Unser Beul – unser Neuenahr zur Winterszeit

VON JOSEF RULAND

Jedesmal, wenn ich von Remagen oder Sinzig her in das Ahrtal einfahre, dann fällt mir die Melodie des Liedes ein, das unsere Maria gewöhnlich des Mittags beim Spülen sang. Es war eine traurige Melodie, und der Text endete in allen Strophen mit dem Kehrreim: „ … die Landeskrone und der Neuenahr“. Unsere Maria stammte aus „Heimersche“ (Hcimcrshcim) von dem wir Jungen boshafterweise sangen:

„Heimersheim litt an de Ahr,
juppheidi, jupphcida,
für jedem haus en puddelskaar,
juppheidi, heida!“

Ich weiß nicht, ob in uns dabei das Bewußtsein eine Rolle spielte, als Kinder des Weltbades Neuenahr etwas Besseres zu sein. Wir machten uns keine Gedanken darüber, daß die Verschmelzung der drei Ortsteile Wadenheim, Beul und Hemmessen erst knapp ein Jahrhundert zurücklag. Überhaupt war das alles Firnis, der wohl für die Großen seine Berechtigung haben mochte, uns Kinder aber unbeirrt ließ. Hin und wieder spielten wir unsere Rolle als Vertreter des Fortschritts gegenüber vielleicht zurückgebliebenen Gebieten, als die wir zum Beispiel bei Gelegenheit „Romersbaach“ oder auch „Baachem“ oder gar die „Jerofschaft“ ansahen. Aber im allgemeinen hatte auch Neuenahr, besonders unser geliebtes Beul, noch durchaus ländlichen Charakter. Ab 1. Oktober, wenn die Saison vorbei war, kehrte Beul in den stillen Frieden unter dem Neuenahr zurück, der wie ein Wächter in unsere Bereiche herabschaute. Dann verwandelten sich verschiedene Väter von Spielkameraden, die den ganzen Sommer als Angestellte der Kurverwaltung in Uniformen ihren Dienst versehen hatten und als Aufseher, Kontrolleure oder ähnlich beschäftigt gewesen waren, wieder in gewöhnliche Menschen. Eines Morgens gingen sie, vielleicht im blauen Arbeitsanzug oder in Straßenkleidung an ihre Arbeit. Dann wußten wir Kinder: Nun fängt bald der Winter an. Der Wald am Berg oben nahm langsam die Farben von buntem Weinlaub an, und von den Hängen an der „Dotze-Hüll“, am „Johannisberg“, „an der Berente-Hüll“ trieb der Wind den Rauch von Kartoffelfeuern durch die stiller und stiller werdenden Straßen. Der Kurgarten war nun den ganzen Tag über offen; Eintrittsgeld wurde nicht mehr verlangt; die weißen Stühle und Bänke standen alle sauber gestapelt in den Pavillons oder in den Unterständen. Oben an der Ecke, im Garten der Villa Schlagwein, lag das bunte Kastanienlaub so dicht, daß wir Nachmittage lang Blätterburgen davon bauen konnten. Und abends, so gegen 6 bis 6.30 Uhr, wenn die Dämmerung leicht begann, kam oben von der Hochstraße eine kleine Kuhherde, trottete die Mittelstraße hindurch, auf der wir Kinder unsere großen Spiele betrieben, und verschwand dann in der Unterstraße. Aus dem Giffelschen Hofe, der mit einer Seite fast an das sogenannte „Kirchepäädche“ stieß, so genannt, weil es schnurstracks aus dem unteren Ortsteil zur alten Kirche hoch führte, kam der eintönige Ruf „Ä – ö – ih“ des großen Pfaus, der dort jahrelang im ausgedehnten Anwesen spazieren ging. Ab und zu, wenn die kleine Tür im großen Hoftor offen stand, warfen wir einen schüchternen Blick hinein, um das exotische Tier zu sehen. Falls der Bruder sich Fastnacht als Domino verkleidete, konnte er sicher sein, eine lange Pfauenfeder zu bekommen. In dieser Zeit der sich senkenden Abenddämmerung, unter dem leicht beizenden Geruch der Kartoffelfeuer, begann unsere schönste Zeit.

