Nur zwei Schlüssel

VON HUDERTUS SEIDEL

An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt an einem Nagel ein Schlüsselbund. Zwei Schlüssel sind mit einer dünnen Schnur zusammengebunden: einer für ein Sicherheitsschloß, der andere ist ein ganz normaler Schlüssel, wie ich ihn in jedem Eisen Warengeschäft kaufen könnte. Vor Jahren trug ich beide ständig in meiner Tasche. Dadurch waren sie blank und glatt. Jetzt aber, nachdem sie schon sieben Jahre kein Schloß mehr aufgesperrt und keine Tür mehr geöffnet haben und sich in keiner Tasche mehr blankreibn können, jetzt sind sie blind geworden, und ein Anfing von Rost hat sie alt und unansehnlich gemacht.

Aber ich lasse sie hangen, und wenn ich am Schreibtisch sitze und arbeite, fällt immer wieder einmal mein Blick auf sie, und sie schließen mir ein geistiges Pförtchen auf, das in die Vergangenheit führt; in die Zeit, als sie noch schließen durften, als wir daheim waren, daheim in der geliebten Heimat.

Dort steht noch das Haus, das uns jahrelang Heimstatt bot. Und auf einem Bild, das treue Freunde mir Vorjahren geschickt haben, war die grüne Haustür wieder zu sehen. Ein wenig mitgenommen von Wind und Wetter sieht sie aus.

Der Anstrich ist stellenweise abgeblättert. Aber das alte Schloß mit der in einem Aluminiumring steckenden Holzklinke ist noch da. Und das Schlüsselloch ist als schwarzer Punkt deutlich zu erkennen — das Schlüsselloch, in das einer meiner Schlüssel paßt.

So, wie in dem bekannten Volkslied die beiden Königskinder nicht zusammenkommen können, weil das Wasser viel zu tief ist, so können auch meine Schlüssel die Riegelsperren dieses Schlosses nicht bewegen; nicht allein, weil Hunderte von Kilometern zwischen Schlüssel und Schloß liegen. Eine Mauer versperrt mir den Weg dorthin — eine Mauer, zerhackt von Geschoßeinschlägen und rot gefleckt vom Blute junger Menschen, die nur nach Deutschland wollten, eine Mauer, die ich nicht überwinden kann. Sie versperrt mir den Weg zu meinem ehemaligen Heim. Und selbst dann, wenn einmal der Tag kommen sollte — und er kommt gewiß —, da ich mein Schlüsselbund nehmen könnte und heimfahren dürfte, würde ich meine Schlüssel doch nicht mehr gebrauchen dürfen; denn fremde Menschen leben in meiner Wohnung mit meinen Möbeln. Bäume und Sträucher, die ich noch gepflanzt habe, erfreuen andere. Das Heim ist noch da, aber ich kann nicht heim! Ich habe keine Heimat mehr.

Und ihr Schlüssel, ihr dürft nur noch klappern, aber nicht mehr schließen!

Wenn ich dann zurückkehrte an meinen jetzigen Wohnort, wohl gedrückter und stiller als sonst, dann würde ich euch wieder wortlos an den Nagel hängen, und ihr müßtet weiter rosten und euren letzten Glanz verlieren.

So lasse ich euch hängen, bis‘ ich alt geworden bin. — Und jeden Tag träume ich mich zurück in meine Heimat.

Einmal wird sich dann für mich das Tor zur ewigen Heimat öffnen. Die Schlüssel werden hangen bleiben; nach Tagen werden die Kinder kommen und die für sie wertlosen Schlüssel in den Müll werfen und vielleicht den Kopf schütteln über den komischen alten Vater, der sich rostige Schlüssel an die Wand hängte.

Oder — ob sie mich verstehen werden