Mittendrin
Altenahrer Pfarrkirche, Pfarrhaus und Pfarrheim entwickelten sich nach der Flut zur Anlaufstelle für jedermann – Seelsorge in Extremlage – Kindern eine gewisse Sicherheit bieten
Manuela Kremer-Breuer
Drei Tage vor der verheerenden Flutkatastrophe wurde mein Vater in die Uniklinik in Bonn eingeliefert. Wie die letzten Tage fuhr ich auch am Abend des 14. Juli 2021 zwischen den Arbeitszeiten schnell ins Krankenhaus, um ihn zu besuchen, obwohl am Spätnachmittag durch den Starkregen bedingt das Wasser bei uns in den Keller lief.
Bereits den Roßberg hoch kamen mir starke Regenbäche entgegen, als meine Freundin mich anrief und warnte, dass ich besser umdrehen sollte, da der Roßberg in absehbarer Zeit gesperrt würde. Hin- und hergerissen, was ich machen sollte, fuhr ich erst einmal weiter. Doch die Regengüsse wurden immer stärker und als ich auf der Grafschaft drehen wollte, war es bereits zu spät. Die Straßen waren teilweise schon gesperrt und so machte ich mich weiter auf den Weg ins Krankenhaus nach Bonn. Nichts ahnend, was in dieser Nacht noch alles passieren würde. Auch nicht, dass ich nach dem Besuch bei meinem Vater keinen Weg mehr zurück zu meiner Familie und zu den Menschen, denen ich beistehen wollte, finden würde.
Gemeindereferentin Manuela Kremer-Breuer, die Autorin dieses Beitrags
Nach Stunden auf der Autobahn, zahlreichen Videos, die ich geschickt bekam, wie es in der Heimat aussah und dem erfolglosen Versuch auf irgendeinem Schleichweg nach Altenahr zu gelangen, gab ich es irgendwann auf und schaffte es weit nach Mitternacht, zu meinem Bruder und seiner Familie nach Remagen zu gelangen.
Zu meiner Familie, zu meinen Freunden und Bekannten auf der Arbeit war der Kontakt aufgrund des Zusammenbruchs der Kommunikationsmöglichkeiten vollends abgeschnitten.
Früh am nächsten Morgen versuchte ich mir erneut den Weg nach Altenahr zu erkämpfen und nach sechs Stunden Fahrt hatte ich es wirklich geschafft. Die erstarrten Blicke der Menschen, die mir am Vormittag des 15. Juli schlammschippend im Roßberg entgegensahen, werde ich wohl nie vergessen.
Nach einer kurzen Stippvisite zu Hause (wir wohnen direkt hinter der Kirche in Altenahr), um nachzusehen, wie es zu dem Zeitpunkt meinem fünfjährigen Sohn und meinem Mann geht, führten die nächsten Schritte in die Kirche, wo etwa 60 Touristen und Einheimische Unterschlupf gefunden hatten. Die zusammengestellten Kirchenbänke, Becher, Wasserkästen, Lebensmittel ließen mich ansatzweise erahnen, wie man hier versucht hatte, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen.
Ich drehte meine Runde durch die Kirche, stellte mich kurz als Seelsorgerin vor und fand mich mittendrin im Erlebten. Die Menschen erzählten von dem, was sie in der Nacht durchstehen mussten und so wie ihnen kam mir irgendwie alles irreal vor. Ich hörte zu, ohne richtig fassen zu können, was sie in der Nacht des 14. Juli durchleiden mussten. Neben den vielen Schicksalen und Erzählungen erlebte ich eine berührende Dankbarkeit, dass man die Nacht in der Kirche verbringen durfte und dass man durch achtsame Menschen und der freiwilligen Feuerwehr gerettet wurde.
Akutphase – Kirche mittendrin
Herberge – Zufluchtsort – Gesprächsort – Kleiderkammer – Stärkung für Leib und Seele.
Ab diesem Zeitpunkt geschah für mich Seelsorge in Extremlage: Begleitung von Menschen, die ihren nächsten Angehörigen verloren haben, das Unfassbare mit aushalten. „Da sein“, zuhören, ein Stück mittragen; genauso wie nach Übernachtungsmöglichkeiten für die anstehende Nacht zu suchen und Nahrungsmittel sowie Kleidung bereitzustellen.