Die Aufgaben waren gemacht, wir konnten bis zur Dunkelheit, aber nicht länger, wie die Mutter sagte, auf die Straße. Wir sagten einfach „op de Stroß“, das verstand jeder Neuenahrer. Die Bereiche an der Kurterrasse, die Ecke am „Wissebäächelche“, das jetzt wieder viel Wasser parallel der Ahr führte, hinten am Walburgis-Stift oder gar an den Hängen des Johannisbergs gehörten zu unseren Jagdgründen.

Foto: J. u. H. Steinborn
Malerischer Winkel im alten Beul

Wie war es jetzt hier überall so schön ruhig und ungestört! Nur selten kam irgendein Aufseher der Kurverwaltung vorbei. Wenn es noch dazu der Vater eines Spielgefährten war, war es nicht so schlimm, während es allerdings der Gefährte mit dem Rufe: „Ech john kaaschte“ dennoch vorzog, vorerst aus dem väterlichen Machtbereich zu verschwinden. Die Kurverwaltung nämlich sah die Spiele in ihrem Bezirk gar nicht gern. Wir warfen uns wie die kleinen Wilden von der Terrasse in den Wipfel einer Tuja, die dort vor der Terrasse im Beet stand, und glitten langsam auf dem sich beugenden Baum zur Erde. Die Hände, der ganze Körper rochen so herrlich würzig nach dem Saft der Nadelfächer. In den Taxus- und Lorbeerhecken spielten wir Verstecken, uns dem Schute der Dunkelheit und dem der wenigen Laternen anvertrauend. Mancher Beuler, der an solchen Herbstabenden. über die „jruß Brock“ an der evangelischen Kirche nach Hause kam, hörte wohl Urlaute aus der Dunkelheit heraus und sah hin und wieder wohl auch hier und da Schatten auftauchen, die aber unerkannt sehr rasch wieder verschwanden. Allerdings, wenn oben auf der Höhe der Kolonnaden der Vater im Schein der Laterne kurz auftauchte — sein charakteristischer „Seemannsgang“ war unverkennbar —, dann war höchste Eile geboten. Wie die wilde Jagd rasten der Bruder und ich davon, nur ja daheim gewaschen und im Schlafgewande den Vater empfangen zu können. Nicht immer glückte das, denn die Mutter war, was derlei Dinge der Ordnung und Pünktlichkeit betraf, unerbittlich. Wir mußten gleich weiter ins Bett, wobei wir auf schmale Kost gesetzt wurden, uns, vor allem den immer hungrigen Bruder, an der empfindlichsten Stelle treffend. So lange es hell war, konnte man auf dem großen Platz vor dem Ostflügel des Kurhauses Hockey oder Fußball spielen. Wir Kleineren waren dann nur als Läufer geschätzt, indes die Größeren den Sturm bildeten. Das ging in jedem Jahre eine Woche gut. Dann aber rappelten im rechten Flügel des Kurhauses ein, zwei, manchmal drei Fenster, Anlaß genug, von der Verwaltung jetzt abendlich irgendjemanden als Hausmeister abzustellen, um die Täter im Wiederholungsfälle zu greifen. Und davor hatten wir alle eine furchtbare Angst. Denn die Kurverwaltung, ja wer war das? — Wenn wir in Burkhardts Parkhotel zum Scherz läuteten, Steinborns Bertes ärgerten oder den alten, blinden Herrn Frick zu bemogeln versuchten und wurden dann geschnappt, dann konnte all das mit einer guten Tracht und einem Gespräch von Mann zu Mann abgetan werden. Herr Burkhardt z. B. pflegte dann den Vater mittags, wenn er heimkam, abzufangen, um ihm von den Schandtaten seiner Söhne zu berichten. Aber die Verwaltung war anonym — die sprach nicht, sondern schrieb gleich Rechnungen oder zog den Vätern, die bei ihr angestellt waren, die Schulden gleich ab. Wir hielten das für wenig