Sinzigs Staddtmauer: Vor 700 Jahren begann das Bauprojekt
Sinzigs Stadtmauer: Vor 700 Jahren begann das Bauprojekt
Dr. Ulrich Helbach
Eine wuchtige Ummauerung1) mit wehrhaften Türmen und vorgelagertem Graben bot nicht nur Schutz vor kriegerischen Angriffen, sie war darüber hinaus typisches Zeichen für eine mittelalterliche Stadt. Sie markierte und schützte nämlich den Kernbereich eigenständiger Selbstverwaltung, besonderen städtischen Rechts, zentraler, für das Umland bedeutender Wirtschaftstätigkeit sowie des Lebensmittelpunktes ihrer mit besonderer sozialer Stellung versehenen Bewohnerschaft. So empfanden es zu Ende des 13. Jahrhunderts auch die Bürger der jungen Stadt Sinzig, deren neues bürgerliches Selbstbewußtsein auch in ihrem rund drei Jahrzehnte zuvor erstmals bezeugten Stadtsiegel mit der Umschrift „Siegel der Bürger der Stadt von Sinzig“ zum Ausdruck kommt. Sie empfanden es als einen spürbaren Mangel, daß der Stadt eine Mauer fehlte. Dabei bildete der Wunsch nach Schutz und Unabhängigkeit von auswärtiger Hilfe ein wichtiges Motiv. Einen gewissen Schutz boten zwar die vorhandenen Erdwälle, Palisaden und wohl auch Türme. Mancher wichtige, erst in jüngerer Zeit entstandene Hof war jedoch im Ernstfall schutzlos, wie sich nicht nur anläßlich der kriegerischen Ereignisse und Zerstörung von 1241 gezeigt hatte.
In einer für das Rheinland politisch wechselvollen Zeit bot sich vor 700 Jahren für Sinzig die Chance, gleich dem Beispiel anderer Städte (z.B. Andernach und kurz zuvor Ahrweiler) den Bau einer Stadtmauer in Angriff nehmen zu können. König Adolf von Nassau hatte sich, um seine Herrschaft gegen mächtige politische Gegner zu etablieren und zu sichern, in seiner erst kurzen Amtszeit ausgiebig auf Reichsbesitzungen und -Städte am Rhein gestützt, selbst wenn sie – wie das auf Reichsgut entstandene Sinzig
Reste der Sinziger Stadtmauer. Das sog. Wighaus an der Rheinstraße 1996.
- eigentlich vom Königtum zwischenzeitlich an lokale Fürsten und Grafen verpfändet waren. Zweimal schon hatte er im Jahre 1297 in der Stadt Sinzig logiert, Gericht gehalten und Gesandte empfangen2) Nun nutzten die Bürger -vertreten durch den erst seit kurzem unter der Führung eines Bürgermeisters bestehenden Rat
- und mit ihnen der lokale Adel ihre Chance und machten Adolf von Nassau deutlich, daß sie dringend einer Mauer bedurften.
Das für ein Gemeinwesen mit nur wenigen hundert Bewohnern immens kostspielige Mauer-Projekt war ohne massive Finanzhilfe nicht zu leisten. So genehmigte der König, fürden die Stadt an politischem Wert gewinnen konnte, den Sinzigern die Erhebung einer besonderen und ausgesprochen wirkungsvollen Verbrauchssteuer, die man damals ihrem außerordentlichen Charakter entsprechend als „Ungelt“ bezeichnete. Mit Brief (in der damals üblichen Form einer Pergamenturkunde) und Siegel teilte er ihnen am 3. Dezember 1297 von Frankfurt/ M. aus mit, daß sie auf ihre Bitten hin zur Ehre des Reiches und für die Erfordernisse ihrer Stadt, der es an Mauern, Gräben und sonstigen Befestigungen fehle, ein Ungeld („ungeltum“) auf Wein und Getreide erheben dürften. Es wurde exakt festgelegt, daß jeder, der in Sinzig Weinausschank betreibe, von jedem Eimer Wein der Stadt ein Viertel entrichten müsse und wer dort Weizen oder Hafer kaufe oder verkaufe. pro Malter einen halben bzw. einen Viertel Kölner Pfennig abzuführen habe.
Ihre Rolle als wirtschaftlichem Zentrum für das Um- und Hinterland entsprechend erschloß die Stadt so eine wichtige Finanzquelle, die ihr acht Jahre später auch von Adolfs erbittertem Gegner und Nachfolger Albrecht von Habsburg bestätigt wurde und über Jahrhunderte erhalten blieb. Spätestens 1326/27 wardas Befestigungssystem fertig ausgebaut. Es besaß an den durch die Stadt führenden Straßen drei große Tore mit Tortürmen – später auch weitere kleinere Toröffnungen, etwa zum landesherrlichen, außerhalb der Stadt befindlichen Schloß – sowie mehrere zusätzliche Türme, darunter zwei sogenannte Wighäuser an den Stellen, an denen der durch die Stadt fließende Bach ein- und austrat. Weitere Zwischentürme brauchte man nicht nur, um in Steigungsstücken die Mauer an Höhe gewinnen zu lassen, sondern vor allem wegen deren beachtlichen Länge. Die kleine Stadt hatte -bedingtdurch ihre aufgelockerte Siedlungsstruktur – in großzügigerweise 23 ha Fläche ummauert und sollte darin noch Jahrhunderte später weitaus bedeutendere und bevölkerungsreichere Städte wie Ahrweiler, Andernach oder Linz weit übertreffen. Während einige Nachbarstädte wie Andernach und Ahrweiler – gefördert durch ihren Stadtherrn, den Kölner Erzbischof -schon vor Sinzig eine Ummauerung besaßen, mußte das nahe Remagen – ebenfalls Reichspfand wie Sinzig – noch längere Zeit ohne eine solche Anlage auskommen.
Die Mauer mit dem außen entlangführenden Stadtgraben, dessen Ränder auch als Weideland zugunsten des städtischen Etats verpachtet wurden, war fortan wichtiger Bestandteil der Stadt. Sie verlangte ihren Bewohnern neben Abgaben auch persönliche Wachtätigkeit auf Mauer und Türmen ab, während für die Tore eigens Torhüter angestellt wurden. An deren Amtsführung hat sich schon bald – kurz vor Mai 1327 – ein heftiger Streit zwischen Bürgern und dem reichsritterlichen Adel entzündet, weil sie den Adeligen in einer Notlage den Zutritt verwehrten; fortan besaß der in der Stadt wohnende und ebenfalls am Schutz seines Besitzes interessierte niedere Adel ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Torwächterstellen sowie die Kontrolle über den Ausbau der Befestigungsanlagen.
Reparaturen und ein gewisser Ausbau der Befestigung waren stets notwendig. Dennoch war Sinzig wie viele vergleichbare Städte auf Dauer nicht in der Lage, seine Mauer den kriegstechnischen Neuerungen ausreichend anzupassen. Wenngleich sich die Technik damals bei weitem nicht so schnell weiterentwickelte wie in der Moderne, so machte sich doch im Falle der Stadtmauer schon bald die Verwendung neuartiger Waffen bemerkbar. Ursprünglich war man nur gegen Angriffe mit damals üblichen Armbrüsten, die eine Reichweite von ca. 200 Metern besaßen, großen Karrenarmbrüsten, Rammböcken, Steinschleudern und Katapulten gewappnet. Da Angreifer relativ nahe an die Mauer heranrücken mußten, konnten sie aus größerer Höhe leicht bekämpft werden. Das änderte sich, seit im Laufe des 14. Jahrhunderts Handfeuerwaffen und wirkungsvolle weittragende auf Karren montierte Geschütze aufkamen. Man mußte die Verteidigungslinie absenken; vielerorts wurde die Mauer daher in Form von Schießscharten geöffnet, wurden die Laufgänge überdacht, die Tore verstärkt und in kürzeren Abständen weitere Zwischentürme errichtet.
Solche Maßnahmen waren teuer und konnten von kleineren Städten wie Sinzig nur sehr eingeschränkt mitvollzogen werden. Die Ratsprotokolle des 17. Jahrhunderts zeigen anschaulich, daß immer wieder Ausbesserungsarbeiten an Mauern und insbesondere Türmen und Toren den Stadthaushalt belasteten. Inwieweit man versuchte, auch durch echte Umbauten mit dem Fortschritt mitzuhalten, ist aus den erhaltenen Quellen zwischen 1300 und 1600 nicht zu ersehen. Spätestens im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) bestanden jedoch derartige Möglichkeiten angesichts der schon im 16. Jahrhundert schwächer gewordenen Wirtschaftskraft Sin-zigs nicht mehr. Man hätte den Feind und seine Geschütze auf Distanz halten müssen, so wie es andernorts durch heute oft noch sichtbare polygonale Basteien, Erdbastionen und Erdwerke rund um das zu schützende Objekt geschehen ist. Solche Anlagen waren für die dünn besiedelte Stadt Sinzig keine Alternative, und auch ihre bis ins 17, Jahrhundert oftmals wechselnden Stadtherren haben diese Anstregun-gen offenbar nicht unternommen. Daß man mit den militärischen Entwicklungen nicht Schritt hielt, zeigt z.B. eine Anordnung des Rates, der die Bürger anwies, den Wachdienst nicht mit Gabeln und anderem „Klupfellgezeug“ abzuhalten, sondern Rohre oder Musketen zu benutzen.
Trotz aller Rückständigkeit war jede Art von Stadtmauer für die Menschen auch in der frühen Neuzeit besser als nichts, und sie konnten sich glücklich schätzen, wenigstens einigermaßen vor den kriegerischen Auseinandersetzungen der „hohen Politik“ und den umherziehenden, marodierenden Soldatenbanden geschützt zu sein, unter denen das Rheinland im 16./17. Jahrhundert besonders zu leiden hatte.
Im Ernstfall bot die Stadtmauer natürlich auch den Bewohnern der zur Stadt gehörenden Außendörfer, Koisdorf, Löhndorf, Westum und -solange es noch existierte – Krechelheim, Schutz. Denn sie hatten von Beginn an gewichtigen Anteil sowohl am Bau als auch an der Unterhaltung der Sinziger Stadtbefestigung.
Über den Schutz von Haus, Hof, Leib und Leben hinaus gewährleistete die Stadtmauer die volle bürgerliche Selbstverwaltung. Mißliebigen oder für das Gemeinwesen problematischen Personen konnte man den Zugang verwehren oder ihre Zahl begrenzen-sofern die Torwächter ihre Pflichten erfüllten. So geriet die Stadt z.B. 1649 in Verlegenheit, weil durch eine kurze Unachtsamkeit der Wächter anstatt der vorgesehenen „Quota“ von 40 Mann mit einem Offizier nun ca. 200 kaiserliche Soldaten „ohn einigen uffent-halt“ in die Stadt drängten. Diese Schutztruppen, deren Versorgung den Bewohnern stets hohe Kosten verursachte, weigerten sich nun, wieder abzuziehen, wenn man nicht mehrere Offiziere und 60 Mann „logiere“ und unterhalte.
Daß die so kurze französische Zeit – von 1794 bis 1814 – schließlich den Anfang vom Ende der Sinziger Stadtmauer bedeutete, hängt mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf das Leben der Menschen zusammen. Mit einem Schlag wurde die überkommene, jahrhunderalte Ordnung der gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse hinweggefegt und mit ihr die alten Stadt- und Sonderrechte, die sich Sinzig im Mittelalter erworben und über mehr als 500 Jahre gewahrt hatte. Der Anspruch nach rechtlicher Gleichstellung aller Staatsbürger vertrug sich nicht mehr mit partikularem kleinstädtischem Rechtsund Sicherheitsdenken. Die Mauer hatte ihre Bedeutung verloren, und es erstaunt nicht, daß die Quellen im frühen 19. Jahrhundert den desolaten Zustand der Verteidigungsanlage besonders hervorheben.
Hinzu kamen weitere Auswirkungen der neuen Zeit. mit denen insbesondere auch ein geistiger und weltanschaulicher Umbruch einherging. Der auch durch das Bevölkerungswachstum motivierte Drang nach Stadterweiterung, der Bedarf an Baumaterial, die Anlage eines neuen Friedhofes und nicht zuletzt die moderne Orientierung und Anbindung des Zentrums an die 1858 eröffnete Eisenbahn mit dem Sinziger Bahnhof. der als Tor zur Welt ersehnt worden war und wohl auch hier als Symbol einer neuen Zeit gegolten haben dürfte, führten wie in vielen anderen Städten zum baldigen etappenweisen Abriß der alt und unnütz gewordenen Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen.
Als man sich in Sinzig wie andernorts im Zuge der seit dem späten 19. Jahrhundert voranschreitenden Aktivitäten des Denkmal- und Heimatschutzes wieder stärker des Wertes der alten Bauten bewußt wurde, war es bereits zu spät: 1925 hatte man den letzten Turm abgebrochen.
Dennoch sind Reste der weiträumigen Stadtbefestigung bis heute erhalten. und zwar vorallem im Osten und Südwesten, dabei auch die immer noch imposanten Reste der oben erwähnten Wighäuser an den Ecken Rheinstraße/Elsa-Brandström-Ring und Harbachstraße/Rheinstra-ße. Sie zählen zu den ältesten Baudenkmälern in der Stadt und mögen daran erninnern. daß Kontinuität und Wandel nicht nur in Sinzig untrennbar miteinander verbunden sind, in Vergangenheit. Gegenwart und Zukunft.
Anmerkung:
- Für die Belege zu diesem Beitrag siehe. U. Heibach, Rheinischer Städteatlas Lieferung XI Nr 62. Sinzig. Hg v. Amt für rheinische Landeskunde (Bonn 1994), insbes. Textteil II. 2). für die beiden Quellenzitate vg . die Ratsprotokolle im LHA Koblenz. Best 13, Nr 353, S 137 (1649) und S. 150f. (1649): ferner: E. Isenmann. Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, 1250-1500. Stadtgestalt. Recht. Stadtregiment, Kirche Gesellschaft, Wirtschaft (Stuttgart 1988). S 48-50 und 148-152: H -J Kruger, Andernachs Stadtmauer: Steine die reden in: Andernach Geschichte einer rheinischen Stadt, hg. v. F. -J. Heyen (Andernach 1988), S 87-96
- Soweit wir wissen der erste Aufenthalt eines Königs in Sinzig seit mehr als 50 Jahren (zuvor 1242 der Stauferkönig Konrad IV ).