SAGE VOM TOTENMAAR*)

Über den See, über den See
Wandert ein Schatten und klagt sein Weh.
Seht, wie er unstet im Nachtwind schreitet,
Schwebt und schwankt, in die Tiefe gleitet!
Nimmer vergeht er. Immer ersteht er
Zu neuem Jammer, zu neuer Klage.
Also kündet die Totenmaar=Sage.

Ich hab‘ ihn belauscht in schauriger Nacht.
Kein Stern hat am Firmament da gewacht.
Die Eifel ächzte in trüben Dünsten,
Es übten Dämonen sich in ihren Künsten.
Da schwankte es wieder, seeauf und =nieder.
Doch die Wasser waren nur feurige Fluten,
Tief unten heulten die alten Gluten.

Draus stieg der klagende Schatten hervor.
Noch heute hallt mir sein Jammer im Ohr.
Und war es auch nur wie ein Säuseln im Ginster,
So schuldvoll war seine Klage und finster:
„Erneue, erneue dich, ewige Reue!“
Der Regen schlug mir ins starre Gesicht.
Ich fühlte den Sturm und den Regen nicht.

Das Kraterbecken im Eifelland
Lag wie von uraltem Zauber gebannt.
Wild jagten in meinem Hirn die Gedanken,
Die Kreuze zu Weinfeld fühlte ich schwanken.
Die Winde weinen, es klagt aus den Steinen:
„Hört niemand mit mir, wie das ewig hämmert?“
Es seufzt aus dem Grund, wo kein Morgen dämmert.

Ich bete: „Heil’ge Dreifaltigkeit!
Laß mich erkennen das grausige Leid!“
Da donnert die Unterwelt um mich her,
Ich sehe nicht See und Eifelland mehr.
Ich höre, ich höre nur Klagechöre,
Und wo ich am Tag Weinfelds Kirche sah,
Steht vor mir der Hügel Golgatha.

Am Schmerzensstamm verblutet der Gott,
Rings um ihn her wogen Hohn und Spott.
Da schreit es auf aus dem Kratergrabe:
„O, daß ich ihn gekreuzigt habe!
Erneue, erneue dich, ewige Reue!“
Mir bebt das Herz wie das bebende Maar,
Und ich weiß, wer der jammernde Schatten war.

Aus der Kirche am Totenmaar dröhnt ihm ein Chor
„Cruzifixus sub Pontio Pilato!“ ins Ohr.
Wie zuckt da im Schmerz der gespenstische Mann!
Noch hat er Reste der Toga an,
Die er getragen in jenen Tagen.
Da klagt er zerbrochen in stummem Gewimmer:
„So hör meinen Namen ich immer und immer . . .“

Mich faßt unendliches Mitleid an,
Im Zeichen des Kreuzes frage ich dann:
„Was trieb dich, verzweifelte Seele, hierher
In des Eifellands friedliches Kratermeer?“
Er schaut, er schaut — noch heute mir graut! –
Mit Augen voll Weltleid schaut er auf mich,
Ich wage die Frage noch einmal: „O sprich!“

„Ja, ich war Filatus! Pilatus, ich war es!
Ich suchte Ruhe am Grunde des Maares!
Ich hatte zu spät den König erkannt,
Der mit Dornen gekrönt einst vor mir stand!
Da trieb mich’s umher bis zu diesem Meer.
Es speit mich aus in jeder Nacht,
Ich bin ihm unerwünschte Fracht!

Doch eine Hoffnung ward mir gegeben:
Im neuen Lichte darf ich leben,
Wenn sich liebende Menschenherzen
öffnen für meine Schuld und Schmerzen.
Wenn sie den Hammer, der Nagelung Jammer
In sich selber gleich mir empfinden,
Müssen die qualvollen Bilder schwinden!“

Sein fragendes Bitten, sein bittendes Fragen
Schrie mir ins Herz. „Ich will es tragen“,
Suchte ich Worte: „Was du mir sagtest,
Was ich schaute, all, was du klagtest!
Ein jeder ja ist schuldig am CHRIST!
Ich will es den Eifelleuten verkünden, —
Sie werden Osterkerzen entzünden . . .“

„Und bei dem furchtbaren Credowort,
Das dich getrieben von Ort zu Ort,
Werden wir deine als unsere Schuld fühlen
Und dir die brennenden Tränen kühlen.
Dann leuchtet das Maar wunderbar
Wie kein zweites durch deine Schmerzen
In der ,Eiflia Mater‘ liebendem Herzen!“

Der Spuk zergeht. Im Morgenstrahle
Erblüht die Himmelskathedrale.
Wie jubeln im neuen Tagesbrand
Die uralten Berge im Eifelland!
Wie singt der Wind so froh und gelind! . . .
Gottes ewiges Liebeslicht
Glänzt aus dem Maar. Es verläßt uns nicht.