fair, bedauerten vor allem unsere Kameraden, Lindens Tünn etwa oder Burmeistersch Heinz, waren aber doch froh, daß uns nicht diese Strafe wie der Blitz aus der Wolke traf. Die Prügel, die es für so etwas gab, kann niemand ermessen. In der Knabenwelt existierte dafür die Redensart — „da kritt se tnet’m Oasepissel“ — das war ein Mythos, den man sich zuraunte, mit allem Schrecken, den der Mythos haben kann. Jedoch, es gab eine Persönlichkeit in Neuenahr, die gefürchteter war als Kurdirektion oder Rektor Weber, als Vater oder sonstwer, das war der Polizist, Herr Fiegen. „De Fiejen kütt“, der Ruf genügte, ganze Scharen von Jungen wie die Hasen nach allen Seiten verschwinden zu lassen. Herr Fiegen war die Unbestechlichkeit in Person. Streng und für uns Kinder unnahbar, versah er seinen Dienst, der gewiß nicht einfach war, denn die Zahl der Polizeibeamten kam damals schon nicht mehr mit der wachsenden Einwohnerzahl mit. Ich habe einmal erlebt, wie Vater mit uns aus dem Walde kam — er war ja ein geradezu leidenschaftlicher Wanderer — und einen Strauß Kätzchen mitbrachte. Er hatte die Untugend, Pflanzen mit nach Hause zu nehmen, anstatt sie an Ort und Stelle zu bewundern. Auf dem letzten Stück des Weges gesellte sich Herr Piegen zu ihm, das Fahrrad mit der wackelnden Karbidlampe neben sich herschiebend. Die beiden Männer sprachen über irgendwelche Dinge, während mein Bruder und ich ziemlich verschüchtert vor ihnen herzogen. Vater und Fiegen im Nacken zu haben, das war, wie man mir zugeben wird, etwas viel. Wußten wir doch nicht, wovon die beiden sprachen. Denn etwas getan hatte man immer. Unser Gewissen war geschärft genug, das zu erkennen; hatte uns doch Pastor Lehnen sehr eindringlich in die Kunst der Gewissenserforschung eingeführt. Langsam zogen wir „die Kant eraff“, d. h. vom ehemaligen Cafe Krell her die Mittelstraße herunter den heimischen Penaten zu. An seiner Tür stand der Bäckermeister Dahr, wie immer des Mittags und rauchte nach dem anstrengenden Morgen seine Pfeife in Ruhe, indes die mehlstaubweiße Mütze fast im Nacken hing. Noch ein paar Meter, dann waren wir zu Hause. Der Vater griff bereits in die Tasche, um den Schlüssel hervorzuholen, da sagte Herr Fiegen, und man sah ihm an, daß er zwischen Pflicht und Wohlwollen schwankte: „Herr R . . ., ich sehe gerade, Sie haben da ja Kätzchen!“ Der Vater, er ahnte wohl, wie sehr der Beamte ihm gegenüber innerlich verlegen war, sagte mit einer Großzügigkeit, die er manchmal hatte: „Schreiben Sie mich ruhig auf, Herr Fiegen“, so als mache es seinem nicht gerade reichlichen Gehalt gar nichts aus, die paar Mark für das „Knöllche“, wie ein Protokoll im Volksmund hieß, auf den Tisch zu legen. Das war Herr Fiegen — der Mann, der mehr als alle anderen Autoritäten die Neuenahrer Schuljugend in Furcht versetzte. Ich weiß noch gut, wie wir einmal in „Berente-Hüll“, schräg gegenüber dem Fachwerkhaus der Familie, in die Lehmwand des Holzweges eine Höhle gegraben hatten. Ganz heimlich war das hinter den dichten Schlehen- und Weißdornhecken, hinter den Brombeeren vor sich gegangen, denn gleich über der Höhle lag eines der Berendschen Felder. Wenn wir da einen Fehler machten, konnte die ganze Wand einstürzen und uns begraben. Aber daran dachten wir weniger als daran, daß das Unternehmen dann zu Ende sei.

