Müllers Haus in der Müllerstraße von Bad Neuenahr – Zur Geschichte des evangelischen Gemeindehauses
Wer in Bad Neuenahr von der Hauptstraße aus durch die Wolfgang-Müller-Straße zur Ahr geht, kann an dem Gebäude auf der linken Straßenseite vor dem ehemaligen Schulhof, der heute ein Parkplatz ist, die Aufschrift ‚Evangelisches Gemeindehaus‘ lesen. Nicht nur für die evangelischen Gemeindeglieder, sondern für die meisten Bewohner der Stadt und auch für viele Kurgäste ist dieses Bauwerk mit der Hausnummer 9 ein bekannter Treffpunkt. Nur selten werden aber Besucher und Passanten das grau verputzte Haus unmittelbar daneben wahrnehmen. Und doch hat gerade mit diesem Haus in der Wolfgang-Müller-Straße 7 vor 102 Jahren eine Geschichte begonnen, ohne die es das jetzige evangelische Gemeindehaus als Treffpunkt für jung und alt nicht gäbe. Am 21.12.1900 schrieb der Gutsbesitzer Dr. Guido de Weerth aus Vettelhoven an das damalige Presbyterium der evangelischen Kirchengemeinde Bad Neuenahr: „Nachdem sich der Bau eines Gemeindehauses für unsere Gemeinde als immer dringender erwiesen hat, ein geeigneter Platz aber nicht im Besitz der Gemeinde vorhanden ist, biete ich der Gemeinde mein Terrain an der Müllerstraße, anstoßend an den Pfarrgarten, in der Größe von 8 ar 46 qm zum Geschenk an mit der festen Zuversicht, daß im Jahre 1901 mit dem Bau begonnen wird und der Bedingung, daß das genannte Terrain zu meinen Lebzeiten ohne meine Genehmigung nicht weiter veräußert werden darf “1)
Damit hatte der Verfasser dieses Briefes vier Tage vor Weihnachten der kleinen Diasporagemeinde ein Weihnachtsgeschenk gemacht, wie sie es nur einmal vor dreißig Jahren beim Bau der Martin-Luther-Kirche zuletzt erlebt hatte. Dessen waren sich der damalige Pfarrer Gustav Adolf Pliester und die Herren des Presbyteriums bewusst2). Deshalb hieß es zwei Monate später im Protokoll dieses Gremiums am 8. Februar 1901: „Nachdem der Pfarrer der Gemeinde am 1. Weihnachtstag über dieses Geschenk im Werte von 15.000 Mark der Gemeinde Kenntnis gab, hat das Presbyterium dieses Geschenk dankend angenommen und diesen Dank in einem Schreiben vom 26. Dezember vergangenen Jahres an den Wohltäter Ausdruck gegeben“3)
Im Leitungsgremium der Gemeinde waren alle der festen Zuversicht, sofort im Sinne von Dr. de Weerth mit der Planung zu beginnen. Jeder Presbyter und auch der Pfarrer wussten, dass es in absehbarer Zeit an diesem Grundstück eine neue Straße geben würde, so dass bereits in einem Protokoll von der ‚projektierten‘ Wolfgang-Müller-Straße gesprochen wurde. Bisher war an dieser Stelle immer nur von der ‚Müllerstraße‘ die Rede gewesen, weil „die meisten Grundstücke dem Gastwirt und Hotelier Gregor Müller (Hotel zur Traube) gehörten.“4) An dieser nach dem rheinischen Dichter Wolfgang Müller 1902 benannten neuen Wolfgang-Müller-Straße sollte das neue Gemeindehaus als erstes Gebäude errichtet werden. Im Jahr 1908 wurde dann genau gegenüber auf der Westseite die bis heute dort befindliche ‚Villa Mignon‘ als zweites Haus gebaut.
Im Presbyterium wurde der Vorschlag des Herrn Dr. de Weerth dahingehend präzisiert, „ein Gemeindehaus, beziehungsweise einen großen, für die Sommergottesdienste ausreichenden Betsaal zu errichten.“5)
Um sofort mit der Bauplanung zu beginnen, wurden die Architekten Oebel aus Neuenar (damals noch ohne h geschrieben!) und Bernhard aus St. Goar beauftragt, einen Entwurf zu erarbeiten. Dabei wurde über das Schreiben des Herrn Dr. de Weerth hinausgehend gewünscht, dass in den Plan auch eine Diakonissenstation zu integrieren sei.