Gerade die Begleitung, das „Da sein“, Mitaushalten, Zuhören und gegebenenfalls Weitervermitteln sind mir bis zum heutigen Tag, mehr als ein Jahr nach der Flut, eine der wichtigsten Aufgaben geworden. Ganz wenige Tage nach der Flut entwickelte sich in und um die Kirche eine Anlaufstelle für jedermann. Privatinitiativen und Organisationen brachten Autos und Lkws vollgeladen mit Kleidungs-, Hygiene-, Lebensmittel- und Spielzeugspenden zu uns hinter die Kirche.
Schnell stellte sich die Frage, wohin mit den ganzen Dingen? Was bot sich als großen Raum auch hier besser an als die Kirche? Gedacht – getan. Mit vielen hilfsbereiten Händen aus nah und fern bildeten wir eine Kette und versuchten so ein Fahrzeug nach dem anderen zu entladen. Nachdem erstmal alles in der Kirche abgelegt war, wurde schnell klar, dass es so nicht bleiben kann. Auch hier fanden sich schnell viele Helfer zur Unterstützung, die tagelang damit verbrachten, die angekommenen Spenden zu sortieren, teilweise leider auch aufgrund ihres Zustandes auszusortieren und so zu bereiten, dass die Betroffenen in Ruhe und Würde schauen konnten, was ihnen ad hoc in der Not Wärme und Stärkung schenken konnte.
Das Pastoralteam der Pfarreiengemeinschaft Altenahr und Seelsorger des Bistums Trier
Was mich persönlich in dieser Zeit sehr berührt hat, dass irgendwoher immer Helfer zur Unterstützung da waren, für ein offenes Ohr oder sie halfen anderen, sich im sortierten Wirrwarr ein Stück zurecht zu finden. Soziale Herkunft, Alter, Kultur und Religion spielten keine Rolle. Man war einfach füreinander da, so, wie es jedem möglich war. Um ein gewisses System in die unendlichen Spendengüter zu bringen, stellte auch die Nachbarschaft ihre Räumlichkeiten zur Verfügung.
Neben der Grundversorgung stellte sich die schwierige Frage, wie können wir in solch einer Katastrophe insbesondere unseren Kindern eine gewisse Sicherheit bieten? Sollten sie weiter zwischen Schlamm und dem ganzen Unrat herumlaufen und Sachen sehen, die kein Kind sehen sollte? Nein! Auch diesbezüglich musste eine schnelle unkomplizierte Unterstützung geschehen. Dort, wo sie nicht zu Verwandten konnten, musste eine Lösung her, dass sie bei uns in der Nähe waren und dass sie eine gewisse Sicherheit in all der Unsicherheit geschenkt bekommen.
In Absprache mit der Kirchengemeinde, der Ortsgemeinde und später auch dem Träger, vor allem aber durch den starken Einsatz von Haupt- und Ehrenamtlichen, war es uns möglich, zeitnah zu handeln. Wir durften die Kita auf ehrenamtlicher Basis öffnen und dort unseren Kindern einen behüteten und geschützten Rahmen mit täglich warmer Mahlzeit eröffnen. Gleichzeitig war es möglich, auf der Martinshütte ein tägliches Angebot für Kinder und Jugendliche zu schaffen, das durch den Einsatz mehrerer freikirchlicher Gemeinden möglich wurde.
Treffpunkt rund um das Pfarrhaus: Apotheke, Feldpost, Bankbus und Gespräche
Parallel entstand im Pfarrheim die „Kaffeebud“, die tagtäglich durch Ehrenamtliche der Pfarrei zur Anlaufstelle für Einheimische und Helfer wurde und stets eine warme Tasse Kaffee, frische Brötchen, leckeren Kuchen und ein Platz zum Ausruhen und Luftholen schenkte. Die katholische Bücherei und der Gebetsraum wurden zum Ort für psychologische Gespräche, das Pfarrhaus zur Apotheke und später die Einfahrt neben dem Pfarrhaus zum Standort für die Feldpost und den mobilen Bankbus.
Gemeinsam mit der Ortsgemeinde entwickelten wir einen Infoflyer für die Bevölkerung mit den wichtigsten Anlaufstellen und Neuigkeiten.