St.-Willibrordus-Kirche
Foto: J. u. H. Steinborn

Als es endlich soweit war, wollten wir die Höhle auch entsprechend einweihen. Das bedeutete in unserer Welt damals — so nahe verwandt ist doch die kindliche Mentalität mit frühen Menschheitsstufen — soviel wie: „Föierche maache“. Wie ein Zauberspruch, wie ein magischer Bann wirkte dieses Wort auf utis. So auch jetzt, als die Höhle eingeweiht werden sollte. Einer hatte Kaffee gemahlen und mitgebracht, den wir eigentlich nur der Angabe wegen trinken wollten, ein anderer hatte Zucker stibitzt, wieder ein anderer Tassen und Löffel. In den schönsten, leichten Wölkchen stieg der Rauch des Feuerchens hoch, es roch wunderbar nach dem aufgebrühten Kaffee. Da donnerte plötzlich eine Stimme von oben, gleich über unseren Häuptern her: „Maat er dat er do erous kutt — waat, ech holle de Fiejen!“ Mehr als der Berendsche Fluch und einige gezielte Lehmklumpen wirkte Fiegens Name. Wenn der uns sah — er kannte uns doch alle — vollzog sich Unheil. Der Kaffee zischte ins Feuer, eine Tasse klirrte, wir keuchten den Hang hinunter und liefen und liefen. Erst auf der Ecke, an der Dentist Hedel wohnte, gegenüber dem alten Klarissen-Kloster, kamen wir etwas zur Ruhe. Unter solchen Abenteuern schritten wir unmerklich in den Winter hinein. Verschwunden waren die letzten Kurgäste, verschwunden die Lorbeerkübel vor den Türen der zahlreichen kleinen Pensionen und Hotels, verschwunden auch die großen Palmenkübel in den Beeten der Kuranlagen. Jeden Mittag zogen von allen Seiten her die autochthonen Einwohner des Badeortes, nun ganz unter sich, die „Kant erop“, um sich am Sprudel mit Wasser einzudecken, das dort kostenlos an die Einheimischen verteilt wurde. Zum Teil kamen sie mit dem „Damenschoner“, (so wurde unter uns ein vierrädriger Handkarren genannt), um die gefüllten Flaschen nach Hause zu holen. Jede Woche einmal gingen auch wir. Manchmal zogen wir auch über die Landgrafenbrücke nach Heppingen. Das bedeutete einen Ausflug in die weitere Welt. Der Apollinarisbrunnen lag an der Hauptstraße, die von den Eisenbahngleisen gekreuzt wurde. Dort standen Apfelbäume an den Straßenseiten, auf denen mitunter noch einige Äpfel hingen. Wenn wir morgens über die Brücke in die Schule zu „Woedem“ zogen, hatten sich manchmal schon leichte Reifkristalle am Brückengeländer niedergeschlagen. Es ging das böse Gerücht, die Zunge bleibe kleben, wenn man längere Zeit damit das Geländer berühre. Immer wieder versuchten wir es, und immer wieder packte uns die Angst, es könnte eintreten. Einträchtig trabten wir Beuler des Weges, hinter uns mit großem, grünem Radmantel, breitrandigem Schlapphut und mächtigem dunkelrotem Bart Herr Lehrer Knobloch, der wie ein Hirte uns mit weit ausholenden Schritten zur Schule trieb. Er unterrichtete die Evangelischen und war nebenher passionierter Wetterkundler, der in einem kleinen Bezirk zwischen Maschinenhaus und Kurhotel seine Wetterstation hatte, die er täglich besuchte. Hier las er den Niederschlag ab, die Temperaturschwankungen, den Barometerstand und anderes mehr. Andächtig standen wir oft dabei, wenn der große Mann fast feierlich die drei Tritte zu dem Holzverschlag hinauf ging und mit einem Schlüssel den Kasten, der die Instrumente enthielt, öffnete. Der Gute, er ahnte nicht, daß wir oft genug in die Meßbüchse der Niederschläge unsere Knabengeschäfte verrichtet hatten, um dem Wasserstand nachzuhelfen, oder, daß wir