Pfalzort – Reichsstadt – Landstadt – Kleinstadt – Mittelzentrum – Zur Geschichte der Stadt Sinzig
Pfalzort – Reichsstadt – Landstadt -Kleinstadt – Mittelzentrum
Zur Geschichte der Stadt Sinzig
Dr. Ulrich Heibach
Nur drei Orte hat es im Gebiet des heutigen Kreises Ahrweiler gegeben, die wir für die Vergangenheit mit Fug und Recht als Städte bezeichnen können: Remagen, Ahrweiler und Sinzig. In ihnen kamen eine Menge von Erscheinungen zusammen, die städtischen Charakter prägten, nämlich verdichtete Besiedlung, eine sozial differenzierte Einwohnerschaft, ein städtisches Gemeinschafts- und Selbstgefühl, eine gegenüber dem Umland herausgehobene Rechtsstellung mitteilweiser bürgerlicher Selbstverwaltung, eine aufwendige und wirkungsvolle Befestigung sowie zentrale Bedeutung für die Region in puncto Handel und Gewerbe. Wie nun die Wirklichkeit jeweils aussah, wie sie sich wandelte, wie die aufgezählten Komponenten gewichtet waren, welche hemmenden Faktoren vorkamen, was an Typischem für eine bestimmte Stadt angesprochen werden kann, das herauszufinden, ist die Aufgabe und das Ziel der stadtgeschichtlichen Forschung. Dabei muß der Blick immer auch auf andere Städte und auf das Umland gerichtet sein, um einordnen und bewerten zu können, was sich dem Forscher in den Quellen zur eigenen bzw. zur untersuchten Stadt zeigt.
Rheinischer Städteatlas Sinzig
Zwar liegt bisher zu keiner der drei genannten Städte eine umfassende Stadtgeschichte vor -vieles bleibt noch zu untersuchen -, aber als erste in dieser Reihe kann nun die Stadt Sinzig eine eigene, recht umfangreiche Mappe des „Rheinischen Städteatlas“ vorweisen.1)
Der Städteatlas wird vom Amt für rheinische Landeskunde in Bonn herausgegeben. Neben einem umfassenden Karten- und Abbildungsteil steht ein Textteil, der nach einem für alle rheinischen Städte zwischen Emmerich und Ander-nach verbindlichen Stichwortschema Informationen zu Siedlung, Topographie, Verfassung und Verwaltung, Kirche, Schule und Bildung, Medizinisches, Juden, Soziales und Wirtschaft bietet. Der Aufbau macht den Atlas zum speziellen Nachschlagewerk und erlaubt nun sämtlichen Forschern, problemlos die vorliegenden Ergebnisse zur Sinziger Stadtgeschichte vergleichend nutzen können.
Anders als noch in den achtziger Jahren ist der Sinziger Raum heute für den landes- und stadtgeschichtlichen Forscher von auswärts kein „weißer Fleck auf der Landkarte“ mehr, sondern sind die Bedeutung und Eigenart Sinzigs nun weit über den Kreis hinaus bekannt. Von Nutzen ist der Atlas auch für Heimatgeschichte, Schule, Archäologie, Denkmalpflege, Stadtplanung, Verwaltung und Politik.
Der Autor dieser Zeilen, der sich vor einigen Jahren mit der Geschichte des über die spätere Stadt hinaus reichenden Reichsguts Sinzig im Mittelalter befaßt hat, erarbeitete im Auftrag des Herausgebers den von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart reichenden Textteil. Wie für den Atlas üblich wurden alle Informationen direkt aus den Quellen eruiert und genau belegt. Soweit Einzelergebnisse der lokalen Forschung vorlagen, wurden sie wissenschaftlich-kritisch geprüft. Heraus kam eine nun für weite Strekken der Stadtgeschichte2) erstmals vorhandene Gesamtschau zur Sinziger Historie. Sie bietet neben diversen z. T. völlig neuen Details bis zum eventuellen Erscheinen einer umfangreichen Stadtgeschichte einen verläßlichen Rahmen für die Beurteilung des Werdens und sich Entwickeins der Stadt Sinzig. Im folgenden sei die Entwicklung kurz skizziert.3)
Pfalzort
Der für die Bedeutung von Sinzig wesentliche Faktor war seit der Karolingerzeit die durch den Ort verlaufende und unmittelbar bei der Siedlung auf die Rheintalstraße treffende Aachen-Frankfurter Heerstraße. Sinzig war spätestens seit 762 gelegentlich Etappenziel des reisenden Königs mit zeitweilig nicht unwesentlicher politischer Bedeutung. Der als Wirtschafts- und Verwaltungszentrum für das westliche Umland (Reichsgutbezirk mit umfangreichen Forstgebieten) bis Königsfeld, Heckenbach u. Kaltenborn/Hochacht) dienende Pfalzort war bis in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts grundherrlich weitgehend durch das Reich geprägt und wirtschaftlich auf die Reichsburgen Hammerstein und Landskron sowie nach Aachen, dem Sitz des Marienstifts (Kirchen- und Zehntinhaber seit 855), ausgerichtet. Die Finanzkraft des Reichsgutes war beachtlich, aber es mangelte dem Ort an nennenswerter Zentralität.
