„Staatsgefährdende Umtriebe“ im Remagener Calmuth-Tal – Das letzte Bundestreffen des Nerother Wandervogel – Pfingsten 1933 kam das Ende
„Staatsgefährdende Umtriebe“ im Remagener Calmuth-Tal
Das letzte Bundestreffen des Nerother Wandervogel -Pfingsten 1933 kam das Ende
Karlheinz Grohs
„Höre Rübezahl, was wir dir klagen:
Volk und Heimat, die sind nicht mehr frei.
Schwing deine Keule wie in alten Tagen,
schlage die Nazis und ihre Gestapo entzwei!“
(Zeilen aus dem Widerstands-Liedgut des Nerother Wandervogel.)
Blick in das Calmuth-Tal um 1970.
Als sich am Pfingstsamstag des Jahres 1933 hunderte junger Menschen aus allen Teilen der rheinischen Lande, aus den Städten und Städtchen am großen völkerverbindenden Strom ebenso wie aus abgelegenen Dorfflecken in der Eifel, im Westerwald und im Hunsrück, nach Remagen aufmachten, da ahnten sie bereits voller innerer Unruhe, daß ihnen fortan schwere Zeiten bevorstanden. Noch trugen sie zwar stolz die äußeren Zeichen ihrer jugendbewegten Gemeinschaft, das Habit des Nerother Wandervogel: die kurze Lederhose, ein weißes Hemd, darüber, über die Schulter geschlungen, ein blaurotes Dreieckstuch und auf dem Kopf, keck in die Stirn gedrückt ihr besonderes Signum, das achteckige rote Samtbarett. Aber es war ihnen bewußt, lange würden sie sich in dieser unverwechselbaren Tracht als wandernde und fahrende Romantiker, ihren mittelalterlichen Vorbildern, den Vaganten, Bacchanten und Scholaren gleich, nicht mehr den Wind der Weite und der Freiheit um die Stirn wehen lassen können. Wenn es nach dem Willen der neuen Machthaber in Deutschland ging, dann mußten auch sie -wie die vielen anderen der Gruppen und Gruppierungen der Bündischen Jugend – ihre Wanderkluft mit der Uniformität der Braunhemden vertauschen. An die Stelle der verhaltenen Wanderschritte, gemächlich genug um die Blikke ringsum schweifen zu lassen in „Gottes wunderbare Welt“, wie es in einem der vielen alten Wander- und Fahrtenlieder hieß, würde der monotone Trittrhythmus der Marschkolonnen treten: nicht mehr die Klampfe mit ihren bunten Bändern, sondern die schmetternden Signale der Fanfarenzüge würden künftig tonangebend sein. Es waren ungute, bedrückende Gefühle, die damals an jenem Pfingstsamstag die zwölf-bis achtzehnjährigen Burschen aus Köln, Bonn, Koblenz und Mainz, wie aus vielen kleineren Orten des Rheinlandes, auf ihrem Weg nach Remagen begleiteten.
Wer sich heutzutage als selbst im rheinischen Land Geborener mit der Geschichte des Wandervogel befaßt, der wird bei seinen Recherchen geradezu zwangsläufig auf den Nerother Wandervogel stoßen, auf die „Ritter der Windrose“, wie sie voller Wander- und Fahrtenlust ihrem bündischen Namen hinzugefügt hatten. Im Rheinland hat diese Gruppe innerhalb der Jugendbewegung der zwanziger Jahre eine bedeutende Rolle gespielt, und auch in unserer engeren heimatlichen Region an Rhein und Ahr, dem heutigen Kreis Ahrweiler, wird man auf der Spurensuche nach den Nerothern vielfach fündig werden.
Remagen und das unweit des Rheinstädtchens sich als schmaler Einschnitt in die linken Rheinhöhen schiebende Calmuthtal sowie das nahe der Ahrmündung gelegene Kripp stehen dabei allerdings für das Ende dieser Jugendgemeinschaft, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg unter den jungen Menschen einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft viel begeisterte Anhänger gefunden hatte.
Karl Oelbermann, einer der Gründungsbrüder des Nerother Wandervogel.