Die Entwürfe ließen nicht lange auf sich warten. Das Presbyterium beriet sie und schickte den Entwurf Oebel zur Genehmigung an das königliche Konsistorium6) in Koblenz. Dort war man aber mit dem Plan ganz und gar nicht einverstanden, und es entwickelte sich ein unerfreuliches Hin und Her, das erst im Dezember 1902 ein Ende fand, als auf Vorschlag des Konsistoriums der Koblenzer Architekt Erhard Müller einen genehmigungsfähigen Entwurf einreichte, dem beide Seiten zustimmen konnten.
Aber der Baubeginn fand erst Anfang 1904 statt, weil auch noch die staatliche Baugenehmigung einzuholen war. Im April 1905 wurde ‚Müllers Haus in der Müllerstraße‘ als Gemeindehaus mit einem festlichen Gemeindeabend eingeweiht. Allerdings war es noch nicht gelungen, eine Diakonisse7) einzustellen. Deshalb wurde die für sie vorgesehene erste Etage an einen Dr. Kaeppel vermietet.
Das evangelische Gemeindehaus in Bad Neuenahr, 2001
Im Lagerbuch der Gemeinde8) findet dieses Bauwerk folgende Beschreibung: „Das Gemeindehaus ist massiv im gotischen Stil gebaut und hat ein Schieferdach. Im Erdgeschoss befinden sich zwei Gemeindesäle und eine Kaffeeküche, im 1. Stockwerk eine Fünfzimmerwohnung mit Küche und im 2. Stockwerk 3 Zimmer und Küche. Die Baukosten beliefen sich auf 32.645 Mark.”
Beim Bau der Martin-Luther-Kirche im Jahr 1872 an der Kurgartenbrücke und zwei Jahre später bei der Errichtung des Pfarrhauses in der Hauptstraße hatte der damalige Architekt und Kreisbaumeister Hermann Cuno sich für den im 19. Jahrhundert so beliebten ‚gotischen Stil‘ entschieden. Dem ist beim Bau des Gemeindehauses Erhard Müller gefolgt. Dieses Konzept ist bis heute zu erkennen.
Denn trotz der gravierenden Veränderungen beim Umbau des Jahres 1965 sind die für diesen Stil typischen Merkmale von außen noch deutlich wahrnehmbar: Das langgezogene, steile Dach, die Spitzbögen bei den ehemaligen Eingangstüren zum Gemeindesaal, die Gauben der zweiten Etage und die der Zimmerhöhe entsprechenden Fenster. In der aufblühenden Kurstadt Neuenahr konnte ab 1905 jeder sehen, dass die zur evangelischen Gemeinde gehörenden Gebäude den im 19. Jahrhundert als angemessenen empfundenen gotischen Stil besaßen und sich so von einer profanen Bebauung abhoben. Die bei den Vorüberlegungen für das neue Gemeindehaus genannte Sommerkirche zeigt deutlich die Besonderheit dieser Kirchengemeinde, nämlich die Ausrichtung auf die in der Saison im Kurort weilenden evangelischen Kurgäste. Sie waren es gewesen, die 1870 die Planung und danach den Bau der Martin-Luther-Kirche ermöglicht hatten und denen nun mit einer ‚Sommerkirche‘ ein besseres Platzangebot gemacht werden sollte, weil sich um die Jahrhundertwende die Kirche als zu klein erwiesen hatte. Der Plan des Presbyteriums, die Kirche abzureißen und an gleicher Stelle ein weitaus größeres Gotteshaus zu errichten, wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereitelt. Die heutige Größe der Kirche wurde erst 1958 durch den völligen Umbau realisiert. Auch die zweite Auflage für den Architekten Erhard Müller, die Räumlichkeiten für eine Diskonissenstation zu planen, verlief anders als erwartet. Denn 1907 hegte man noch die Erwartung, in der 1. Etage zwei Schwestern unterzubringen. Doch ein Jahr später war klar, dass nur eine Diakonisse nach Neuenahr kam und sie deshalb als Einzelperson im zweiten Stockwerk wohnen würde. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs blieb dieser personelle und bauliche Zustand unverändert. 