Unscheinbare Pflanzen nah gesehenGedanken über Sinnund Möglichkeit des Sehens
VON HERMANN JOSEF BAUER
Manchmal bleiben wir bewundernd vor einer Blüte stehen. Wenn, im Frühjahr die Pflanzen in großer Fülle wieder erschienen sind, sollten wir auch den unscheinbaren unter ihnen unsere besondere Beachtung schenken.
Alles, was wir im täglichen Leben sehen, kann durch die Gewohnheit entwertet und entstellt werden. Gewohnheit führt zu Gleichgültigkeit und Trägheit. Wir können nicht mehr sehen. In Film, Fernsehen und Illustrierten wird uns soviel Bildhaftes vorgesetzt, daß wir überfüttert, uns selbst kein Bild mehr gestalten können. Die Anstrengung des eigenen, freien Sehens, der Befreiung von der flimmernden, überschwemmenden Bildflut erscheint uns zu groß. Sehen ist eine schöpferische und anstrengende Tat. Vom Sehen ist es kein weiter Schritt zum Einsehen; vom Anschauen zum Erkennen ein kurzer, aber mühsamer Weg.
Dem Fotografen — dem Licht=Bildner — sagt man nicht zu Unrecht nach, er sehe mehr und besser. Das gilt besonders für den Naturfotografen. Die Natur mit ihren Wundern und Geheimnissen zwingt ihn zu forschendem Sehen und zum entsprechenden Schaffen seiner Lichtbilder. Wer mit den wachen Augen des Fotografen wandert, wer sich Bewunderung und Ehrfurcht bewahrt, wird staunend die Wunder im Pflanzenreich erleben. Er wird unscheinbare Pflanzen beachten, wird sie aus der Nähe betrachten und mit seiner Kamera ungewöhnliche Aufnahmen gewinnen.
Wie überraschend wirkt doch oft, aus der Nähe betrachtet, das Einfache! Es lohnt sich schon, einen Grashalm anzuschauen:
die Lichtreflexe auf ihm, seine Musterung, seine Gestalt.
Am Wassergraben standen zwei Grashalme. Sie ergaben ein merkwürdig abstraktes Bild. Einer der Halme war grell von der Sonne beschienen und leuchtete hell auf. Nur seine Spitze war schwarz. Der zweite Halm wuchs im Schatten des ersten und war deshalb dunkler. Auch er besaß die schwarze Spitze. Zur Vollendung der Bildgestaltung spiegelte sich die Sonne in vielen kleinen Sonnen auf jeder Welle des Wassers. Die Sonnenkringel überschnitten sich durch die Bewegung der Wellen. So stand in schönem Gegensatz das ruhige Aufragen der Grashalme und das lebhafte Flackern des Lichtes. Im Hintergrund — so wollte es das Kamera=Auge — ergänzten einige unscharf gezeichnete Halme die Bildkomposition. Die Natur a4s moderne Künstlerin!
Mit der Objektivität der Kamera=Linse und der Subjektivität des Fotografenauges habe ich in der Natur moderne Kunst gefunden. Der moderne Maler, oft der Natur . entfremdet, verzerrt die Natur mit eigenwilligen Augen. Der Fotograf handelt anders. Beide, Maler und Fotograf, brauchen ein Motiv, das Bewegende zu ihrem Bild. Aber die Bilder des Fotografen entstehen nicht aus seiner Eigenwilligkeit, sondern sie spiegeln getreu die Natur wider. Sie ist die Gestalterin der Bilder. Die Aufgabe des Fotografen ist, das Motiv zu sehen und kunstvoll einzufangen. Wie bildet und gestaltet er: „Fotografieren“ wird aus dem Griechischen abgeleitet, aus phos und graphein = licht=zeichnen. Als Fotografen zeichnen wir mit Licht. Oder: das Licht zeichnet für uns. Das Licht in seiner vielfältigen Helligkeit und Reflexion auf den Pflanzen zeichnet durch die Eigenwilligkeit der künstlerisch gestalteten Natur geradezu moderne Bilder. Und wiederum war es das Glitzern der Sonne, diesmal auf dem Wasser eines kleinen Moorbaches, das ein eigenartiges Bild zeichnete. Ein hellgrünes Torfmoos tauchte aus dem Moorwasser auf. Seine wassergefüllten Blattstrahlen beherrschten das Bild. In verwirrender Fülle umgaben die reflektierten Sonnenstrahlen den Stern des Torfmooses.
Der Stern eines Torfmooses, umgeben von kleinen reflektierten Sonnen
Da sehe ich von weitem, wie die braunen Sporenkapseln eines Mooses zur Aufnahme locken. Beim Näherkommen begeistert mich eine nie vorher gesehene Komposition in Farbe und Form; ein vollendetes Bild in seiner Kunstfertigkeit. Wieder lasse ich das Licht für mich zeichnen und erhalte ein Bild, das mich ebenso erfreut wie das Original draußen am Berghang. Auffallend, wie häufig die Sternform im Pflanzenreich zu finden ist. Auch hier wieder: kleine Moossterne. Um sie her knickten Herbst-Stürme das Gras. Wahllos fiel es über das Moos. Die Halme ahnten nicht, wie wertvoll sie für die Gestaltung eines Bildes werden sollten; denn dieses helle Linienmuster auf dem getupften Moosuntergrund wirkte wie von Künstlerhand gezeichnet.
