Senscheider Optik auf Nippons Nasen
Probleme der Ansiedlnng auf der griluen Wiese
Wolfgang Pechtold
Die Hundert-Seelen-Gemeinde Senscheid ist in Japan vielleicht bekannter als die Hunderttausend-Einwohner-Stadt Koblenz. Der Grund dafür heißt „Köln-Optik – Dipl.-lng. Mans Weber KG“, Produktionsstätte und Exporteur von Brillenfassungen. Ob es nun den Senscheidern die Brust vor Stolz schwellt, daß ihr Ortsname Optikern“, .und ihren Kunden im fernen Nippon geläufig ist, darf dahingestellt bleiben. Wichtiger ist: Die kleine Fabrik bedeutet Arbeitsplätze und Steuereinnahmen für einen Raum, der den Auspendler und chronische Ebbe in der Gemeindekasse als Regelfall ansehen muß.
Köln-Optik, Büro und Fabrikhalle
Foto: Esch
Begonnen hat es mit der „Köln-Optik“ 1966. Firmen-Seniorchef Weber hatte bis dahin Maschinen, Rohrleitungen und Seilbahnen gebaut und in Senscheids Wäldern Keiler und Bock gehegt und gejagt. Der damalige Ortsbürgermeister Ferdinand Reuter gehörte zu denen, die den Jagdherrn bestürmten, ihnen einen Betrieb hinzustellen. Daß der KölnerMaschinen-, Rohrleitungs- und Seilbahnbauer den Senscheider Wunsch ausgerechnet mit einer Fabrikationsstätte für Brillenfassungen erfüllte, war halb volkswirtschaftliches Kalkül, halb purer Zufall: Wirklich zu helfen war dem Raum vor allem mit einer arbeitsintensiven Produktion — und in Mainz standen gerade Maschinenpark und das technische „Know how“ in Gestalt eines der raren Bfillenmachermeister „zum Verkauf“. Weber griff zu. Preiswerte Fassungen, so umreißt Verkaufsleiter Rainer Waedllch heute im Rückblick das Fertigungsprogramm der Anfangszeit; irgendwann fällt ohne geringschätzigen Unterton der Begriff „Kassengestell“, zu verstehen als Synonym für hohe Stückzahlen.
Von Hand werden die Unebenheiten geglättet
Foto: Esch
Die Senscheider suchten Heil und Gewinn bald in anderer Richtung: Exklusivität war die Grundidee, die heute verwirklicht ist. Kunststoff-Fassungen im Marktwert von 90 Mark bilden die Untergrenze; handgefertigte
Naturstoff-„Gestelle“, vorzugsweise aus Schildpatt oder neuerdings Büffelhorn, werden leicht für 1500 Mark und mehr gehandelt; wer es noch teurer mag, kann für Gold-und Juwelenkreationen, die allerdings zum großen Teil nicht in Senscheid, sondern in Goldschmiedewerkstätten entstehen und von der Köln-Optik „nur“ vertrieben werden, bis zu 50 Tausender hinblättern. Solche Einzelanfertigungen stellen dann allerdings auch absolute Spitzenstücke auf der ganzen Welt dar.
Es ist also kein Wunder, wenn von Senscheid aus ein gewissermaßen weltumspannendes Vertriebsnetz mit Büros in Salzburg und Zürich, Paris und Florenz, Brüssel und Birmingham, New York und Osaka aufgebaut wurde. Wenn dieser Verkaufsapparat mit gut zwei Dutzend Akteuren zahlenmäßig die Hälfte der produzierenden und organisierenden Kräfte in der Eifel ausmacht, so hat das seinen Grund in einer zweiten Besonderheit der Firma: Sie verkauft nicht über Groß- und Zwischenhändler, .sondern direkt an den Optiker.
Viele weitere Besonderheiten weisen die Produktionsanlagen in Senscheid auf. Technischer Betriebsleiter Gerhard Kallenbach: „Es gibt in unserer Branche natürlich bestimmte Standardmaschinen, aber Veränderungen daran sind die Regel, denn .natürlich will man besser arbeiten als die Konkurrenz.“ Maschinen werden kaum gebraucht bei der Fertigung der exklusiven Schildpatt-Brillen. Die Grundform des Gestells wird beispielsweise aus dem Schildpatt, Panzern der Karett-Schildkröte, die nicht selten für mehr als 2 500 Mark je Kilo gehandelt werden, mit der Laubsäge zurechtgeschnitten.
Die Fertigung der Kunststoff-Fassungen ist dagegen eine Serie von bis zu 50 Arbeitsgängen, von denen viele an Maschinen „Made in Senscheid“ ausgeführt werden. Ausgangsstoff sind Azetatplatten, bei der „Köln-Optik“ meist 40 und mehr nach Farbe und Struktur verschiedene Muster — auch bei Brillen gibt es etwas wie Modetrends. Die Senscheider sind im übrigen auch in den Formen äußerst flexibel, sogar bis hin zur Sonderanfertigung eines einzelnen Stücks. „Sonderanfertigungen in Serie“ bedeutet im übrigen das Lieferprogramm für Japan, denn Asiaten haben bekanntlich nicht den hochstehenden Nasenrücken des Europäers.