Im ehrenamtlichen Team von einheimischen Helfern wurde uns schnell bewusst, dass jeder, der hier lebt, auf irgendeine Art und Weise von der Flut betroffen ist. So wurde ein mobiler Einkaufsdienst als Gemeinschaftsprojekt der Ortsgemeinde, der Freiwilligen Feuerwehr Altenahr und uns als Kirchengemeinde ins Leben gerufen, um die Mitbürger mit Lebensmitteln zu versorgen, da die Ein- und Ausfahrt in den Ort durch die strengen Polizeikontrollen sehr schwierig war.
All dies lief Hand in Hand mit ganz viel freiwilliger und unermüdlicher Unterstützung. Die Mitarbeit im Krisenstab, der Austausch mit der Polizei, den Einsatzkräften, den vielen unterschiedlichen Hilfswerken und den PSNV-Kräften (psychosoziale Notfallversorgung), die Koordination mit den Psychologen und vor allem die vielen Einzelgespräche und Begegnungen prägten die nächsten Wochen und Monate.
Wunsch nach Begegnung
Neben den vielen Einzelgesprächen und Begegnungen war es uns immer wichtig, die Menschen nach Möglichkeit zusammenzuführen. So sind wir als Kirche gerne dem großen Wunsch aus der Bevölkerung nachgekommen, Gelegenheiten zu schaffen, um miteinander Zeit zu verbringen, sich gegenseitig zu stärken und sich auszutauschen.
Die Pfarrkirche Altenahr
Mit einem gemeinsamen Gottesdienst mittendrin begannen wir unser Begegnungsfest im Herbst und es wurde ein bewegender Tag. Für viele war es nach drei Monaten das erste Zusammentreffen und man hatte sich viel zu erzählen. Bei strahlendem Sonnenschein durfte man einfach so, wie es einem ging und wie man sich gerade fühlte, „Da sein“. Viele Menschen haben dieses Angebot angenommen; viele Unterstützer und Hilfsorganisationen waren vor Ort zum Gespräch und zum gemeinsamen Austausch. Pfarreimitglieder aus den anderen Pfarreien sorgten für die Verpflegung und viele unterstützten beim Auf-und Abbau. Für mich war dieser Tag ein ganz besonderes Geschenk. Auch ein Jahr nach der Flut versuchen wir an unterschiedlichen Orten Räume der Begegnung und zum Austausch zu gestalten. So gibt es z. B. auf dem Parkplatz „An den Märkten“ in Pützfeld einen Container, wo wir als Seelsorgerinnen und Seelsorger, gemeinsam mit den Sekretärinnen präsent und ansprechbar sind. Da sein, zuhören, einen Kaffee anbieten und gegebenenfalls an weitere Ansprechpersonen vermitteln ist die Grundidee, die hinter dem Konzept des Containers mitten im Leben der Menschen steht. Bei all den Angeboten ist es wichtig, die Menschen vor Ort mit einzubinden und immer wieder nachzuhören, was wirklich gewünscht wird. Denn eins darf man nie vergessen, wir haben alle auf unterschiedliche Art und Weise viel Schlimmes erlebt, aber es ist wichtig, dass die Betroffenen ernst genommen werden und selber in der Lage sind zu entscheiden, was sie gerade brauchen oder ihnen guttut.
Gefürchtete Adventszeit und Weihnachten
Und dann nahte sie, die von vielen in dem Jahr der Flut gefürchtete Adventszeit mit dem herannahenden Weihnachtsfest. Viele Helfer von außen ließen sich gerne etwas für unsere Kinder und auch für uns Erwachsene einfallen, dass uns die kalte und dunkle Jahreszeit etwas erhellen und erleichtern sollte. Doch wie sah es wirklich in den Menschen aus? Gerade in dieser Zeit ist mir das Wort „VIELFÄLTIGKEIT“ noch einmal ganz besonders bewusst geworden. Freunde von uns beleuchteten ihr Haus, dass nach der Flut nun wieder einem Rohbau glich, von oben bis unten mit Kerzen und bunten Lichterketten, andere versuchten wenigstens die äußerlichen Umstände wie den Weihnachtsbaum aufrecht zu erhalten. Den meisten, mit denen ich gesprochen habe, stand nur wenig Sinn nach den äußerlichen Dingen, die sonst oft unter anderem an Weihnachten wichtig sind. Jedoch war eines vielen Menschen bewusst: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir gemeinsam dieses Weihnachtsfest feiern. Und auch gab es von manchen den Wunsch, dass Weihnachten einfach schnell vorbeigehen sollte.