ERNST KARL PLACHNER

*)„Dichten“ heißt nicht nur „reimen“. Es gibt viele Gedichte, die keinen einzigen Reim haben und im tiefsten Sinne „Gedichte“ sind, und es gibt ganze Reimbücher, worin kein einziges Gedicht steht. Die Stunde muß da sein, in der ein Gedicht geschrieben werden kann. Die Niederschrift kann vielleicht in kurzer Zeit erfolgen, die innere geistig-seelische Reifung, die Voraussetzung dazu ist, kann Monate, viele Jahre dauern.

Ich habe mich als Gymnasiast schon mit der wenig bekannten Sage vom Totenmaar befaßt, der gemäß Pontius Pilatus auf seiner ruhlosen Wanderung nach der Kreuzigung Christi sich im Weinfelder Maar das Leben nahm. Wir kamen damals unter der Leitung des uns kameradschaftlich nahe stehenden späteren Oberstudienrates Albert Federle (damals noch der „Herr Oberlehrer Federle“) auch auf mehrtägigen Wanderungen weit durch unsere schöne Heimat. In jenen Jahren fand ich in einem alten Eifelbuch eine kurze, übrigens strohtrockene Notiz vom Tode des Pilatus in jenem Maar. Sie hat mich nie mehr losgelassen. Als Obersekundaner schon versuchte ich in einem großen Gedicht „Pilatus‘ Ende“ den echt balladesken Stoff zu fassen. Es hatte Schwung und Form, war aber selbstverständlich noch Schülerarbeit. Als Primaner riß mich lange Soldatenzeit wie viele Mitschüler in das Grauen des ersten Weltkrieges und ließ keine Zeit für solche Wege der träumenden Jugendseele. Aber nach vielen Jahren kam ich wieder zum „Totenmaar“ und atmete seine melancholisch=düstere und geheimnisvolle Seele immer tiefer in midi hinein. Ich suchte die verkehrsfreien Tage, weil Lärm und Rummel jeder Art so feinen Schwingungen feindlich sind.

Die Forschungen des Herrn Pastors von Schalkenmehren hatten ergeben, daß die Kirche am Totenmaar auf den Resten eines römischen Gebäudes, wahrscheinlich eines Landhauses steht. Ich fand, daß Pilatus auf seinen Wanderungen tatsächlich in das von Cäsar eroberte Gallien gekommen ist. Vielleicht war er tatsächlich in der vulkanischen Eifel und an diesem Maar. Vielleicht hat er sich tatsächlich hier das Leben genommen . . . Manches, was von diesem Maar erzählt wurde, erinnerte mich an den „Lago Averno“, den „Lacus Avernus“ der alten Römer auf der Berghöhe am Golf von Neapel, wo dicht am See die berühmte „cumäische Sibylle“ wohnte. Der große römische Dichter Vergil erzählt von diesem See, daß er das Tor zur Unterwelt sei. Ich fand merkwürdige Beziehungen heraus zwischen dem italienischen und dem Eifelsee, über die man mancherlei sagen und schreiben könnte. Aus solchen und ähnlichen Voraussetzungen konnte ich schließlich als reifer Mann (1955) meine „Sage vom Totenmaar“ dichten (denn solche Begebenheiten können nur in gereinigter, nach inneren Gesetzen gebrauchter Sprache gesagt werden). Ich habe die Ballade dann später (1957) in novellistischer, also erzählender Form — eine selbständige, neue Arbeit — unter dem Titel „Der Tod des Pontius Pilatus“, von etwa möglichen historischen Blickpunkten ausgehend, ergänzt. Sie hat bis ins Ausland Beachtung gefunden.

Ich möchte meine Leser bitten, die Ballade einmal langsam zu sprechen und sie nicht als Zeitungslektüre zu durchfliegen. Dann erst kommt das heraus, was in ihre Vokale, Konsonanten, in ihre Rhythmen, Reime und Strophen hinein geformt wurde, Dichtung will klingen !