Verpfändete Reichsstadt und Amtssitz
Die werdende Stadt trat in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in die Rechte und z. T. in die Zentralfunktion des Reichsgutes für das mittlerweile kleiner gewordene Umland ein, in dem die Orte Westum, Löhndorf, Krechelheim (später wüst) und Koisdorf als Außendörfer Stadtrecht genossen. Sinzig behielt auch diese nach der Verpfändung an die Grafschaft Jülich (erstmals 1276, endgültig ab 1300). Es wurde sofort Sitz eines jülich’schen Amtes und ist spätestens seit dem 16. Jahrhundert Verwaltungszentrum für die gemeinsam verwalteten Ämter Sinzig und Remagen, zeitweilig auch für die Grafschaft Neuenahr und die jülicher Vogtei Breisig gewesen.
Handel und Verkehr im 14. -16. Jh.
Schon in derzweiten Hälfte des 13., vor allem im 14. Jahrhundert sind Lombarden und Kawer-schen in Sinzig ansässig, die dort Handel und Geldverleih betreiben. Ein und bald zwei Jahrmärkte, Münzprägungen und bis zu den schlimmen Verfolgungen 1265/87 eine große und finanzkräftige jüdische Gemeinde zeigen, daß die verpfändete Reichsstadt anfangs wirtschaftlich über eine durchaus günstige Basis für ihre Entwicklung verfügte.
Der Stadtgrundriß verdeutlicht die gewichtige Rolle der Heerstraße, die schon lange vor der Stadtwerdung ihren späteren Verlauf nahm. Von ihrer Verkehrs- und der gewichtigen geopolitischen Lage sowie von einem bedeutenden Weinbau dürfte die Stadt im 14./16. Jahrhundert stark profitiert haben, insbesondere als sie in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts unmittel-bar Jülich unterstand. Rege Wirtschaftsbeziehungen bestanden von Beginn an mit der Reichsstadt Aachen; Sinzig war Durchreisestation der Pilger der Aachener Heiligtumsfahrt. Die stärkere Nutzung des Landweges zum Mittel- u. Oberrhein bzw. nach Aachen und den Niederlanden zwecks Umfahrung der drückenden kurkölnischen Rheinzölle im 15. Jahrhundert steigerte die Bedeutung der Handels-, Heer- und Pilgerstraße, auch wenn der Umstieg zwischen See- und Landweg i. d. R. nicht in Sinzig, sondern in Breisig oder Remagen stattfand.
Dagegen sank nach der Verpfändung an Kurköln 1425/52 wohl – im Gegensatz zur wirtschaftlichen – die geopolitische Bedeutung ihrer Verkehrsanbindung nach Nordwesten. Stattdessen nahm für Sinzig wahrscheinlich die politische Bedeutung der Rheinstraße zu, was nun aber das Gewicht Remagens verstärkte.
Ansicht von Sinzig (Ausschnitt) auf der „Arbeitsbescheinigung“ der Sinziger Hammerzunft
aus dem 18. Jahrhundert
In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts leistete Sinzig erhebliche Eigenleistungen zur Ablösung einer Pfandschaft; in der Steuermatrikel 1532 wird die Stadt unter 22 kurkölnischen Städten etwa gleichauf mit Kempen am sechsthöchsten veranschlagt, Linz u. Ahrweiler liegen bzgl. der Matrikel-Summe wesentlich höher, Rheinbach und Remagen dagegen deutlich niedriger. 1549 z. B. brachte sie 8.000 Goldgulden für das Erzstift Köln auf. Im späten 15. Jahrhundert mußte die Stadt mehrmals Schulden aufnehmen, die aber bald reduziert werden konnten. Das 16. Jahrhundert zeichnet sich – bei nun zunehmend besserer Quellenlage – durch eine größere Zahl von Stiftungen für die Kirche und ein deutliches Engagement des lokalen Adels in der Stadt aus.
Unterhalb der höheren Amtsträger des Reiches bzw. der Pfandinhaber bildeten die Schöffen und Ratsleute seit Ende XIII. Jahrhundert die Oberschicht. Jedoch übte der im XIII./XIV. Jh. aus einem Teil der Reichsministerialität hervorgegangene in und um Sinzig ansässige Niederadel erheblichen Einfluß in der Stadt aus.
Landstadt
Seit dem 16. Jahrhundert war Sinzig auch rechtlich eine Kölnische, dann Jüliche Landstadt. In den Kriegszeiten seitdem späten 16. Jahrhundert zeigten sich für eine Kleinstadt wie Sinzig auch die Nachteile der guten Verkehrslage;
Verschuldungen zur Schadensbeseitigung und für Kontributionszahlungen scheinen die Stadt im 17. Jahrhundert schwer belastet zu haben. Der Adel scheint sich, bedingt u. a. durch die vor Ort zunehmende Einflußnahme derjülichschen Landesverwaltung, Zusehens weniger um das Stadtregiment und in der Folge auch um seine Sinziger Besitzungen gekümmert zu haben.
Die Märkte, deren einst nicht unwesentliche Bedeutung Mitte des 16. Jahrhunderts wieder gestärkt werden sollte, kamen spätestens 1583 durch den Stadtbrand weitgehend zum Erliegen. Anfang des 17. Jahrhunderts – nun 4 Jahrmärkte – ist wieder ein Aufschwung zu verspüren, der aber nicht von Dauer gewesen ist.
Gegenüber aufstrebenden Städten wie Ander-nach, Ahrweiler, Linz konnte Sinzig seit dem 14. Jahrhundert offenbar keine herausragende wirtschaftliche Rolle übernehmen. Die Siedlungsdichte blieb angesichts der seinerzeit sehr großzügig bemessenen Ummauerung stets hinter der der Nachbarstädte – auch Remagens – zurück. Enge wirtschaftliche Verbindungen bestanden im 17. Jahrhundert vor allem zu Linz u. Breisig, ferner zu Remagen; in dieserZeit mußten hochwertige Arbeiten (Goldschmied, Uhrmacher) an auswärtige Handwerker vergeben werden. Es hat den Anschein, daß insbesondere die zeitweilig dichte Folge von Verpfändungen, verbunden mit der stets beachtlichen Zahl und Rolle des am Ort präsenten, aber i.d.R. nicht wohnhaften, sondern eher regional ausgerichteten Adels das bürgerlich-städtische Element immer in seiner Entfaltung bremste.
Neue Verwaltungs- und Residenzfunktion
Die Herrschaftsübernahme durch Jülich 1554/ 60 brachte Sinzig wieder mehr Zentralität, da es faktisch über längere Zeiträume Verwaltungssitz nicht nur für das lediglich aus der Stadt bestehende Amt Remagen, sondern auch für die Grafschaft Neuenahr und zeitweilig die Vogtei bzw. das Land Breisig wurde. Im späten 16. und 17. Jahrhundert war das Sinziger Schloß mehrmals Witwenresidenz der Herzoginnen;
mit der Zerstörung des Schlosses verlor die Stadt 1689 jedoch einen wichtigen Faktor überregionaler Bedeutung. Zentralort für das untere Ahrtal war Sinzig zusammen mit Remagen, dessen schließliche Erhebung zum Kantonssitz nicht überrascht. Damit hatte Sinzig seine Zentralfunktion eingebüßt, wurde aber Sitz eines Friedens- bzw. Amtsgerichts.
Im Zentrum von Sinzig: Pfarrkirche St. Peter und der Zehnthof (1993)
Abseits gelegene Kleinstadt
Die direkt am Rhein gelegenen Städte Remagen und Linz hatten bessere Voraussetzungen in einer Zeit, als nicht nur die Bedeutung der Rheintalstraße zunahm, sondern auch das politische und wirtschaftliche Gewicht der Landverbindung Sinzig – Düren spätestens im 18. Jahrhundert spürbar nachließen. Als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Dampfschiffahrt einsetzte, war Sinzig durch seine Lage abseits des Rheines von den Verkehrsströmen verstärkt abgeschnitten; die nächsten Schiffsanlegestellen waren in Remagen und Breisig; erst 1851 entstand eine Straßenanbin-dung zum Rhein (nach Kripp). Man empfand in Sinzig im 19. Jahrhundert bis zum Eisenbahnbau diese Nachteile sehr deutlich.
Die Gewerbetabellen spiegeln die Sozial- und Gewerbestruktur in Sinzig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider; vertreten sind im wesentlichen Handwerke und Gewerbe für den örtlichen Bedarf. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebte wie in den Jahrhunderten zuvor von der Landwirtschaft. Badebetrieb und Tourismus spielten – ab der zweiten Jahrhunderthälfte – eine vergleichsweise bescheidene Rolle.
Industrialisierung und Entwicklung zum Mittelzentrum
Sprunghaft einsetzende Industrieansiedlungen seit dem späten 19. Jahrhundert dagegen, v. a. seit den vierziger / fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts (insbes. Mosaik- u. Wandplatten, Baustoffe, Metallwaren), förderten dann die Entwicklung der Wirtschaft spürbar. Pläne für eine großzügige Hafenanlage am Rhein (1923/33) wurden nicht weiter verfolgt. 1970 dominierte das produzierende Gewerbe dann eindeutig; über 50 % der am Ort wohnenden Erwerbspersonen und 3/4 aller Einpendler waren darin tätig. In der Bauleitplanung 1982 war das nun um seine früheren Außendörfer sowie um Franken und Bodendorf vergrößerte Sinzig zusammen mit Remagen als Mittelzentrum ausgewiesen;
wegen der Nähe mehrerer anderer Städte hatte die Stadt als Arbeitgeber und Einkaufszentrum primär lokale Bedeutung für die umliegenden Ortschaften, Sinzig selbst zählte vor allem seit den siebziger Jahren in zunehmenden Maße zum Einzugsbereich der Bundeshauptstadt Bonn bzw. zum Verdichtungsraum Köln-Bonn. 1970 standen 2.142 Berufsauspendlern 1.017 Einpendlern gegenüber, 1987 gar 3.942 Aus-1,112 Einpendlern. 1970 – 88 bestanden rückläufige Beschäftigungszahlen im in Sinzig führenden produzierenden Gewerbe, die durch Zuwächse im Dienstleistungssektor nicht kompensiert wurden, jedoch erfolgte eine Steigerung der Arbeitsstättenzahl um 14% .4) In jüngster Zeit gibt es verstärkte Bemühungen um weitere Industrie- und Gewerbeansiedlungen; seit 1990 findet die Erschließung eines großen Gebietes östl. der Bahn statt. Einschließlich schon industriell genutzter Flächen entsteht so ein großer Gewerbe- und Industriepark. 1993 besaß die Stadt dadurch die größte Gewerbe-u. Industriefläche aller Gebietskörperschaften im Kreis (83,5 ha). Im Zuge regionaler Ausgleichsmaßnahmen für den Kreis im Gefolge der bevorstehenden Verlegung des Parlamentsund Regierungssitzes von Bonn nach Berlin ist Sinzig auch als möglicher Standort für eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung im Gespräch.
Anmerkungen:
- Atlasmappen liegen bislang für einen Teil jener Städte im Kreis vor, die nur vereinzelte städtische Merkmale entwickeln konnten, nämlich für Altenahr (Mappe 37. bearb. v. P. Neu. 1982), Adenau (Mappe 42, bearb. v. P. Neu, 1985), Bad Breisig (Mappe 48, bearb. v. Th. Schilp, 1989), Gelsdorf (Mappe 49, bearb. v. P. Neu, 1989) und Königsfeld (Mappe 55, bearb. v. P. Neu, 1992), Geplant sind noch folgende Mappen: Ahrweiler, Heimersheim, Neuenahr, Oberwinter und Remagen.
- In vorbildlicher Weise aufgearbeitet war freilich die Zeit seit 1794 bzw. 1815. Gedankt sei dafür an dieser Stelle Hans Kleinpass. dessen umfassender und fundierter Beitrag „Sinzig von 1815 bis zur Gebietsreform 1969″. in: Sinzig und seine Stadtteile, hg. v. J. Haffke u, B. Koll. Sinzig 1983, S. 156 – 329, dem Autor die Arbeit für das an Quellen reiche 19. und 20. Jahrhundert sehr erleichtert hat.
- Zum folgenden siehe den Rheinischen Städteatlas „Sinzig“. der sich Im Juli/August 1994, als diese Zeilen geschrieben wurden, in der unmittelbaren Vorbereitung für den Druck befand. Dort findet sich im Textteil V. 5 diese Zusammenfassung mit den entsprechenden Querverweisen und Belegstellen.
- Vorstehende Zahlen in: Der Kreis Ahrweiler Im Wandel der Zeit. 1993, S. 365 und der Beitrag von W. Dietz über die Wirtschaft in; S. 300 und – zum folgenden – S, 302.