sie geleert hatten. Nur einmal sah er gerade noch, wie ich fast apollinisch-ungeniert die Büchse leerte, in der Meinung, ihm damit einen Dienst erwiesen zu haben. „Du“, entrang es sich seiner breiten Brust — dann stürzte er auf mich zu. Ich schrie auf und rannte, was die kleinen Beine hergaben, in einem Atemzug bis zur Schule, wo ich ständig gewärtig war, vor Rektor Weber zitiert zu werden. Der schrieb eine „gute Handschrift“. Noch jahrelang schreckte ich oft im Traume hoch, wenn ich Herrn Knobloch hinter mir herstapfen sah, daß der Mantel flog. So rächt sich mitunter sehr schnell die Schuld auf Erden. Aber an gewöhnlichen Tagen war solch ein Herbst- oder Wintermorgen in der Schule gemütlich. Der Ofen strahlte eine wohltuende Wärme aus, denn Hausmeister Schmickler hatte ihn gut versorgt, und wir saßen da, lernten schlecht und recht und hofften auf die Pausen. Sobald es schellte — das war eine ganz hohe Ehre, schellen zu dürfen — schössen wir den Gang hinab nach draußen. Manchmal stand der Rektor Weber draußen auf der Treppe, um der Flut zu wehren, die sich aber gleich hinter ihm wieder zur Tür hinaus warf. Es galt nämlich, einen guten Platz im unterdachten Vorraum der zweiten, nie benutzten Eingangstür zu finden. Hier spielten wir „döie“ — vielleicht das primitivste aller unserer Spiele — für uns aber das zur Jahreszeit gehörende. Einer stellte sich in die Ecke, andere mit dem Rücken an ihn gelehnt, davor wieder andere, so daß der Raum mit Knabenleibern ausgefüllt war, wie eine Dose mit Sprotten. Aber diese Knabenleiber waren in einer ständigen rhythmischen Bewegung. „Döi-e, döi-e“ schallte es immer wieder dunkel aus dem Unterstand. Hin und wieder gab es Knüffe und Püffe, furchtbare Schimpfwörter und Schlägereien, besonders, wenn der Mann in der Ecke zusammengequetscht wurde; aber — es hielt warm. Erst wenn Schnee auf dem Schulhof lag, daß „Bahneis“ geschlagen werden konnte, spielten wir nicht mehr in dem Kabuff. Auf dem Schulhof selbst hielten wir meist eiserne Disziplin. Wenn zum Beispiel der Lehrer Weier seine Runde ging — er war geschätzt und geachtet von jedermann — dann wagten wir gar nicht mit Steinen oder mit Schneebällen zu werfen oder gar oben im „Jängelche“, das zur Kirche hinüberführte, allerdings meist durch das Tor versperrt war, Unsinn zu machen. Auf der anderen Seite der Schule, wo die Kastanien standen, begann hinter der Straße, die weder bestückt noch asphaltiert war, die „Wiss“. Sie dehnte sich bis zur Ahr aus, von ihr am unteren Ende durch einen Promenadenweg getrennt, und nach links zu den Gärten der Häuser in der Telegrafenstraße durch eine hohe Schutzhecke und einen dazwischen liegenden Weg gesichert. Oft, wenn wir in den Stunden dasaßen und Schönschreiben beim Lehrer Jörg hatten — respektlos „Zipp“ genannt — weil er einen langen grauweißen Bart trug, dessen Enden er gerne nervös zwirbelte, wanderten unsere Blicke hinaus auf die Wiese und verloren sich in der dünnen Tannenreihe unten an der Ahr. War das eine Zeit! Das Gras auf der Wiese glitzerte spärlich im schmalen Schein der Wintersonne. Hier und da flatterten einige Krähen in den Bäumen, denn in der Nähe der „Wiss“ lag ja der Schuttabladeplatz, zu dem wir allwöchentlich unseren Müll auf einem Damenschoner zogen, um dort nebenher archäologische Studien zu betreiben. Der Graben, der vor „Hochgürtels Badeanstalt“ zur Ahr hinfloß, war jetzt voll Wasser, das schnell dahinschoß.