Grob vereinfacht, besteht der Produktionsgang eines „normalen“ Gestells aus vier Phasen. In der ersten wird mit einer Spezialmaschine aus der Kunststoffplatte die Grundform der Fassung ausgeschnitten. Damit die Form stimmt, werden festmontierte Schablonen abgetastet und die Bewegungen des Tasters im Storchschnabel-System auf die Säge übertragen. Dieses Prinzip gilt auch für die folgenden Schleifarbeitsgänge, bei denen das Gestell die Nut für die Gläser oder schmückende Facetten erhält, bei denen alle Kanten verschwinden und die Auflagenflächen für die Nasensattel oder die leichten Verjüngungen für die Augenbrauenpartie ihre ausgeklügelte Form erhalten. Glättungsvorgänge bestimmen eine weitere Phase, in der die Poliermittel immer feiner werden, bis die Gestelle zum Schluß tagelang in Trommeln mit Holzstiften rotieren, denen anfangs noch Bims und Öl beigegeben sind. Zwischendurch wird gebogen und geformt, werden Scharniere montiert, die für Schleif- und Poliervorgänge mit Plastikhäubchen wieder abgedeckt werden müssen.
Wie kommt die Metallnadel in die Brillenbügel? Und dazu noch so gerade? Mancher wird es sich schon gefragt haben. Es ist keineswegs so, daß das Kunststoffmaterial um den Metallkern herumgegossen würde. Auch der Bügel wird als Rohling nämlich aus festen Kunststoffplatten geschnitten. Die Nadel muß nachträglich in ihn hineingeschoben werden, ein raffiniertes Verfahren! Der Bügel wird in einem Ultraschallgerät erwärmt und dann zwischen zwei Metallfutter eingespannt, in der Mitte ein Kunststoffstreifen eingearbeitet. Während der Bügel seine Wärme verhältnismäßig rasch an das Metall des Futters abgibt, bleibt er dort, wo er auf dem Kunststoff aufliegt, warm und weich. Wird nun die Nadel vom Ende her in das Naterial „geschossen“, so folgt sie dem Weg des geringsten Widerstandes und dringt somit kerzengrade in den Bügel ein. Natürlich gehört auch eine Endkontrolle zum Produktionsablauf, natürlich werden den Fassungen vor dem Versand Schablonen beigelegt, nach denen der Optiker seine Gläser schleifen und anpassen kann. Mit Begleitkarten in den verschiedensten Sprachen gehen dann die Brillen hinaus.
Das hört sich allerdings einfacher an, als es in Wirklichkeit ist, denn die Lage in Sen-scheid hat beileibe nicht nur Vorteile. Die „Köln-Optik“ hatte sich längst angewöhnt, die Post selbst abzuholen und in Adenau aufzugeben. Seit in der Johanniterstadt kein Güterbahnhof mehr besteht, holt sie Frachtgut in Ahrweiler ab. Ihre leitenden Angestellten reisen täglich von weit her an: Rainer Waedlich aus Köln, Gerhard Kallenbach aus Euskirchen.
Waedlich zu einem speziellen Problem: „Der Export in so viele Länder bringt es mit sich, daß bei uns in vielen Sprachen geschrieben und telefoniert werden muß. Die entsprechenden Fachkräfte sind hier natürlich kaum zu finden und auch nur schwer hierhin zu locken.“
Selbst in der Produktion war und ist die Industrieansiedlung „auf der grünen Wiese“ nicht unproblematisch. Die meisten „Köln-Optiker“ kommen aus der Landwirtschaft und betreiben sie nebenher weiter. Kallenbach: „Und wenn das Säen oder Heuen oder Mähen an der Reihe ist, dann müssen die Leute natürlich unbedingt Urlaub haben, und unsere ganze Produktion kommt ins Stocken“. Schwer ist es auch, Kräfte für die Handanfertigung von hochwertigen Fassungen zu gewinnen, obwohl Waedlich über die Bezahlung sagen kann: „Nicht ganz auf dem Niveau von Ballungszentren, aber für den hiesigen Raum gut.“ Kallenbach rechnet natürlich nicht damit, in der Eifel perfekte Brillenmacher zu finden. Er glaubt aber, daß Handwerker, etwa Schreiner, sehr rasch zu qualifizierten Fachkräften werden können und in Senscheid eine echte Chance finden.
Trotz allem: Die Köln-Optik baut in Senscheid weiter auf. Zu den Nutznießern zählen demnächst weitere Arbeitskräfte aus dem Einzugsbereich, der etwa 15 Kilometer im Umkreis ausmacht, und die Gemeinde, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen beachtlichen Gewerbesteuerzahler in ihrer Gemarkung hat.