Wer waren die Nerother? In diesem Beitrag können die Geschichte des Nerother Wandervogel, seine Bedeutung und seine Aktivitäten im rheinischen Jugendleben der Jahre zwischen 1919 und 1933 sowie das Lebensschicksal ihrer Gründer, der in Bonn beheimateten Zwillingsbrüder Robert und Karl Oelbermann, nur kurz angeschnitten werden. Die eigentliche Würdigung muß in allen ihren faszinierenden und auch von tieferTragikumwobenen Einzelheiten einem umfassenden Buch vorbehalten bleiben, das der Autor über die Geschichte der Wandervogel-Bewegung gegenwärtig vorbereitet. So sei hier nur darauf verwiesen, daß der Bund der Nerother in der Neujahrsnacht 1920/21 in einer sagenumwobenen Höhle unter der Bergkuppe des Nerother Kopfes, benannt nach dem nahegelegenen kleinen Eifeldorf zwischen Daun und Gerolstein, von den Oelbermann-Brüdern gegründet wurde. Beide waren sie als junge Leutnants der Bonner Königshusaren, und als Frontsoldaten ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz l. Klasse, aus dem großen Krieg heimgekehrt. Geprägt von den schrecklichen Kriegserlebnissen hatten sie sich vorgenommen, fortan in der Tradition der Jugendbünde des Vorkriegs-Wandervogel junge Menschen um sich zu sammeln, die friedlich und völkerverbindend die weite Welt für sich erobern wollten. Die Tugenden der Menschenwürde, der Ritterlichkeit und der Freundestreue sollten die tragenden Säulen ihres „Nerommenbundes-Nerother Wandervogel, Deutscher Ritterbund“ sein.
Sehr rasch gewannen die Nerother in den folgenden Jahren in der rheinländischen Jugend, und auch darüber hinaus, großen Zuspruch. Das Rheinland, vor allem die Eifel und die Ahrberge, waren die bevorzugten Wandergebiete der Nerother, und neben der Gründungshöhle in der Vulkaneifel gehörten das Calmuthtal bei Remagen, die Tomburg bei Rheinbach und der sogenannte „Märchensee“ im Siebengebirge zu den bevorzugten Plätzen, wo sie ihre Zelte aufschlugen. Darüberhinaus aber zog es sie in die weite Welt. Auf mehrmonatigen Großfahrten durchzogen die Nerother ganz Europa und auch die anderen Kontinente. Ihre weltweiten Fahrten wurden dabei durch Liederabende und andere Konzertveranstaltungen im Ausland finanziert. Die Nerother verstanden sich als Botschafter deutscher Kultur, die das altüber-kommene deutsche Volks- und Wanderliedgut in die Welt hinaustrugen. Über ihre Fahrten drehten sie eindrucksvolle Dokumentarfilme, die – wieder heimgekehrt – in Deutschland bei öffentlichen Vorführungen großen Zuspruch fanden.
Jeweils zu Pfingsten fand das große Bundestreffen der Nerother statt, so auch jenes zu Pfingsten 1933, bei dem unheilschwanger das sich abzeichnende Verbot des Bundes durch die Nationalsozialisten über dem Treffen im Remagener Calmuthtal lag. Als das Zeltlager auf einer den Nerothern zur Verfügung gestellten privaten Wiese im Tal aufgebaut war, schwirrten die Gerüchte, obgleich niemand etwas konkretes wußte. Die Hitlerjugend unterdem Befehl des Bannführers Karbach habe eine zahlenmäßig weit überlegene Mannschaft in der Umgebung zusammengezogen und werde, unterstützt von SA-Männern, das Lager überfallen und die Nerother zusammenschlagen. Karl Oelbermann, der anstelle seines Bruders Robert, der sich mit einer Gruppe auf einer Auslands-Wanderfahrt befand, die Bundesleitung innehatte, mahnte zur Wachsamkeit. Aber es kam anders: die im Calmuth-Tal versammelten Nerother hatten einen unerwarteten Beschützer gefunden. Der damalige Koblenzer Regierungspräsident Turner, obgleich selbstein Nationalsozialist und Parteigenosse der ersten Stunde, hatte seinem Sohn, der zu den Nerothern gehörte. Hilfe zugesagt. Er entsandte ein massives Polizeiaufgebot mit der strikten Weisung, das Remagener Bundestreffen der Nerother vor Übergriffen der Hitlerjugend und der SA zu schützen. Das ver-anlaßte den Bannführer Karbach mit einer Leibwache kräftiger Hitlerjungend persönlich anzu-reisen und vor den Nerothern eine Rede zu halten. Karbach forderte arrogant und ultimativ die sofortige Auflösung des Nerother-Bundes und den Eintritt seiner Mitglieder in die Hitlerjugend. Doch, so sehr er auch forderte und drohte, sein Aufruf blieb erfolglos. In einmütiger Geschlossenheit lehnten die Teilnehmer des Remagener Bundestreffens den Übertritt in die Hitlerjugend ab. Bannführer Karbach schäumte vor Wut, wagte aber angesichts der vom Regierungspräsidenten entsandten Polizeikräfte keine sofortigen Maßnahmen. Abererschwor, daß er weitere Gelegenheit finden werde, die „bündischen Hunde“ – wie er sie nannte – auszumerzen.
