Pannehännes – Eine Eifeler Geschichte
Es gibt Menschen, die bei einer ersten Begegnung trotz ihres ärmlichen, sonderbaren Aussehens den Betrachter stutzen lassen, ja, ihn zum Staunen bringen. Statur, Gesichtszüge, Haltung wollen nicht übereinstimmen mit dem Gesamtbild der Person.
Unwillkürlich zögert man und denkt: „Der da hat auch schon bessere Tage gesehen!“ Es ist etwas an ihm, das einfach keine Übereinstimmung zulässt zwischen Aussehen, Tätigkeit und seinem Wesen.
Seltsamerweise traf dies alles zu beim Helden unserer Geschichte, ausgerechnet bei einem Kesselflicker, den sie da oben in den einsamen Eifeldörfern auf windumtoster Höhe nur unter dem Zunamen „Pannehännes“ kannten.
Da gab es in den Dörfern alte Sprüche seit Generationen, wie: „Dä öss esu ärm wie en Kesselflecker“, oder „Wenn dau nix Richtijes liere wells, dann dohn mir dech bei de Kesselflecker“, oder „Bei de Zijeuner, de Korwsmächer on bei de Kesselflecker mohs me oppasse on de Täsche zohaale!“
Doch bei ihm, dem Pannehännes, trafen solche herablassenden Sprüch nicht zu. Von seiner Person ging etwas Eigenartiges aus, schwer erklärbar. Knächtjes Jüppche, der Dorfphilosoph, nannte es eine versteckte Würde, gepaart mit wunderlicher Gelassenheit. Ganz natürlich war es, dass alles dies die Neugierde der Dorfbewohner weckte. Wir wissen ja, dass bohrende Neugierde gerade in einsamen, abgelegenen Dörfchen wie hartnäckiges Unkraut gedeiht. Ein Pflänzchen, das der Pastor in heftigen Predigten aus den Herzen seiner Schäflein riss. Doch, nicht verhindern konnte er, dass es unerwartet rasch wieder nachwuchs.
Nein, nichts wurden die Neugierigen gewahr; stets blieb die Antwort des Kesselflickers auf viele Fragen Schweigen. Da halfen auch nicht jene oft so wirkungsvollen Köder, die scharfen Schnäpse im Glaskännchen, die sonst so leicht auch die Zungen der Wortkargen zu lösen vermögen. Selbst die geschickten Methoden der Schöllefränzjes Jritt mit der Taktik steten Hinterfragens brachten nichts, wenn sie vorsichtig ansetzte: „Ihr fahrt esu oft en de Stadt am Rhein, do mohß mer sech doch ens frohre, watt micht dä Hännes bloß do?“
Nutzlos blieben solche Versuche – Hännes hüllte sich in Schweigen. Auch andere, in der Kunst des Ausfragens erfahrene Mitglieder aus der geheimen Bruderschaft der Neugierigen blieben mit ihren Versuchen, das Geheimnis zu lüften, erfolglos. Selbst wenn die Schöllehemmersch Ami, unbestrittene Meisterin auf diesem Gebiet, mit unschuldigem Augenaufschlag und gänzlich unbeteiligter Miene unverfänglich ihre Fallen stellte – Hännes blieb stumm.
Kein Sterbenswörtchen kam über seine Lippen außer üblichen Beschwichtigungen und Sprüchen, die rätselhaft blieben, alles bedeutend oder nichts, sehr zum Verdruss der Wortfallensteller.
Ja, brennend können sie sein, die ungelösten Rätsel, quälend der Drang, Neues zu erfahren oder den Zugang zu finden zu den verdunkelten Kämmerchen eines Geheimnisses! Verärgert pflegten Jritt und Ami – die geradezu personifizierte Neugierde – zu sagen: „Wart nur aaf, dat do kreije mir eenes Daachs noch eruß, watt dä Hännes emme en de Stadt ze söhke hätt.“
Geheimnis
Genaues wusste niemand und da selbst die Versuche der geschickten Ausfragerinnen Jritt und Ami ohne greifbares Ergebnis blieben, fand man sich ab mit dem, was war.
Manche quälte noch die Sucht, zu erfahren, warum der Kesselflicker immer wieder in die Stadt am Strom reiste, alle zwei Monate und immer für zwei, drei Tage.
Nur einer im Dorf wusste um den Grund, der alte Dorfpfarrer. Doch der bewahrte Schweigen, und von Zeit zu Zeit sprach er dem betrübten Hännes Trost zu.
Solche tröstenden Worte hatte er nötig, unser Kesselflicker, den Zuspruch eines alten, lebensklugen Herren, der sich in den Ängsten und Wirrnissen der Menschenseele so gut auskannte, der die so seltene Gabe des Zuhörenkönnens besaß und Gebeugte aufzurichten vermochte. Ja, und das vielbesprochene Geheimnis?
Ach, es ist schnell erklärt: Die einzige Tochter des Kesselflickers war schwachsinnig und lebte seit vielen Jahren in einer Anstalt nahe der Domstadt, wo sie gute Betreuung erfuhr. Pannehännes besuchte sie mehrmals im Laufe eines Jahres und es kam ihm jedesmal vor, als sei er auf einer mühsamen, beschwerlichen Pilgerreise. Bei aller Sehnsucht, sein Kind wiederzusehen, erfüllten ihn diese Besuche jedesmal erneut mit großer Niedergeschlagenheit.
Da saßen sie sich dann gegenüber, Vater und Tochter in einem kahlen, gekachelten Raum. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch ein vergittertes Fenster und die Schattenbilder der Eisenstäbe zeichneten schräge und verzerrt auf dem Fliesenboden zitternde seltsame Muster. Hännes packte sein Mitbringsel aus, schaute sein Kind an und schwieg. „Wie das blühende Leben sieht sie aus“, dachte er „nur da oben, im Kopf, stimmt etwas nicht – warum wohl ist das so, warum muss das so sein?“
Doch auf sein Nachgrübeln fand er keine Antwort. Seine Blicke wanderten von den Gitterschatten hin zur Kranken, die im Zustande einer eigenartigen Verzückung mit einer Stoffpuppe spielte, der sie Unverständliches zuflüs-terte. Ab und zu warf sie dem alten Mann aus halbgeschlossenen Augen einen fragenden Blick zu, einen Blick aus unheimlichen, nicht auslotbaren Tiefen ihrer verstörten Seele.
Dem Alten gab es einen Stich ins Herz und da er sich nicht anders zu helfen wusste begann er, ihr Geschichten von der Tant Bäb, seinem Pferd-chen, den Schafen und Ziegen zu erzählen, sprach auch – freilich flüsternd – von der Remise und dem großen Kupferkessel, in dem er seine kostbaren Schnäpse heimlich erzeugte.
Für einen Herzschlag lang glaubte er, in den Augen der Tochter einen Funken von Verstehen, ein Quentchen innerer Beteiligung zu spüren. Doch solche Glücksmomente einer aufkeimenden Erkenntnis, ein scheinbares Erwachen aus Dämmerzuständen des Verstandes verflogen rasch und unerbittlich, ließen ihn innehalten und verstummen. Er fühlte, dass ihn Abgründe von der abgekapselten Eigenwelt seines Kindes trennten, erkannte die quälende Un-überbrückbarkeit des dunklen Niemandslandes, das zwischen Vater und Tochter lag, eine Region, deren Tore ihm für immer verschlossen blieben.