1945 aber entschied das Presbyterium, dass der damals amtierende Pfarrer Oskar Börner mit seiner Familie in die erste Etage des Gemeindehauses umziehen dürfe und auch im zweiten Stockwerk ihm Wohnraum zur Verfügung gestellt würde. Gemessen an dem vor 71 Jahren in der Hauptstraße 133 gebauten Pfarrhaus bot diese Wohnung, die seit 1930 eine Warmwasserheizung besaß, einen erheblich besseren Wohnkomfort. Das Pfarrhaus wurde gleichzeitig zu einer Küsterwohnung und einer Mietwohnung umfunktioniert. Das Presbyterium hatte keine Bedenken, sowohl die Diakonisse als auch den Küster gegenüber der Pfarrfamilie im Hinblick auf Qualität und Größe des je angemessenen Wohnraums als nachrangig einzustufen. Das blieb auch so, als 1956 das Diakonissenmutterhaus in Kaiserswerth die Schwesternstation auflös-te, und ein Jahr später Diakon Peter Besser mit seiner Frau in die Schwesternwohnung einzog, um vielfältige Aufgaben in der Gemeinde zu übernehmen. Längst war nicht mehr vorrangig der Kurort das Arbeitsfeld der Gemeinde. Die Nachkriegszeit hatte durch den Zuzug zahlreicher Heimatvertriebener eine völlig veränderte Gemeindearbeit erforderlich werden lassen. Dem konnte mit dem nur durch eine Faltwand zu unterteilenden ‚Betsaal‘ im Erdgeschoss des jetzigen ‚Pfarrhauses‘ nicht mehr entsprochen werden. Deshalb wurde 1965 auf dem als Garten genutzten Grundstück, das auch Herr Dr. de Weerth der Gemeinde geschenkt hatte, ein multifunktionales neues Gemeindehaus gebaut. Dem Betsaal des ‚alten‘ Gemeindehaus wurde bereits ein Jahr später durch einen Umbau eine neue Bestimmung gegeben: In ihm wurde ein Teil als Gemeindeamt für die Verwaltung der Gemeinde ausgebaut und gleichzeitig eine angemessenere Wohnung für den Diakon hergerichtet. Der Umbau im ‚alten‘ Gemeindehaus war damit noch nicht abgeschlossen. Nach dem Neubau eines neuen Gemeindeamtes mit einliegenden Mitarbeiterwohnungen an der Ostseite, zog nicht nur die Verwaltung, sondern auch Pfarrer Börner dort ein. Damit konnte der ehemalige Betsaal 1972 ganz als Wohnung für die Familie Besser ausgebaut werden und die 1. und 2. Etage als Maisonettewohnung für den neuen Schulpfarrer Götz von Viebahn und seine Familie zur Verfügung stehen. Wegen einer völligen Neuordnung der Pfarrwohnungen verließ der Nachfolger Pfarrer Friedemann Bach im Jahr 2001 diese Pfarrwohnung. Die erste und zweite Etage von ‚Müllers Haus in der Müllerstraße‘ werden zur Zeit wieder in zwei selbstständige Mietwohnungen zurückgebaut. So zeigt ein Blick hinter die Fassade dieses Hauses etwas von der Geschichte der Gemeinde und gleichzeitig einen Anpassungsprozess an immer neue Gegebenheiten, die sich in den Umbauten bis heute manifestieren.
Anmerkungen:
- Abgedruckt in: Hans Warnecke: Geschichte der Evangelischen Gemeinde Bad Neuenahr, Bad Neuenahr 1993, S.34
- Frauen konnten damals nicht ins Presbyterium gewählt werden.
- Aus dem Protokollbuch des Presbyteriums. Aufbewahrt im Archiv der ev. Gemeinde Bad Neuenahr.
- Vgl. dazu Stadtzeitung Bad Neuenahr-Ahrweiler Nr. 02/2001 S. 30, wo die Geschichtsfreunde Bad Neuenahr in der Serie ‚Die Straßen von Neuenahr‘ die Geschichte der Wolfgang-Müller-Straße darstellen.
- A.a.O. im gleichen Protokoll. Die folgenden Informationen sind ebenfalls dem Protokollbuch der Gemeinde entnommen.
- Da das Rheinland seit 1816 mit zu Preußen gehörte, war die Verwaltung der evangelischen Gemeinden in vielen Belangen staatlich geregelt
- So wurden früher evangelische Schwestern genannt, die im Kaiserswerther Verband für die Krankenpflege und für die Gemeindearbeit ausgebildet worden waren.
- Im Archiv der Kirchengemeinde