Das Bundestreffen im Remagener Calmuthtal wurde am Pfingstmontagabend mit dem traditionellen großen Bundesfeuer beendet. Ungeachtet der drohenden Gefahren und auch der persönlichen Bedrohung, der sich jeder der Teilnehmer bewußt war, wurde am hoch auflodernden Lagerfeuer der Treueschwur erneuert, der in der Neujahrsnacht 1921/22 erstmals in der Nerother Eifelhöhle gesprochen worden war:
„Wir geloben zu dieser Stund‘ bei des Feuers flackerndem Schein, treu dem Nerother Bund zu sein.“ Und zu den Klängen der Klampfen klang in dieser Nacht ein neues Lied auf, das zum Vermächtnis werden sollte: „Kameraden, wann sehen wir uns wieder…?“ – Es waren nur wenige, die sich wiedergesehen haben.
Am 18. Juni 1933 holte Bannführer Karbach zum Gegenschlag aus. Im Blick auf die bevorstehende Sommersonnenwende davon ausgehend, daß sich dazu viele Nerother auf ihrem Stammsitz, der Jugendburg Waldeck im vorderen Hunsrück versammeln würden, sandte er zweihundert Hitlerjungen und SA-Männer aus, um die Burg des Nerother Wandervogel zu stürmen. Und wieder war es der Regierungs-Präsident Turner, der auf eindringliche Bitten seines Sohnes hin rechtzeitig eingriff. Es mutet wie ein unglaubliches Paradoxon an, entspricht aber der historischen Tatsache, daß sich der Koblenzer Nazi-Regierungspräsident Turner diesmal nicht der ihm unterstellten Polizei, sondern der nationalsozialistischen SS bediente, um den Hitlerjugend- und SA-Übertall auf die Nerother-Burg Waldeck zu verhindern. Ein von Turner, der auch eine hohe SS-Charge war, alarmiertes SS-Kommando schützte die Nerother vor den eigenen nationalsozialistischen Gesinnungsgenossen.
Dennoch, das endgültige Verbot und die Auflösung des Nerother Wandervogel waren nur noch eine Frage der Zeit. Adolf Hitler, der „Führer“ der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei und inzwischen am 30. Januar 1933 vom greisen Staatspräsidenten Paul von Hin-denburg zum Reichskanzler berufen, wußte nur zu gut, daß ersieh der Jugend bedienen müsse, um seine Macht auf Dauer zu stabilisieren. Die Vernichtung der vielerlei Jugendbünde der Weimarer Zeit, die – wie der Nerother Wandervogel in seiner individuellen vagantesken Lebensweise – diametral seiner Vorstellung einer einheitlichen, militaristisch gedrillten Partei – und Staatsjugend entgegenstanden, war dazu unabdingbare Voraussetzung. Bei der konsequenten Verwirklichung dieses Ziels fand er in einem jungen Mann aus seiner Umgebung, der ursprünglich selbst aus der Jugendbewegung kam, einen willigen Helfershelfer. Es war Baidur von Schir-ach, der zum „Reichsjugendführer“ ernannt, der Vollstrecker auf dem Wege der Hitlerjugend zur reichsdeutschen Staatsjugend wurde. Da konnte, was die Nerother betraf, auch der Regierungspräsident der Rheinprovinz nicht mehr helfen, obgleich der sich anläßlich der Einweihung der Jugendherberge in Manderscheid, zu der neben dem Reichsjugendführer Baidur von Schirach auch der damalige preußische Innenminister und enge Gefolgsmann Adolf Hitlers, Hermann Göring, erschienen war, nochmals für den Nerother Wandervogel im persönlichen Gespräch verwandte.