Nach solchen Begegnungen war Hännes niedergeschlagen. Eine tiefe, schmerzende Traurigkeit erfüllte seine Seele, belastete sein Gemüt. Auf dem langen, mühsamen Heimweg in seine Eifeleinsamkeit plagten ihn düstere Gedanken, überkam ihn oft ein Aufbegehren gegen die Mächte des Schicksals. Doch in einem Winkel seines Herzens blieb ein Licht, das ihn tröstete. Vor sich sah er ein Gebilde, das seine Gedanken beflügelte, den großen, glänzenden Kupferkessel seiner Destillieranlage mit Röhren, Manometer, der gewundenen Kühlschlange, den Schläuchen und Bottichen. Es war seine selbsterbaute Destillerie, in der er aus brodelnder Masse der Maische, aus Obst, Beeren, Kräutern und Essenzen jenes klare, hochwirksame Wässerchen erzeugte, das wie ein Heilmittel wirkte für Körper, Geist und Seele.
Und jedesmal, wenn er nach langem Wanderweg heimkehrte, führte ihn sein erster Weg in die Remise, nachzusehen, ob noch alles so geblieben, wie er es verlassen hatte.
In der Remise
Wenn er in seinem Zufluchtsort, der Remise, werkelte, Versuche anstellte, Neues erdachte, Hergebrachtes verwarf, wurde Pannehännes zu einem Nachfolger der Alchimisten. Natürlich wollte er nicht Quecksilber mit Hilfe des Steines der Weisen in pures Gold verwandeln, doch die Kunst des Destillierens mit lösen, färben, verdampfen, kondensieren und filtrieren, die beherrschte er wie kein Zweiter – aber ein Jünger Cagliostros wollte er nicht werden! Er, gelernter Kupferschmied, hatte eine geheime Destillieranlage erbaut, die sich sehen lassen konnte. Und im Laufe der Zeit war er zu einem Meister in der Kunst des Verwandelns von Holzäpfeln, Krotzbirnen, Beeren und Kräutern geworden; hochprozentige wohltuende Wässerchen erzeugte er in den langen Wintermonaten in seiner Brennerei in der Remise. Was das Bäschen mit flinken Fingern oder dem Rechelkamm in Wald, Hecken und Wiesen sammelte, kam in die Maischebottiche des Tüftlers. Es wurde destilliert zu starken, duftenden, heilsamen Tränk-lein und in kleine, eigentümlich geformte Flaschen abgefüllt.
Die Etiketten beschrieb das Bäschen mit exakter, gestochen genauer Sütterlinschrift. Waldbeeren, Hagebutten, Vogelbeeren, Holzäpfel und Wurksbirnen verwandelten sich in herzhafte Getränke, die Hännes seiner festen Kundschaft in der Domstadt teuer verkaufte. Er wusste wohl, dass er gegen strenge Vorschriften verstieß, kannte die empfindlichen Strafen, die Schwarzbrennern drohten. Doch, welcher Kontrolleur, welcher Schwarzschnäpschenschnüffler würde sich in diese Einsamkeit verirren, wo der Schnee im Winter Wiesen, Felder und Häuser oft meterhoch bedeckte?
Es fehlte ihm, dem Gelegenheitsströpper und Forellenfänger auch das Gefühl, Unrecht zu tun, wenn er die Fülle des Eifler Herbstes, all die kleinen dunklen, blauen, roten und grünen Früchte und Beeren in eine klare, flüssige Substanz verwandelte, die mit Kräuterzusätzen und geheimen Mittelchen zu einem köstlichen Getränk wurden.
Immer wieder versicherte ihm seine verwöhnte städtische Kundschaft, dass es die reinste Medizin sei, die er ihnen bringe. Ein Tränklein gegen ach so viele Beschwerden, für Herz und Kreislauf, Magengrimmen, Kopfweh und Zipperlein. Ja, zuweilen auch für Schmerzen, die den Menschen tief im Innern quälten, eine Art von Elixier für Seelenpein.
Was Wunder, wenn der Hännes bei so viel Lob aus dem Mund vornehmer, gebildeter Damen und Herren in der Stadt und bei kleinen Heilerfolgen hin und wieder den Kopf ein wenig hoch trug. Und als eine verständliche, logische Folge überschwänglicher Lobsprüche setzte er den Preis für sein Elixier jedesmal ein wenig höher. „Die hann et joh“, dachte er und empfand kei-nerlei Gewissensbisse.
Es kam soweit, dass ihn seine Stadtkundschaft den „Eifler Kräuterdoktor“ nannte. Manchmal wunderte sich der Alte, wie schnell die schlanken Fläschen wieder leer wurden und dass besonders ältere Damen in der Stadt den Tag kaum erwarten konnten, an dem der Kräuterschnapsmann aus der Eifel wiederkam.
Wenn er ihnen gelegentlich sagte, eigentlich sei er ein Kesselflicker, der mit Ross und Zweiradkarre über die Dörfer zöge, lachten sie ungläubig und meinten, der listige Alte tischte ihnen Lügengeschichten auf.
Seltsam, dachte Hännes, wenn man den Leuten die Wahrheit sagt, wird sie nicht geglaubt!
Löten, Schrauben, Nieten
Wenn Pannehännes mit seinem Zweiradkarren das kleine Dorf auf der Höhe erreicht hatte, lenkte er das Gefährt auf einen freien Platz, dorthin, wo die niedrigen strohgedeckten Häuschen der Armen sich wie verloren hinter Buchenhecken versteckten. Er schirrte das Pferd ab und entlud die Karre. Viel war es nicht, was er zu seiner Arbeit benötigte: Das plumpe Eisengestell der Esse, ein alter Lederblasebalg, ein Schemel, die hölzerne Werkzeugkiste mit Hämmern, Zangen, Feilen, mit Blechvorräten, Lötwasser, Lötzinn, Lötkolben, Nieten, Schrauben, Eisensägen und ein kleiner Amboss.
Gemessenen Schrittes ging er dann mit einer Schelle durch den Ort. Alle kannten dieses Signal, das besagte: Aufgepasst, ihr Leute! Hört zu, ihr Besitzer von verbeulten, undichten, durchlöcherten Pfannen, Töpfen, Kesseln und Bettflaschen, er ist wieder da, Pannehännes, der Kesselflicker!
Dann kamen Frauen und Kinder zum Platz da draußem am Pantaleonskreuzchen, hielten ein Schwätzchen, brachten dem Alten ihr schadhaftes Geschirr und meinten treuherzig: „Maach et bloß net ze deuer“ und Hännes rief: „Ihr hat dat jood soohn, ech mooß jo ooch läwwe“. Und während er das Feuerchen der Esse entzündete, sog er an der tönernen Stummelpfeife und meinte bekräftigend: „Et öß nauch keener von de Luft sattwoare, onn ooch dat Päed mohß seng Fooder hann!“
Wenn er den Dörflern die letzten Neuigkeiten aus der Stadt am Fluss, wo es den herben Rotwein gab, erzählt hatte, ließen sie ihn allein. Dann begann er mit geübtem Blick aus der Menge der Eimer, Kessel und Töpfe die mit größeren Schäden herauszusuchen. Insgeheim nannte er sie seine schweren Fälle, wie ein Kessel von Köppjesfränze Traud, der an drei Stellen durchgescheuert war. Und als Hännes sie fragte: „Wollt ihr üch net ens ene neue Kessel koofe?“ meinte sie kopfschüttelnd: „Ihr möhst et doch wösse, datt bei de ärm Leut nix fortjeworfe wierd.“ Ja, das wusste der Alte nur zu gut und so fing er an, den Boden abzusägen. Sorgfältig vermaß er ein passendes Blechstück, rändelte es auf dem kleinen Amboss und begann, es nach gründlicher Reinigung mit Lötwasser, rund-um Punkt für Punkt anzulöten.
Bei kleineren Gefäßen lief die Arbeit hurtiger. Mit einer Schmirgelmasse rieb er die Schadstelle blank, betupfte sie mit Lötwasser. Dann nahm er den erhitzten Lötkolben aus dem Feuer und entschlackte die Spitze mit einer Feile. Sorgfältig achtete er darauf, dass der Kolben nicht mehr glühte, sonst wäre das Lötwasser rasch verdampft und das Lötzinn in kleinen, flüssigen Perlen fortgespritzt. Aus langer Erfahrung wusste er, wann der Kolben die richtige Temperatur für den Lötvorgang besaß.
Später schmirgelte und polierte er die gelöteten Stellen glatt. „Schludderchkeit, dat jitt et bei mir net“ meinte er zu Traud, während die ihm Neuigkeiten aus dem Dorf berichtete, lang und breit, eine Meisterin im Ausmalen von Klatsch- und Tratschgeschichten.
Flott ging dem Hännes die Arbeit von der Hand. Mit Kupfernieten befestigte er abgerissene Henkel an Kannen und Töpfen, Bettflaschen machte er wieder dicht, reparierte geschickt eine blecherne Drehtrommel, wie sie die Eifler zum Rösten von Gerste und Zichorie für ihren Kaffee benutzten.
Gegen Abend betrachtete der Alte noch einmal sein Tagwerk: Das gereinigte, gelötete, vernietete Geschirr, all die Töpfe, Kessel und Pfannen und er sagte zu Traud „Jo, esu öss dat hee en ooserer Eefel; de Leut senn ohch möt jeflickte Saache zofredde!“
Trauds Enkelin, das kleine Kathrinchen, schaute aufmerksam zu; für sie war der Alte mit dem, greisen Bart eine Art Zauberer. Sie konnte nicht ahnen, dass sie sich nach über sieben Jahrzehnten einmal genau an dieser Stelle am Pantaleonskreuz an den Pannehännes erinnern sollte.
Rast
Niemand in den Weilern, Gehöften und Dörfern da oben im Bergland kannte Straßen, Waldwege, verschlungene Abkürzungen und Pfade besser als der alte Kesselflicker.
Wege, die Orte miteinander verbanden, auch Schneisen, Holzfällerwege, Abkürzungen durch dichte Wälder, verlassene Pfade, die serpentinenartig quer zu steilen Hängen verliefen. Wege aus der Enge der Täler hin zu den windumtosten Höhen, auf denen die kleinen Dörfer wie vergessen, weltverloren lagen.
Es hatte seine besondere Bewandtnis, warum Pannehännes die kleine Flussschleife unten im Tal zu seinem bevorzugten Rastplatz erwählte. Hier reichte das Geäst der Erlen, Pappeln und Weiden bis hinab zum Boden, bildete eine dämmerige Kammer unter dichtem Laubdach. Ein Ort, wie geschaffen, sich vor neugierigen Blicken zu verbergen. Vom Ufer her wuchs Schilf bis ins Wasser, eine raschelnde Palisade, Arsenal aus gelbgrünen, schwankenden Speeren. Aus dem Dickicht von Hahnenfuß und Huflattich vernahm er die quarrenden Laute der Frösche. Sumpfdotterblumen, Wasserschierling und tausend Blüten verströmten in der sommerlichen Hitze einen betäubenden Duft. Mit schwirrendem Flügelschlag standen schimmernde Libellen über den seichten Stellen des Kolks.
Hier, wo das Wasser die Schieferblöcke in Jahrtausenden glatt geschliffen hatte und ein Plateau bildete, lag der Rastplatz des Alten. Durchs Blattgewirre sickerte Sonnenlicht und erzeugte auf dunklem Wasserspiegel ein unaufhörliches Spiel zitternder Kringel; im Gitternetz des Schattengeästes huschten Vögel wie Mittagsgespenster.
Grillen zirpten in den nahen Wiesen ihre endlosen, eintönigen Melodien, auf- und abschwellend, ohrenbetäubend. Vom Waldrand am anderen Ufer erscholl der Warnschrei des Hähers und aus der Tiefe dunkler Wälder klang zuweilen ein Kuckucksruf wie drängende Mahnung zum Mitzählen: So viele Jahre noch, wie lange noch, wie lange noch…
Wenn Hännes sein Pferd gefüttert und getränkt hatte, lud er die eiserne Esse vom Wagen ab, nahm Holz und Blasebalg, entzündete ein Feuerchen, ließ es verglühen und legte ein Drahtgitter über die Glut.
Doch, es gab noch einen anderen, ganz besonderen Grund seiner Vorliebe für diesen Platz am Fluss. Dies war, wie der Alte seit langem wuss-te, die Stelle, an der es die schönsten Forellen weit und breit gab. Er schlich vorsichtig hin zur tiefsten Stelle des Kolks, wo Strudel die Uferböschung unterhöhlt hatten, streifte die Hemdsärmel hoch. Dann kniete er nieder und tauchte den rechten Arm langsam, ganz langsam tief ins eiskalte Wasser. Behutsam öffnete er die Hand, wartete geduldig, unbeweglich. Endlich tauchte der Kopf einer großen Regenbogenforelle schimmernd aus dem Dunkel der Uferhöhle. Kaum wahrnehmbar bewegte sie sich auf die geöffnete Hand zu, schwebte über ihr. Sachte ließ sich der schöne Fisch vom lauernden Kesselflicker streicheln. Dann griff der ganz plötzlich zu, umklammerte die Kiemen und warf seine Beute mit einem Schwung ans Ufer. Zwei Forellen fing Pannehännes noch an anderen Stellen; dann ließ ihn das Fängerglück im Stich.
Über der Glut der Esse röstete er seine Fische, legte dazu Kartoffeln in die Asche, schnitt von einem harten, krustigen Brotlaib einen Kanten ab, aß bedächtig.
Alles vollzog sich ohne jegliche Hast und in wunderbarer Gelassenheit unter der Schattenkuppel der Weiden in der Glut des Mittags, der Stunde des großen Pan. Im Schilf rauschte der Wind und über den Kuppen der Waldhügel ballte sich eine ungeheure grauweiße Wolkenbank auf wie ein mächtiger Turm. Sie dehnte sich rasch aus, überspannte den ganzen Horizont und während der Alte sich nach der Mahlzeit ein Gläs-chen seines Elixiers gönnte, überkam ihn plötzlich eine große Müdigkeit. Sorgfältig vergrub er die Fischgräten. Er wusste, dass der Förster, wenns um Forellenfischen oder gar ums Ströppen ging, keinen Spaß verstand.
Endlich legte sich der alte Fänger auf die rotkarierte Pferdedecke und es überwältigte ihn ein tiefer, traumloser Schlaf.
Sturz
Als Pannehännes erwachte war es dunkel geworden. Die strahlend weißen Wolkentürme hatten sich in eine mächtige, schwärzliche Masse verwandelt: Blitze zuckten, lang anhaltender Donner erfüllte das Flusstal. Es begann in Strömen zu regnen.
So schnell er konnte, räumte der Alte das Gerät in die Karre, schirrte sein Pferdchen an, gewann in Eile die schmale Talstraße, die nach dem Überqueren der alten Römerbrücke in engen Kehren hinauf zum Dörfchen auf der Höhe führte.
Mühsam war der Anstieg über den schmalen, ausgefahrenen Weg, der sich in Serpentinen am Steilhang entlang schlängelte. Nur langsam kamen sie voran, der alten Mann und sein Gefährt. „Alt sind wir geworden“, murmelte Hännes vor sich hin, „der wackelige Karren, das Pferdchen und sein Herr!“
Stockdunkel war es inzwischen geworden. Sturzregen rauschte, Ströme von Wasser; man sah nicht die Hand vor den Augen. Selten hatte Hännes ein solches Unwetter erlebt. Immer wieder blieb das verängstigte Tier stehen, zitterte und wieherte vor Angst. Hännes hatte die Karbidlampe im Schutz der Karrenplane angezündet, führte sein Pferd am Zügel.
Mühsamer wurde der Aufstieg zur Höhe, immer holperiger der schmale Weg mit den tiefausgefahrenen Spuren. Wackelig war der alte Karren mit ausgeleierten Radnaben und abgeschliffenen Achsen. Zum Bäschen hatte der Alte neulich gesagt, er müsse sich eine neue Karre kaufen und sie hatte in ihrer nüchternen Art geantwortet: „Jo, dau kreijs e jöldenes Nixje onn en silwernes Waahtnochjet.“
Nie vorher hatte sich der Alte so müde gefühlt. Das Unwetter ließ nicht nach; es goss wie aus Kübeln; ununterbrochen strömte der Regen und verwandelte den schmalen Weg in einen Sturzbach. Längst hatte das Wasser die kleine Laterne ausgelöscht. Mit schleppendem Schritt ging Hännes dem Gefährt voraus, zog sein Pferdchen am Zügel nach.
Er sah nicht, dass vor einer Kehre ein Stück des Weges hinab in die Schlucht gerissen wurde, zu spät bemerkte er, dass hier kein Weiterkommen mehr möglich war.
Während er verzweifelt versuchte, Pferd und Karre zu wenden, brachen die Speichen des linken Rades; die Karre kippte zur Seite. Noch einen Augenblick schwankte das Gefährt, dann stürzte es hinab in die Schlucht, riss Pferdchen und Pannehännes mit in die Tiefe.
Tage später fanden Waldarbeiter den toten Kesselflicker und brachten ihn heim in sein Dorf.
Epilog
Viele Jahre waren vergangen; zwei schreckliche Kriege hatten die Welt erschüttert, Europa verheert in einer apokalyptischen Zeit; Städte sanken in Schutt und Asche, Millionen Menschen starben.
Eine neue Zeit war angebrochen, eine Epoche der Fülle, des Überflusses und Wohlstandes. Doch im gleichen Maße, in dem die Technik ihren Siegeszug fortsetzte verfielen die überkommenen Sitten, Bräuche und Traditionen, wurden Menschlichkeit und Werte missachtet. Auch im einsamen Eifeldorf auf der Höhe hatte sich vieles verändert. Kesselflicker, Korbmacher, Scherenschleifer und Hausierer, ja, die gab es nicht mehr im Zeitalter der Wegwerfgesellschaft. Altes musste dem Neuen, dem Modernen weichen, ob es der eichene Küchenschrank, die rostige Takenplatte, der Langerweher Ölkrug, die Truhe oder bäuerliches Gerät war. An den Häusern verschwanden die Strohdächer, die Viehtränke wurde verlegt, in einer Scheunenecke verstaubte die Fochmühle.
Wie hatte der Pannehännes damals, vor Jahrzehnten gesagt: „Et jeht em Lewwe nix verlohre, unn eenes Dags kütt alles noch enns zoröck.“
Und tatsächlich, ein Quentchen Wahrheit lag in diesen Worten… Siebzig Jahre waren vergangen. Die Dorfkinder spielten wie eh und je am Schuttplatz des Ortes, am Pantaleonskreuzchen. Voller Tatendrang gruben sie sich durch Schichten und Gewirr des Weggeworfenen, der verrosteten, geborsteten Geräte, förderten zu Tage, was von damals überiggeblieben war. Sie fanden Töpfe, Pfannen, verbeulte Kessel, Henkel, Klinken, Kännchen, geborstene Pflugscharen, Eggenzähne. Für die Buben waren es Fundstücke, Schätze, die sie eifrig sammelten, um sie dem Schrotthändler für ein paar Groschen zu verkaufen.
Die alte Tant Kathrinchen stand lange vor diesen Über-resten einer vergangenen Zeit. Nach einer Weile meinte sie kopfschüttelnd: „Nee, nee, wat ene Haufe Jekröms, onn alles esu kapott. Datt hätt selews de Pannehännes seelig net mieh flicke könne!“