Ostpreußen in gesamtdeutscher Sicht
Von Dr. Johannes Hopf
ABSTIMMUNGSDENKMAL IN ALLENSTEIN
97,8 % der Stimmberechtigten im ostpreußischen Abstimmungsgebiet stimmten für Deutschland
Räumlich ist Ostpreußen mit seinen 39 820 qkm genau doppelt so groß wie das Land Rheinland-Pfalz. Da es vorwiegend landwirtschaftliches Gebiet war, betrug seine Bevölkerungsdichte nur 63 Einwohner pro qkm, während in Rheinland-Pfalz vor dem Kriege 149 Menschen auf einen qkm entfielen (heute 152). Ostpreußen war jedoch landwirtschaftlich voll ausgenutzt, was durch seine Produktion bestätigt wurde.
Vor mehr als 700 Jahren begann die Besiedlung Ostpreußens durch deutsche Bauern, Bürger, Ritter und Mönche. Sie war das gemeinsame Werk aller deutschen Stämme. Das Gebiet zwischen ‚dem Münsterland und Sauerland stellte im 13. und 14. Jahrhundert besonders viele Einwanderer. An die rheinische Herkunft von Erstsiedlern erinnert der Name des Flüßchens Rhein im ostpreußischen Bistum Ermland, an dem das Dorf Groß-Köllen (von Köln hergeleitet) liegt, sowie der Name des Städtchens Rhein am Ende des langen Rheiner Sees, das mit seiner alten Ordenskirche vielfach das Ziel einer Fahrt durch die berühmten Seen Ostpreußens bildete. Die höchsten Autoritäten des Mittelalters, Kaiser und Papst, hatten dem Deutschen Ritterorden den Auftrag erteilt, das Gebiet zwischen Weichsel und Memel für den abendländisch-christlichen Kulturkreis zu gewinnen. Nicht Slawen, sondern die heidnischbaltischen Prussen lebten hier. Die größte Leistung des Ordens wurde die planmäßige wirtschaftliche und kulturelle Erschließung des Landes. Bis 1350 gründete er vier-zehnhundert Dörfer, bis 1410 dreiundneunzig Städte. Die prussische Bevölkerung vermische sich mit den deutschen Siedlern, zu denen in späteren Jahrhunderten noch zahlreiche politisch und religiös verfolgte Gruppen aus anderen Ländern kamen, wie Hugenotten und Refugies aus Frankreich, Mennoniten aus den Niederlanden, Schweizer und Salzburger. Sie alle verschmolzen hier mit den mittelalterlichen Siedlern zu einer deutschen Stammesgemeinschaft besonderer Eigenart. Ein unwiderlegbares Bekenntnis zu Deutschland gab die Bevölkerung Ostpreußens in der Volksabstimmung 1920 ab.
SCHLOSS KÖNIGSBERG
Nach dem Verlust der Marienburg 1457 wurde Königsberg die Residenz der Hochmeister des Deutschen Ritterordens. Der letzte von ihnen, Albrecht aus der fränkischen Linie der Hohenzollern, nahm 1525 den Titel eines Herzogs an und wandelte den geistlichen Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum um. 1701 krönte sich sein Nachfahre, Friedrich L, der zugleich Kurfürst in Brandenburg war, zum König in Preußen. Berlin und Königsberg wurden die Pfeiler des preußischen Staates.
DIE GRABSTÄTTE KANTS AM DOM ZU KÖNIGSBERG
3 Bilder: Fotoarchiv Landsmannschaft Ostpreußen, Hamburg
Der genannte Herzog Albrecht hatte 1544 zu Königsberg die erste Universität im Nordosten Europas gegründet. Hier studierte und lehrte 200 Jahre später Immanuel Kant, der durch seinen Kritizismus die Philosophie entscheidend beeinflußt und ihr eine neue Richtung gegeben hat. Auch entwickelte er als erster Gedanken zu einem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ein Zeitgenosse Kants war Johann Georg Hamann, der in Königsberg seine Schriften veröffentlichte; er suchte den ganzen Menschen und seine Kraft und war ein Vorläufer der Sturm- und Drangepoche. Ein Schüler beider war der aus Mehrungen in Ostpreußen gebürtige Johann Gottfried Herder, der die Humanität als Postulat für ein Zusammenleben der Völker erhob.
Auf diesen geistigen Kräften, die Ostpreußen im 18. Jahrhundert weit über seine Grenzen hinaus ausstrahlte, beruhten die politischen, die sich hier zu Beginn des folgenden Jahrhunderts entfalteten. Von Königsberg aus ergingen nach dem unglücklichen Kriege gegen Napoleon die liberalen Stein- und Hardenbergschen Reformen, die den erschöpften und zerstümmelten preußischen Staat wieder lebensfähig machten. Hier entstand 1808 die Städteordnung, die die Städte von der Bevormundung des Staates weitgehend befreite. Als eine weitere Tat von gesamtdeutscher Bedeutung ist der Beschluß der preußischen Stände vom Februar 1813 zu bewerten, aus eigener Kraft und Verantwortung heraus den Kampf gegen Napoleon auf sich zu nehmen, wodurch der Anstoß zu den Befreiungskriegen gegeben wurde. Preußischer und rheinischer Liberalismus führten gemeinsam zur Achtundvierziger Bewegung des vorigen Jahrhunderts. Der liberale Königsberger Abgeordnete Eduard von Simson wurde 1848 Präsident der Nationalversammlung zu Frankfurt.