Der Druck auf die Nerother-Führer Robert und Karl Oelbermann nahm von Tag zu Tag zu. Inzwischen auch von Hitlers Geheimer Staatspolizei, der Gestapo, bespitzelt und „staatsgefährdender Umtriebe“ bezichtigt, sahen sich die „Oelbs“ in eine ausweglose Situation gedrängt.
Am 22. Juni 1933 traf sich das Ordenskapitel der Nerother ein letztes Mal im Haus von Freunden, der Villa Carstens in Kripp am Rhein, und beschloß, den Nerother Bund aufzulösen. Den Mitgliedern des Bundes wurde empfohlen, in die Hitlerjugend oder ins Jungvolk einzutreten. Die Brüder Oelbermann hegten die Hoffnung, daß auf diese Weise Nerother Geist in die nationalsozialistische Jugendorganisation Eingang finden und einiges derWandervogel-ldea-le auch in Hitlerjugend und Jungvolk erhalten bleiben könne.
Es nützte alles nichts, weder was die Hoffnung auf die geistige Infiltration der Nerother-Philo-sophie in die Hitlerjugend noch was das persönliche Schicksal betraf. Drei Jahre nach der Selbstauflösung und dem Versuch der Integration der Bündischen in die Hitlerjugend, um dort im geheimen zu überleben, wurde Robert Oelbermann am 12. Februar 1936 verhaftet und nach einer Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe anschließend ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht. Nach einer weiteren Überstellung ins KZ Dachau starb er dort am 29. März 1941, nach offizieller Darstellung „an Versagen von Herz und Kreislauf bei Asthma und Ödemen“. Viele andere Nerother teilten sein Schicksal und fielen ebenfalls der Mordmaschinerie der Nazis zum Opfer. Einigen wenigen gelang es im Untergrund zu überleben, stets in der Gefahr, von der Gestapo aufgespürt zu werden. Einige der untergetauchten Alt-Nerother wurden zu Initatoren von aktiven Widerstandsgruppen gegen das NS-Regime, die vor allem während der Kriegsjahre antifaschistische Parolen im Rheinland und im Ruhrgebiet an die zerbombten Häuser malten, Flugblätter verteilten sowie Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern bei Fluchtversuchen halfen. Die jugendlichen Widerstandsgruppen der Edelweißpiraten und der Kittelbachpiraten, von der Gestapo bis Kriegsende verfolgt, sind aus der Nerother Ordensgruppe der „Piraten“ entstanden.
Robert Oelbermanns Bruder Karl entging den nationalsozialistischen Häschern nur dadurch, weil er sich während der Zeit der großen Verhaftungswelle ab Juni 1935 mit einer Gruppe von 15 Getreuen auf einer mehrjährigen Afrika-Expedition befand, die erst 1938 im südafrikanischen Kapstadt endete. Karl blieb in Südafrika. Erst nach dem Kriege führte ihn sein Weg wieder zurück in seine rheinische Heimat. Der Autor lernte Karl Oelbermann in den fünfziger Jahren persönlich kennen. Er besuchte ihn mehrmals auf der alten Nerother-Jugendburg Waldeck im Münsrück und führte mit ihm lange Gespräche. Karl Oelbermann hatte sich auf die Waldeck zurückgezogen und führte dort auf seine alten Tage, fast mittellos, ein bescheidenes Leben. Er hatte immer noch seine jugendbewegten Träume. Am 9. Oktober 1974 starb er auf Burg Waldeck im Alter von 75 Jahren. Auf der Waldeck erinnert heute ein Ehrenhain an ihn, seinem im KZ zu Tode gekommenen Bruder Robert und an die vielen anderen Nerother, die den Schergen des Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind.