Nachtwanderung in der Eifel
VON JULIUS EIGNER
Wer hat noch Sinn für eine nächtliche Wanderung heutzutage ? Selbst wir, die wir am Waldesrand wohnen, raffen uns nur selten dazu auf; vielleicht in einer Vollmondnacht zur Hirschbrunft, vielleicht in einer Schneenacht zur Zeit des klirrenden Frostes. Aber wenn im Sommer die Kinder kommen, die Enkel aus der Stadt, dann hilft uns alles nichts, dann müssen wir in den Wald. Und wir sträuben uns auch nicht, denn wir sind stolz auf die Kleinen, für die eine Nachtwanderung der Höhepunkt ihrer Sommerferien in der Eifel ist.
Damit die Kleinen die Nacht über aushaken, wurden sie um sechs Uhr in die Betten gesteckt, gegen elf geweckt. Kaum traten wir an ihre Betten heran, waren sie hellwach, die ungewohnte Stunde schien sie zu verwandeln. Acht Mann hoch zogen wir in den nächtlichen Wald, vier Kinder, vier Alte. Die zwei ältesten Buben trugen die Rucksäcke mit den belegten Broten, die Tassen und Töpfe, die Frankfurter Würstchen in Büchsen. Wir Alten trugen Wolldecken und Mäntel für den Fall, daß es zu kalt werden sollte.
Der Weg führte quer durch den Wald, auf schmalen Pfaden, bis wir das Schleidtal erreichten und das Häuschen, in dem ein roh behauener Baumstamm steht, der im Volksmund der „Dicke Tönnes“ heißt. Das letzte Wachslicht war am Verlöschen, und da ich eine Wachskerze mitgebracht hatte, durfte Bruno sie anzünden und vor dem Heiligen aufstellen. Dann bogen wir rechts ein, den alten Römerweg entlang, in der Richtung zum Michelsberg. Es war Vollmondnacht, aber der Himmel bewölkt, und wir fanden oft nicht den Pfad unter den Bäumen. Erst hinter dem „Dicken Tönnes“ riß die Wolkendecke kurz auf, und wir sahen den goldenen Mond am Firmament. Unter hundertjährigen Eichen flammten plötzlich Glühwürmchen auf, die eine irrende, lautlose Spur in das Dunkel zeichneten. Die beiden kleinen Mädchen, die das zum erstenmal sahen, wurden stumm und schauten den fliegenden Fünkchen nach. Es müssen viele Dutzende von Glühwürmchen gewesen sein, schön wie ein italienisches Gartenfest mit Lampions. Aber so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Im Wald roch es nach Pilzen, und wir nahmen uns vor, bald wieder herzukommen, um die Pilze zu ernten, aber wir taten es dann doch nicht. Als wir auf die freie Hochfläche heraustraten, über die uns ein kalter Wind dahinschob, hörten wir eine Rotte Sauen in einem Haferfeld. Sie machten einen solchen Krach, daß sie uns zunächst gar nicht bemerkten. Als sie jedoch Witterung von uns bekamen, brachen sie prasselnd durch das Feld, kreuzten unsern Pfad — aber es war zu dunkel, als daß wir mehr als eilige Schatten hätten sehen können — und verschwanden den Hang hinunter in einer Dickung. „Man riecht, daß das Getreide reif ist“, sagte einer. In einer Fichtenpflanzung schreckte ein Rehbock, ungehalten über die Eindringlinge. „Da hat ein Fuchs gebellt“, sagte der junge Städter. So konnte es scheinen, aber als ich ihn aufklärte, war er so freundlich, die Belehrung anzunehmen. Am Hang des Michelsbergs, mit dem Blick nach Osten, der Sonne entgegen, wurde haltgemacht. Mitternacht war vorbei. Fritz suchte Steine und stellte sie kunstgerecht zu einem Herd zusammen ; andere schwärmten aus und holten Reisig. In einem Fichtenstück, wo vor kurzem Bäume gefällt worden waren, gab es genug Abfallholz, so daß bald ein freundliches Feuer aufflammte. Von einem Bächlein, das wir vor einiger Zeit passiert hatten, hatte ich eine Kanne Wasser mitgebracht. Auf Mänteln und Wolldecken lagernd, warteten wir auf Kaffee und Kakao, Brot und heiße Würstchen. Ha, wie das schmeckte!
Wir kannten die Kinder kaum wieder, so erregt waren sie von dein Wunder der nächtlichen Stunde. Und wir Alten, als wir in die züngelnden Flammen schauten, wurden an die eigene Kindheit erinnert, an die Zeit der ersten Räubergeschichten, die wir damals lasen. Bald nach ein Uhr hatte der Wind alle Wolken vom Himmel weggefegt, ein majestätischer Mond zog seine Bahn über die Berge der Nordeifel hin, jene Berge, die still und schlaftrunken im Dunkel der Tiefe lagerten, in ihren Umrissen kaum erahnbar.
Nach dem Essen kam die Müdigkeit. Wir wickelten die Kinder ein und überließen sie dem Schlaf. Wir Alten, beglückt von der verzauberten Stunde, bewachten sie. Wie dankbar waren wir den Kindern, daß sie uns mitgenommen hatten. Eulen- und Käuzchenrufe kamen aus weiter Ferne zu uns herüber. Was für ein wunderbares Erlebnis! Wie konnte man je daran vorübergehen? In der Dunkelheit durften die Augen ausruhen, dafür waren die Ohren mehr tätig denn je. Das weite, unfaßbare Rauschen, wie dröhnte es uns im Ohr. War es das Rauschen des Waldes, das Rauschen des eigenen Blutes? Und dann waren wir Alten auch ein bißchen eingenickt.
Foto: Julius Eigner
Gegen vier Uhr war die Nacht vorbei. Über den nun wieder wolkigen Himmel breitete sich eine fahle Helligkeit, später wurde sie silbrig. Nebelschwaden lösten sich von den Bachläufen in den Tälern, stiegen zu uns hoch und verhüllten die Sicht zum Rhein und Siebengebirge. Der Tau sammelte sich an den Gräserspitzen. Einer von uns ging fort und holte Wasser zum Frühstück. Als er zurückkam, berichtete er von einem Rudel Rotwild auf einer Waldwiese. Die Tochter, die weggegangen war, um Himbeeren zu pflücken, hatte zwei spielende Füchse aus der Nähe beobachtet. Der erste Vogelruf erklang um vier Uhr zwanzig, es war das Rotkehlchen. Dann folgten Lerche, Drossel, Goldammer, Mönchsgrasmücke, Girlitz. Hoch über dem Lager kreisten Bussarde.
Nun war es nicht mehr so leicht wie am Abend vorher, die Kiemen aus dem Schlaf zu wecken. Aber ein Schluck heißer Milch vollbrachte es, und das übrige tat die fremdartige Umgebung. Bald wetteiferten die hellen Stimmen der Kinder mit dem Gesang der Vögel. Es war so schön, daß es uns Alten schien, als seien die Tage des Paradieses wieder angebrochen. Es war sechs Uhr. Nun brachen wir auf, nachdem wir uns überzeugt hatten, daß wir das Feuer bis zum letzten Fünkchen ausgetreten hatten. Durch einen hohen Wald, von dessen Boden dünne Nebelschleier aufstiegen, fielen die ersten Sonnenstrahlen, Lichtpfeiler, gebündelt, ein unvergeßliches Bild. Wie schön war nun die Buntheit der Waldraine, die mit dem schnell wachsenden Tageslicht leuchtend aus dem nächtlichen Dunkel hervortraten. Da blühten Johanniskraut, der blaue Heinrich, eine gelbe Kreuzblüte, die hier Herrgottsbettstroh heißt, Wiesenskabiosen, Weidenröschen. Dazwischen glänzten prall die roten Bergholunderbeeren. Die Beeren der Eberesche wurden langsam gelb.
Auf dem Rückweg durch das Bodenbachtal, als wir uns Eicherscheid näherten, gab es zur Belohnung etwas Besonderes: auf dem Scheitelpunkt des gegenüberliegenden Hanges eilte ein Stück Rotwild mit Kalb über die Wiesen. Ich sagte: „Paßt auf, die kommen über die Landstraße auf uns zu“. Ich sagte es eigentlich zu mir selbst, so wie man einen Wunsch ausspricht. Dieser Wunsch ging „wirklich in Erfüllung, wir konnten die zwei ganz aus der Nähe fotografieren. Das Tier, dem das Kälbchen dicht folgte, hielt sich am Waldrand. Wohl blieb es manchmal stehen, um zu sichern, aber wir spürten, daß sie eilig waren. Die Kinder erstarrten und rührten sich nicht. Jetzt hatten die zwei Tiere die Talsohle erreicht, mit einem mühelosen Sprung setzten beide über die Erft, dann schritten sie zögernd auf die Landstraße zu, auf der zu jener Stunde schon viel Autos unterwegs waren, alle besetzt mit Großstädtern, die in die Eifel wollten. Uns schlugen die Herzen bis zum Hals. Wenn sie mit einem Auto zusammenprallten! Nein, nichts geschah, und wir waren stolz auf die zwei Tiere, die sich angesichts des Verkehrs fast so klug wie Menschen benahmen. Die Mutter wartete hinter einem Busch, aber so versteckt, daß die aus den Städten kommenden Fahrer sie nicht sehen konnten und warteten gelassen auf eine Verkehrspause. Das Kälbchen wartete neben der Mutter. Und als es so weit \var, taten sie ein paar eilige Sprünge und hatten die Straße überquert. Nun waren sie auf unserer Seite, und es gab für sie keine Gefahr mehr. Sie kamen ganz dicht an uns vorbei. Es war acht Uhr geworden und schon sehr heiß, als wir endlich unser Häuschen erreichten. Noch viele schöne Bilder waren uns auf dem Heimweg entgegengekommen, wir hatten kaum noch Blicke dafür, denn keiner von uns konnte das Hirschkälbchen vergessen, das bezaubernde Tier, das so klug und wohlerzogen neben der klugen Mutter einherschritt, bis die Stille und Sicherheit des tiefen Waldes sie wieder aufgenommen hatte.