Der Winter kam mit Schnee und Eis und preßte das Gras fest aufs Moos. Der Wind fegte kleine Steine über die Schneedecke, die beim Abtauen zwischen Moos und Gras hinabsanken. Dann begann das Moos im Frühjahr seine Sporenkapseln emporzutreiben. Wie ein Heer von Lanzenköpfen ragten sie hinauf.
Meist sind es die kleinen Dinge, die von der Künstlerin Natur so merkwürdig gestaltet werden, daß die Nahaufnahme solch wunderliche Bilder erzielt. Wer aber schon einmal durch das Mikroskop den Bau der Pflanzen beobachtet hat, wird mit Erstaunen diese Wunder geschaut haben; besonders dann, wenn wir mit offenen Augen unsere Pflanzen ganz nah betrachten. Dann erscheinen uns die Pflanzen erschreckend groß. Wir fühlen uns gleichsam verwandelt in kleine Geschöpfe, die eine phantastische Märchenwelt erleben. Für eine Ameise ragt doch ein Grashalm bis in den Himmel. Wir glauben durch einen Wald von Sporenkapseln über das Moos zu huschen. Vor uns ragen unheimlich hohe Säulen empor. Sternförmige Kapitelle krönen die Säulen der Mooskapseln. Wir kommen zu einer Lichtung im Mooswald Dort überraschen uns kunstvolle Türme, indischen Gebetstürmen gleich. Und plötzlich sind wir in ein Labyrinth geraten. Was ist geschehen? Es funkelt um uns her in allen Regenbogenfarben. Aber wehe uns, wenn wir in dieses Farbenspiel eindringen. Wir würden uns in einem Fadengeflecht verstricken, das Spinnen über den Boden gespannt haben. Die glitzernden Perlen. würden als Wassertropfen zerrinnen.
Wir schauen uns nach einem schöneren Platze um. Da sehen wir hoch über uns die Krone einer Schierlingsdolde. Ein reichgedeckter Tisch mit Nektar und Blütenstaub lädt uns zum Verweilen ein. Doch wir fliegen weiter. Dabei geraten wir fast in den Schnabel eines Storchschnabel=Gewächses. Wir machen einen Umweg und steuern auf eine violette Insel zu. Aber wo können wir landen? Wie fremdartig ist die Blüte l Ober jedem- Blütenblatt türmt sich eine Zipfelmütze, die mit einer krönenden Kugel geziert ist. Es ist die Blüte der Akelei.
Von der Wiese kommen wir zu den Felsen, wo uns die goldenen Sternblüten des Mauerpfeffers überraschen. Und dann glauben wir eine Fliege auf einem Grashalm sitzen zu sehen. Aber beim näheren Betrachten ist es nur die Blüte einer Fliegen» Orchidee, die ans mit ihrer eigenartigen Blütenform anlocken will. Nicht weit entfernt erschreckt uns mit bleckenden Zähnen der weitgeöffnete Rachen einer anderen heimischen Orchidee, der Kuckucksblume. Wirklich, eine wundersame Welt, die wir als kleine Insekten dort im Pflanzenreich erleben würden.
Wer sich die Mühe macht, solche Motive in den kleinen Dingen der Natur zu suchen, Wird von einem künstlerischen Eifer gepackt. Er wird sich hineinvertiefen in die Geheimnisse des Pflanzenbaues, wird ihren Standort und ihre Lebensbedingungen erforschen wollen und sie in schönen Bildern . erfassen. Er wird die Einheit des schöpferischen Willens in den Wunderwerken der Natur und den Kunstwerken der Menschen erkennen. Er entdeckt mit seiner Kamera eine Welt, die alle künstlerischen Stilepochen der Vergangenheit enthält und vorweggenommen hat. Er erkennt im Rankenwerk der Pflanzen die zierliche Verspieltheit eines Rokoko-Ornamentes, die Strenge und Schwere eines schmiedeeisernen Gitters im Blatt des Eisenhutes, sieht edle antike Säulen in den Stengeln der Mooskapseln, Türme exotischer Architektur in den jungen Trieben der Schachtelhalme, bewundert goldgetriebene Bischofsstäbe in sprießenden Farnwedeln. Ja, er wird sich bewußt, daß alle vom Menschen gestaltete Form ihr Ur=Bild hat in der Welt des Schöpfers, im Pflanzenreich.
2 Fotos: Verfasser
Wie eine glänzende Spitze eines schmiedeeisernen Gitters, so sieht das Blatt des Eisenhute! aus