ebenfalls hungrigen Schecki weggedrängt wurde. Als sich das wiederholte, wurde es böse, und schreiend kam es herbei und holte sich schnell wie der Blitz den Mehlwurm vor Scheckis Schnabel weg. Da das kleine Nönnchen viel behender ist als die größeren Kohlmeisen, kann ei sich gelegentlich solche Übertretungen erlauben, ohne daß es ihm heimgezahlt wird. Einmal allerdings erlebten wir auch, wie Nönnchen dem Kleiber einen Bissen wegholte — dem Kleiber, der selbst von den Kohlmeisen gefürchtet wird —, und das wäre ihm fast zum Verhängnis geworden. Der Kleiber schlug mit seinem langen Schnabel zu und erwischte es im Rücken. Dort, wo der Schlag traf, standen noch lange die Federn hoch. Aber Nönnchen hatte Glück gehabt, die Verletzung war geringfügig und bald vergessen.
Als die Kälte wich, kamen die Vögel nicht mehr so oft, nur Nönnchen war immer da. Ich sah, wie es zwei, drei Hanfkörner nahm und sie am Fuß der Fichte am Waldrand vergrub. Ich beobachtete sein Betragen mit dem Fernglas, und als ich zu der Fichte hinging, fand ich den Hanf, nur leicht im Boden versteckt. Diese Eigenschaft Nönnchens, die es mit dem Kleiber und dem Eichelhäher teilt, beobachteten wir nicht nur im Herbst und Winter, wo die Vorratswirtschaft einleuchtet, sondern auch zu ändern Jahreszeiten.
Im Mai brütete Nönnchens Frau im Nistkästen an der Kastanie. Wir sahen, wie das Männchen rührend für sie sorgte; unentwegt schlüpfte es in den Nistkasten mit gefülltem Schnabel und fütterte seine Frau. Oft genug kam es zu uns, holte bei uns Mehlwürmer und brachte sie ihr. Als wir später das Pärchen beim Aufziehen der Kinder beobachteten, sahen wir eines Tages etwas Merkwürdiges. Ein Zaunkönig trieb sich in der Nähe des Nistkastens herum und wir sahen, daß er etwas im Schnabel trug. Mit dem Futter leise vor sich hinrufend, schlüpfte er in den Nistkasten und kam bald mit leerem Schnabel heraus. Im gleichen Augenblick kam Nönnchen und verjagte zornig den Eindringling. Der Zaunkönig ließ sich nicht beirren, er kam immer wieder, und da er bemerkte, daß die Eltern es nicht litten, tat er es heimlich. Er versteckte sich mit dem gefüllten Schnabel, wartete, bis beide Eltern weggeflogen waren und eilte dann zu den Jungen, um sie zu füttern. Da Vogelkinder immer hungrig sind, kam er jedesmal mit leerem Schnabel heraus. Es amüsierte uns zu sehen, wie es anders ja nicht sein konnte, daß er den jungen Nonnenmeisen Zaunkönigskost brachte, nämlich Spinnen und Asseln, und keineswegs Räupchen, die die Kleinen gewohnt waren. Dieses Hilfswerk dauerte recht lange und wir wunderten uns, warum es wohl so sei. Schließlich kamen wir zu folgender Erklärung: der Zaunkönig mußte seine eigene Brut verloren haben, und nun war der Trieb, Vogelkinder zu füttern, so stark, daß es ihm gleich war, wen er fütterte. Diese Triebe als bewußt zu deuten, wäre sicherlich falsch, denn das würde doch eine gewisse Überlegung bedingen, während uns ja die Wissenschaft lehrt, daß wir bei den Tieren nur Naturtriebe voraussetzen dürfen.
Als die Jungen endlich ausflogen, verschwanden mit ihnen die Eltern, und es vergingen mehrere Wochen, ohne daß wir sie sahen. Als die Nönnchen endlich wieder erschienen, waren sie auf einmal besonders schön. Sie hatten ein neues Federkleid, denn die Mauser war beendet, und nun waren sie geradezu elegant. Die Farben sind einfach genug: schwarz, grau, braun und elfenbein, aber gerade in dieser einfachen Zusammensetzung wirkten sie so schön. Wir erfreuten uns an dem Kleiderwechsel und blieben oft und lange im Garten, nur um die schönen Nönnchen immer bei uns zu haben.
Als wir einmal nach langer Abwesenheit, während der wir die Vögel ganz sich selbst überlassen mußten, zurückkehrten, war es Nönnchen, das uns zuerst erspähte und uns umflatternd zur Haustür begleitete. Als wir die Tür öffneten, hing es sich an die Sandsteinumrandung und rief mit lauter Stimme. Auf diesen Ruf kamen die anderen herbei, zuerst seine Ehefrau, dann die Kohlmeisen und auch Rotkehlchen. Nönnchen flatterte als erstes auf die Hand, die ändern folgten.
Schließlich wurde es wieder Winter. Die Zahl der Vögel, die sich im Laufe des Sommers in unserer Nähe niedergelassen hatten, nahm ab. Die Sommervögel waren nach dem Süden gereist, bei den Daheimbleibenden gab es viele Ausfälle; die Übriggebliebenen aber schlössen sich uns wieder an. Jetzt haben wir draußen fünf Nonnenmeisen. Ob es Kinder der Alten sind oder Fremdlinge, das wissen wir nicht. Wir nennen sie die falschen Nönnchen, denn sie kommen nicht auf die Hand. Nur die beiden Alten halten uns die Treue und bereiten uns von Tag zu Tag mehr Freude.