Foto: J. u. H. Steinborn
St.-Willibrordis-Säule

Und die Ahr selbst? Sie ging meist hoch im Winter, und oft genug stand daheim das Wasser in unserem Keller, weil der Grundwasserspiegel so gestiegen war. Wenn wir mittags aus der Schule kamen, dötzten wir meist durch die „Telejerafestrooß“ — vielleicht bekam man beim Drogisten Krämer eine Stange Süßholz — und inspizierten dann die Ahr. Sie gehörte in unser Leben hinein und war nicht aus ihm fortzudenken. Als ich nach dem Kriege zum erstenmal an die Ahr kam, habe ich die halbe Nacht wach gelegen, um das Plüßchen einmal richtig wieder rauschen zu hören. Das Rauschen der Ahr, dieses eintönige, flache Geräusch von fallendem Wasser an den. kleinen Wehren, bildete eines der klanglichen Elemente unserer Jugend, ähnlich wie Giffels Pfau. Zu den bildlichen Eindrücken jedoch gehörte die Lampe auf der Kreuzung Mittelstraße-Beethovenstraße. Wenn die Herbst-Winde an ihr zerrten und schoben, dann veränderten sich vor unserem Schlafzimmerfenster, hinter dem mein Bruder und ich schliefen, die Schatten — sie wuchsen, nahmen ab, drohten und wurden vertraut. Wir schauten diesem Spiel des schwankenden Lichts, das drüben an Flams Haus, wie wir es nannten, ernstängstigend vor sich ging, so lange zu, bis unsere Augen zufielen. Das war die Zeit des Vorwinters, wo der Bruder ab und zu seine Nase in den Wind hob und uns alle ernsthaft belehrte: „Et rüch noh Schnie!“ Wirklich, eines Morgens war es soweit. Der Neuenahrer Berg ragte weiß, ein wenig von Wolken umhüllt, in unsere Straße. Die Geräusche der zur Schule ziehenden Kinderschar wurden verschluckt, und drüben im Maschinenhaus standen die Männer im Torbogen und begutachteten die weiße Welt. In „Rüttens-Jaade“, wo ein Judas-Baum stand, war der Schnee bis unter den unterdachten Vorbau geweht, und in unserem Hinterhof schilpten die „Mösche“. Hinter unserem Hofe, an Dahrs „Backstuff“, herrschte reges Leben, denn die Bäckergesellen rumorten dort schon etliche Stunden und heckten sicher wieder etwelche Spitzbübereien aus, mit denen sie uns, wenn wir vorbeikommen sollten, Angst machen würden.

Das Schönste aber war die „ahl Kirch“, deren spitzer Helm weiß bedeckt war und die von hohen dunklen Fichten und Lebensbäumen, die nun schwere weiße Last trugen, umrahmt wurde. Oben wurde nur noch sonntags die Messe gelesen. Meist kam zu unserer Zeit der Kaplan Kirschweng zu den Beulern. Die Woche über stand das ehrwürdige Gotteshaus verlassen auf dem Friedhof, es sei denn, wir hätten an dem Treppenaufgang oder gar auf dem Friedhof selbst Verstecken gespielt. Aber in der dunklen Zeit der Vorweihnacht trauten wir uns nicht so recht; das war uns doch zu unheimlich, kannten wir doch gut einen großen Teil der hier Ruhenden. Sogar einige unserer Schulkameraden lagen schon hier, bei deren Begräbnis wir fassungslos dem Schmerz der betroffenen Eltern gegenüber gestanden hatten.

Abends, wenn die Dunkelheit hereingebrochen war und wir daheim sein mußten, begann jetzt die Zeit der größeren Burschen. Mit langen Leitern, vor die ein Lenkschlitten gespannt war, sausten zum Beispiel die Malergesellen von Sahrs die „Dotze-Hüll“ hinab, daß die notdürftig befestigten Bremsen in den Kurven Funken sprühten.