Mit all diesen Begegnungen und Erfahrungen und auch dem eigenen Hin- und Hergerissensein ging auch ich in diese Weihnachtstage und vor allem in den Gottesdienst für Familien an Heilig Abend. Wie sollte ich den Kindern und Erwachsenen die Botschaft von der Menschwerdung Jesu, seiner Zusage, dass ER da ist, gerade auch in Dunkelheit und Not angesichts einer solchen Katastrophe näher bringen? Wie sollte ich den Spagat zwischen nicht allzu viel Gefühlsduselei, dem Ernstnehmen der Situation und der Botschaft bewältigen? Und vor allem, wie kann ich es schaffen, den Kindern trotz oder gerade wegen der ganzen Situation ein Stück Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln?
Zwei Dinge haben mir dann geholfen: Zum einen die Ehrlichkeit, dass ich selber hier an Heilig Abend mit Bauchgrummeln stehe und mir unsicher bin sowie in erster Linie der Blick in die Augen der Kinder. Dass Weihnachten 2021 anders werden würde als sonst, war mir durch unseren Sohn bewusst. Aber mir war genauso klar, dass er in der ganzen Unsicherheit eine gewisse Sicherheit braucht und er sich trotz der ganzen Zerstörung auf dieses Fest freut. Das Leuchten in den Augen der Kinder hat auch mein Herz berührt und durch die Unterstützung der Kinder als lebendiger Teil der Weihnachtserzählung haben wir uns gemeinsam auf das Weihnachtsfest eingestimmt.
So gab es über die Weihnachtstage neben den eigenen Familienbesuchen viele Telefonate: Einfach „Da zu sein“, zuzuhören, ohne zu werten. Gefühle wahrnehmen und die Stärkung, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn es ein Gefühlsauf und -ab gibt. Oft ein Mitaushalten, Sprachlosigkeit, aber auch ein gemeinsames Lachen ist möglich. Alles darf sein. Die Gespräche und Gefühle sind absolut vielfältig.
„Wo ward ihr? Wo ward ihr als Kirche?“
Wie oft habe ich diese Frage gehört, die mich immer wieder trifft und trotzdem kann ich sie gut verstehen und stehen lassen. Trotz des Engagements bei den vielen Einzelgesprächen, Projekten, Angeboten und der Vernetzungsarbeit ist mir in dieser Zeit noch einmal ganz bewusst geworden, dass wir nicht überall bzw. nur punktuell präsent sein können. In der ganzen Fülle, wo Hilfe und Unterstützung nötig gewesen wäre, wird einem dies noch einmal ganz schmerzlich vor Augen geführt. Trotz wertvoller Unterstützung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern aus dem Bistum Trier, waren es halt nicht wir – unser „Pastur“ und unsere Gemeindereferentin, die überall vor Ort präsent waren und mit angepackt oder zugehört oder ansprechbar waren.
Heute ist mir klar, dass ich nicht mehr hätte machen können, aber bestimmt einiges anders und breiter gefächert.
Es geht weiter . . .
- weil das Unbegreifliche jener Nacht und der Flutkatastrophe immer noch nicht zu begreifen ist;
- weil immer noch Gutachten ausstehen, Häuser abgerissen werden und die Frage offen bleibt, ob man je wieder in seiner Heimat leben kann;
- weil der Aufbau mit allem an Versicherungen, staatlichen Anträgen, Suche nach Handwerkern und steigenden Kosten mühsam und Kräfte raubend ist;
- weil ein Jahr danach, bei allem an Wirken und Hoffnung noch ein Schleier über dem Tal und für (viele) Menschen über dem eigenen Leben liegt und das Erzählen darüber die Lücken dieser Tage schließen möchte oder dabei helfen möchte, eine innere Sicherheit zu finden;
- weil wir erst viel später wissen werden, was die Flut wirklich mit uns gemacht hat;
- weil die gegenseitige Unterstützung der Menschen in den Orten, wie auch von Helfern, ermutigt und gemeinsam Wege und Schritte in das Morgen eröffnet;
- weil es eben (noch) keinen Schlusspunkt gibt, an dem der Artikel aufhören könnte und man sagt JETZT haben wir es geschafft;
- weil . . .
Manuela Kremer-Breuer ist Gemeindereferentin in der Pfarreiengemeinschaft Altenahr.