Mancher weitere ostpreußische Denker, Dichter und Künstler wäre zu nennen. Es sei hier nur an den bedeutenden Vertreter der Romantik, den aus Königsberg stammenden E. Th. A. Hoffmann, erinnert oder an den in Koblenz verstorbenen Max von Schenkendorf, an den bekannten Schriftsteller Ernst Wiechert, an die noch unter uns weilende Dichterin Agnes Miegel, an den Maler Lovis Corinth, an die Graphikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz.
Bereits im Mittelalter nahm Ostpreußen eine wichtige wirtschaftliche Brückenstellung zwischen Ost und West ein. ‚Königsbergs enge wirtschaftliche Beziehungen zum Rheinland lassen sich bis in jene Jahre verfolgen. Sehr rege waren sie damals zu Köln, der wichtigsten binnendeutschen Handelsstadt und des bedeutendsten Umschlagplatzes für die rheinischen Ausfuhrwaren. Die Hauptausfuhrartikel Königsbergs nach dem Westen waren zunächst Holz und andere Produkte der Waldgebiete seines weit nach Osteuropa reichenden Hinterlandes; m späteren Jahrhunderten kamen dann landwirtschaftliche Erzeugnisse hinzu, während aus dem Westen insbesondere Industrieprodukte eingeführt wurden. Der erneute wirtschaftliche Aufschwung, den Ostpreußen im 19. und 20. Jahrhundert als preußische Provinz und Teil der gesamtdeutschen Wirtschaftseinheit erlebte, wurde durch den ersten Weltkrieg und die Abschneidung Ostpreußen vom Mutterlande durch den Weichselkorridor unterbrochen. Dennoch fand man bald wieder neue Möglichkeiten, die Wirtschaft zu beleben. Vor dem Kriege war Ostpreußen in der Lage, jährlich 1,7 Mill. t Getreide, 2,7 Mill. t Kartoffeln, 1,6 Milliarden Liter Milch zu produzieren. Es hatte einen Viehbestand von 1,4 Mill. Rindern, 1,8 Mill. Schweinen. Hierdurch konnte es außer seiner eigenen Bevölkerung noch 2—3 Mill. Menschen zusätzlich ernähren. In die linksrheinischen Gebiete lieferte es insbesondere Rinder und Schweine. Weltbekannt ist ‚die ostpreußische Pferdezucht. Allein 38 000 Pferde exportierte Ostpreußen jährlich in alle europäischen Länder sowie nach Übersee. Weltbekannt ist auch seit uralten Zeiten der an der Küste des Samlandes gewonnene Bernstein.
Durch die Potendamer Beschlüsse ist der südliche Teil Ostpreußens unter polnische, der nördliche unter sowjetrussische und sowjet-litauische Verwaltung gestellt worden. Ostpreußens deutsche Bevölkerung aber wurde vertrieben. Fast 20 Prozent der Bevölkerung ist umgekommen und kaum vier Prozent befindet sich noch in der Heimat, die ihnen zur Unheimat geworden ist. Die durch Deutsche in einem halben Jahrtausend gestaltete Kulturlandschaft ist im Laufe der letzten zehn Jahre teilweise verwildert. Unland und wildwachsender Buschwald nehmen heute ehemalige landwirtschaftliche Nutzflächen ein. Die Hektarerträge des Bodens, soweit er unter den Pflug genommen wurde, sind um 30—50 Prozent zurückgegangen. Der heutige Viehbestand dürfte weit unter 50 Prozent des früheren liegen. Der nördliche Teil Ostpreußens ist für die Sowjetunion eine ausgesprochene Militärbasis geworden. Den südlichen Teil bemüht sich Polen vergeblich seiner Wirtschaftsplanung nutzbar zu machen; es haben sich jedoch hier bereits die von Churchill in Jalta für ein überfüttertes Polen angedeuteten Verdauungsschwierigkeiten eingestellt. Ostpreußen ist heute ein Gebiet sowjetischen Zwanges und sowjetischer Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung.
Die geistigen Kräfte aber, die sich in Ostpreußen einst entwickelt hatten, sind nicht untergegangen. Mögen die Ideen Kants und Herders den Sieg über eine Politik der Gewalt davontragen und einer Politik der Vernunft den Weg bahnen. Die Charta der Vertriebenen ist ein Appell an die ‚höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung der Völker und Menschen, die guten Willens sind, Hand anzulegen an ein Werk, das für alle einen Weg in eine bessere Zukunft bahnen soll. In ihr klingt Kants, des größten Sohnes Ostpreußens, kategorischer Imperativ wieder:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können.“